Vorlesen.

[58] Gut vorzulesen ist eine Kunst, die Jeder sich mit wenig Mühe aneignen kann. Natürlich ist es in Niemandes Macht gegeben, ein rauhes oder klangloses Organ in ein schönes, wohllautendendes umzubilden, obgleich bei einigen Anlagen auch darin manches gebessert werden kann.

Bei einem Redner, der über kein schönes Organ verfügt, kommt dieses nicht weiter in Frage, wenn das, was er vorzubringen hat, gut und geistreich ist und manche große Staatsmänner ernten die Lorbeeren für ihre Reden nicht wegen ihres schönen Organs. Bei öffentlichen Reden also wird die natürliche Anlage des Redners als eine Erhöhung des Eindrucks gewiß geschätzt, in erster Linie sieht man nicht darauf.

Etwas anderes ist es mit dem öffentlichen Vorlesen. Darin wird sich nur Jemand mit Erfolg versuchen, der alle guten Gaben von Natur dazu erhalten hat.

Hier aber spreche ich von dem Vorlesen im Freundes- oder Familienkreise, wo unsere Leistungen darin meistens so sehr geschätzt werden, so hoch erwünscht sind. Und doch behaupten so manche und darunter sogar junge[58] Leute »ich kann nicht vorlesen, ich werde heiser« oder »ich beginne zu gähnen«.

Das ist nun nichts als Unlust und böser Wille. Bringt man sie dann durch Vorstellungen und Bitten dahin, es doch nur einmal zu versuchen, lesen sie stockend oder überhaspeln sich, bis daß man erklärt, lieber auf das Vergnügen verzichten zu wollen.

Und doch welch' ein Genuß liegt in gemeinsamer Lectüre, in dem nachherigen Austausch der Meinungen über das Gelesene. Für Kranke, für ältere Leute, die nicht mehr auf ihre Augen zählen können und doch so gern theilnehmen an dem, was die Zeitungen bringen, was der Büchermarkt an Neuigkeiten bietet, wie angenehm, wie nützlich kann man sich da machen durch Vorlesen.

Bei richtiger Eintheilung des Athems, wenn man mit natürlicher Stimme liest, wird man bei sonst gesunden Organen, es leicht dahin bringen, stundenlang das Amt des Vorlesens auszuüben. Aber selbst auch für kürzere Zeit müssen wir uns Mühe geben, so gut wie möglich zu lesen. Also zuerst nicht zu schnell, nicht zu langsam, ohne jeden Buchstaben besonders hervorzuheben, doch nichts verschlucken. Beschreibungen, Einleitungen sind etwas schneller zu lesen, lustige Stellen mit frischer Stimme, rührende etwas leiser und langsamer.

Doch vielleicht ist es gefährlich, wenn ich hier, wo das Vorlesen doch nur im Allgemeinen erwähnt wird, solche Regeln zu geben versuche, die den Stempel der Oberflächlichkeit zeigen und zeigen müssen. Ich schreibe ja kein Buch über Rhetorik, das bedenke man, und darum will ich mich auch darauf beschränken, daß ich rathe, lieber einfach und natürlich zu lesen, als mit falscher Betonung, mit Pathos, mit weinerlicher Stimme, oder mit schläfrigem Tonfall. Nochmals behaupte ich, daß jeder denkende und fühlende Mensch auch lernen kann (d.h. er kann sich selbst dahin bringen) so vorzulesen, daß es dem Zuhörer keine Qual ist.

Daß ich aber bereit bin mich zum Vorlesen zu verstehen, wenn man mich darum ersucht, oder ich sehe, wie[59] gefällig ich mich dadurch erweisen kann, das ist es, was ich als Schicklichkeitsregel hinstellen möchte. Selbst die langen Verhandlungen des Reichstages, die Berichte der fremden Cabinette, oder andere Sachen, die mich vielleicht gar nicht interessiren, oder die gegen meinen Geschmack streiten, muß ich im Stande sein, ohne Ungeduld oder Langeweile in meiner Stimme zu verrathen, zu lesen.

Manche Menschen aber drängen sich wieder zum Vorlesen, ohne daß man es wünscht und sehr häufig findet man dies in Kreisen, wo mit vertheilten Rollen gelesen wird; (in meinen Augen ein sehr zweifelhaftes Vergnügen.) Wer da stets die ersten Rollen zu haben trachtet und nicht wartet, bis sie ihm freiwillig angeboten werden, zeigt wenig Bescheidenheit und eine schlechte Erziehung. Wer wirklich gut zu lesen versteht, wird, auch ohne daß er sich meldet, aufgefordert werden. Wer dahingegen stets unbeachtet bleibt, oder absichtlich bei Seite geschoben wird, möge sich prüfen, ob er nicht für das Lesen der Hauptrollen untauglich ist und sich mit den kleineren Rollen bescheiden. Thut man ihm aber unrecht, so hat er auch bei diesen gewiß Gelegenheit, die Anwesenden eines andern zu überzeugen.

Das Empfindlichsein ist auch in diesem Falle sehr zu verurtheilen. Man hüte sich davor, wenn man nicht eine große Eitelkeit und Selbstliebe verrathen will.

Quelle:
Kistner, A.: Schicklichkeitsregeln für das bürgerliche Leben. Guben 1886, S. 58-60.
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