Auf Reisen.

[64] »Ha, welche Luft gewährt das Reisen!« heißt es in der lustigen Oper »Johann von Paris«. Aber damit es für sich und Andere auch wirklich eine Luft bleibt, ist allerlei zu beobachten.

Also zuerst mache man sich klar, daß unterwegs nicht alles wie zu Hause ist, und daß man bei allem Schönen und Interessanten, was man sieht, doch mancherlei Unbequemlichkeiten zu ertragen hat. Darum gute Laune und will es einmal damit nicht recht gehen, so trage man seine Mißstimmung still für sich allein und incommodire nicht Andere damit.[64]

Ebenso unerträglich wie ein immer Unzufriedener und Scheltender benimmt sich der Renommist, der nur das für schön erklärt, was er allein gesehen, gehört und erlebt hat. Der beständig von Wirthshäusern, Preisen, Essen und Trinken spricht, dabei durchblicken läßt, wie er gewohnt sei nobel zu leben und es auch anders für unmöglich halte. Mit solch' einem Wesen imponirt man Niemanden, im Gegentheil. Junge commis voyageurs stehen besonders in dem Rufe, durch solch' leeres Geschwätz sich unangenehm zu machen.

Steigt man in ein Coupé, ist es höflich, die Insassen zu grüßen und ohne Jemanden zu treten oder zu stoßen, den noch unbesetzten Platz einzunehmen. Das Gepäck ist so unterzubringen, daß es Niemanden genirt. Die im Coupé befindlichen Reisenden müssen aber auch bemüht sein, zuvorkommend den Platz zu gewähren, den sie nicht mehr beanspruchen können und haben namentlich Sorge zu tragen, ihre Reiseeffecten an sich zu nehmen falls sie dieselben vorher auf den Sitzen zerstreut hatten.

Daß eines der Fenster geöffnet ist (außer zur Winterszeit), kann man nach den Regeln beanspruchen, doch würde es sehr unhöflich sein, wenn man sich nicht mit den Reisegefährten darüber verständigte und im Fall ein Leidender das Oeffnen des Fensters nicht verträgt, lieber ein wenig Hitze erduldete, oder bei der nächsten Station das Coupé wechselte. Dieses ist aber auf freundliche Weise zu bewerkstelligen, nicht mit Schelten und Seufzen.

Kleine Kinder sind unterwegs eine große Plage, aber manchmal kann man doch nicht unterlassen, sie mit sich zu nehmen. Solche Familie wird ein Coupé für sich allein zu erhalten suchen, selbst ohne gespendetes Trinkgeld wird der Schaffner gewiß Rath wissen, und jeder Reisende flieht schon von selbst die Abtheilung, wo Kinderköpfe aus dem Fenster schauen. Läßt es sich aber nicht anders einrichten und erhalten wir die unruhigen Gäste, wohl gar einen kleinen Schreihals, zur Reisebegleitung, haben wir uns mit Anstand in das Unvermeidliche zu finden. Die Mutter aber, deren Sprößling uns solches Ungemach bereitet, muß freundlich um Entschuldigung[65] bitten, was sie in der Angst und Noth ihres Herzens aber auch, meistens in ausreichender Weise, thut.

Führt man Mundvorrath bei sich, was auf den Schnellzügen sehr anzurathen ist, hat man denselben auf appetitliche Weise zu verspeisen und muß fettiges Papier, Obstkerne und -Schalen nicht im Coupé deponiren, sollte man sich auch ganz allein darin befinden.

Reisende, die des Nachts unterwegs sind, mögen sich immerhin, wenn der Platz es erlaubt, ihr Lager bequem arrangiren. Eine vollständige Toilette für die Nacht zu machen, sich der Stiefel zu entledigen und Pantoffeln anzuziehen, sich beim Morgengrauen zu frisiren oder zu waschen, ist nicht anständig und bietet jeder größere Bahnhof dazu Gelegenheit, so lange warte man.

Auch möchte ich empfehlen, sich nur so weit seiner Bequemlichkeit im Liegen hinzugeben, als die Schicklichkeit nicht darunter leidet.

Ueber Rauchen siehe das betreffende Capitel.

Ob unterwegs eine Unterhaltung sich anspinnt, hängt ja von der Individualität der Reisenden ab. Merkt man durch eine ablehnende Antwort, die man auf eine Frage bekommt, daß der Andere keine Lust hat, so lasse man ihn in Frieden. Zu zurückhaltend müssen wir nicht sein, denn dadurch entgeht uns manche Aufklärung, manche Belehrung und im schlimmsten Falle trennt das Schicksal uns ja schon nach einigen Stunden wieder.

Etwas anders verhält es sich mit Bekanntschaften die wir im Bade oder Pensionaten machen, und wo ein zu schnell gewonnenes Vertrauen oft unangenehme Folgen hat. Feinfühlende Menschen werden aber meist schon nach dem ersten Gespräche wissen, wie sie daran sind. Aufdrängen dürfen wir uns nie, weder im Gespräch noch um irgend etwas zu besichtigen, einen Berg zu besteigen, eine Kahnfahrt etc. zu unternehmen. So unangenehm uns vielleicht die Einsamkeit ist, müssen wir sie doch immer einer Gesellschaft vorziehen, die nicht zu uns paßt, oder der wir nicht gelegen kommen.[66]

Daß man aber auch Fremden (und Herren nicht nur jungen, hübschen Damen) in jeder Weise gefällig sind dienstbereit zu sein strebt, versteht sich wohl von selbst.

Mit der Wahl eines Reisegefährten, wenn wir nämlich zu wählen haben, können wir nicht vorsichtig genug sein. Die ganze Reise kann uns dadurch verdorben werden. Selbst gute Freunde sind durch eine gemeinschaftliche Reise auseinandergekommen. Das Zusammensein von Morgen bis Abend, das gemeinschaftliche Logiren in einem Zimmer oder doch nahe beieinander, ist ein rechter Prüfstein. Da heißt es nun, »der Klügste giebt nach«, – oder aber man trenne sich in aller Freundschaft und Jeder setze seine Reise allein fort.

Unpünktlichkeit und Warten kann Niemand, absolut Niemand vertragen; auf Reisen führt es zu peinlichem Ungemach. Man verpaßt den Zug, den Anfang der Vorstellung, ist gezwungen eine Nacht länger unterwegs zu bleiben, muß vielleicht gar etwas aufgeben, worauf man sich lange gefreut.

Unordnung und Zerstreutheit sind gleichfalls Fehler, die zu ernsten Zerwürfnissen führen. Man vergißt den Wagen zu bestellen, Plätze an der table d'hôte, man verliert oder verlegt die Billets und kann sie im Moment der Abreise nicht finden. Ueber das Gepäck kann man ernstlich aneinander gerathen. Will der Eine mit haushohen Koffern, der Andere mit leichter Reisetasche durch die Welt ziehen, so stimmt das schon nicht etc.


»D'rum prüfe wer zur Reis' sich bindet,«

»Daß sich Geschmack und Neigung findet.«


Das Reisecostüm muß gut und neu sein, damit das Zeug etwas aushalten kann. Auffallend sich unterwegs zu kleiden, ist nicht anständig. Feine Damen werden auch nie sich mit vielem Schmuck behängen. Alte Gesellschaftstoiletten auf der Reise beendigen zu wollen, ist sehr ordinair. Hat man unterwegs Besuche zu machen, oder einer Ausstellung, einem Feste beizuwohnen, wo viele Menschen sich versammeln werden, empfiehlt es sich, einen besseren Anzug mit sich zu führen, damit man nicht genöthigt ist in staubiger[67] Reisetoilette zu erscheinen. Läßt sich aber dieses nicht bewerkstelligen, so gebe man durch frische reine Wäsche, blanke Stiefel, wohl frisirt (rasirt) dem Ganzen einen ordentlichen Anstrich. Zu dem Vorgeschlagenen ist immer Rath.

Touristen ist mancherlei erlaubt, was sich ein feiner Mensch, bei einem längeren Aufenthalt, nicht gestatten darf.

Wie überhaupt im Leben hat Jeder auch ganz besonders auf der Reise das, was er übernommen, auszuführen, und zwar auf pünktliche Weise. Ist er Reiseführer, muß er sich über den Abgang der Züge, Posten, Dampfschiffe etc. genau unterrichten, solches nicht bis zum letzten Augenblicke aufschieben oder sich dem glücklichen Zufall überlassen.

Beim Berathschlagen, welche Reiseroute zu nehmen, welche Tour zu machen ist, sei man nachgiebig und belege mit Gründen den Widerspruch, den man erhebt. Auch enthalte man sich des Streitens über Wege, sondern bleibe bei dem, was einmal verabredet ist und durchkreuze nicht eigenwillig die getroffenen Einrichtungen.

Im Uebrigen beziehe ich mich hinsichtlich des Benehmens auf das, was in den verschiedenen anderen Capiteln gesagt wird.

Freue dich der Reise, lieber Leser, aber erwarte nicht zu viel von der Veränderung und bedenke stets, daß du dich selbst mitnimmst mit allen deinen Eigenthümlichkeiten und Fehlern, und daß, wie im Leben, die Dinge auf der Reise nur so erscheinen, wie wir sie ansehen. Also keine dunkle Brille, sondern ein klares, helles Auge begleite uns, wohin wir auch gehen mögen.

Quelle:
Kistner, A.: Schicklichkeitsregeln für das bürgerliche Leben. Guben 1886, S. 64-68.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Inferno

Inferno

Strindbergs autobiografischer Roman beschreibt seine schwersten Jahre von 1894 bis 1896, die »Infernokrise«. Von seiner zweiten Frau, Frida Uhl, getrennt leidet der Autor in Paris unter Angstzuständen, Verfolgungswahn und hegt Selbstmordabsichten. Er unternimmt alchimistische Versuche und verfällt den mystischen Betrachtungen Emanuel Swedenborgs. Visionen und Hysterien wechseln sich ab und verwischen die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.

146 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon