[270] Bis zum 13. März hatte der Feind seine Umzingelung des Platzes vollendet, indem seine Truppen sich westlich beim Kolberger Deep und östlich im Stadtwalde nach Bodenhagen hin an das Seeufer lehnten. Dennoch war die Einschließung nicht so genau, daß nicht immer noch einige Nachrichten von außen her durch flüchtende Landleute zu uns durchgedrungen wären, die uns das dichtere Zusammenziehen der französischen Truppen ankündigten. Spätere Ausschickungen von Reiterpatrouillen, welche Schill veranstaltete, bestätigten diese Gerüchte. Überhaupt aber blieb uns auf dem Wege längs dem Strande, zumal nach Westen hin, noch manche verstohlene Gemeinschaft mit der Nachbarschaft fast die ganze Zeit der Belagerung hindurch übrig, und auch zu Wasser ließ sich jeder beliebige Punkt der Küste heimlich erreichen.
Unbedeutende Plänkeleien an der Ostseite leiteten einen bedeutenderen Angriff gegen die Schanze auf dem Hohenberge ein, welche dem Feinde unbequem zu sein schien. Von beiden Seiten rückten immer mehr Truppen ins Gefecht, so daß bei dem heftigeren Andringen unserer Gegner gegen Abend den unsrigen nur iübrig blieb, sich fechtend gegen die Stadt zurückzuziehen. Die drei Kanonen in der Schanze wurden mit abgeführt und gerettet; aber der Feind säumte nicht, sich in dem Werke festzusetzen, welches ihm billig noch hartnäckiger hätte streitig gemacht werden sollen. Ich selbst war bei dem ganzen Gefecht zugegen gewesen und sah, daß bei dem Zurückzuge mehrere von unsern Leuten tot oder verwundet auf dem Felde liegen blieben. Es jammerte mich besonders der letztern, und so wagte ich mich mit einem weißen Tuche in der Hand gegen die feindlichen Vorposten und bat, daß mir erlaubt werden möchte, diese Gebliebenen nach der Stadt abholen zu dürfen. Nach langem Hinundherfragen ward mir dies endlich zugestanden. Ich eilte demnach in die Vorstadt zurück, nahm drei mit Stroh belegte Wagen mit mir und fuhr mit ihnen unter dem Geleite einiger französischen Soldaten auf dem Felde umher, wo ich neun Verwundete und fünf Tote auflas und mit mir führte. Die letztern wurden sogleich auf dem nahen St.-Georgen-Kirchhofe beerdigt, die erstern aber in ein Lazarett abgeliefert.[270] Von dem an machte ich mir's zu einem besondern und lieben Geschäft, unsern Verwundeten auf diese Weise beizustehen und habe oft selbst Wagenführer sein müssen, wenn es in ein etwas lebhaftes Feuer hineinging und die Knechte sich aus Angst verliefen.
Gleichzeitig mit der Schanze auf dem Hohenberge hatten unsere Belagerer auch die Anhöhen der Altstadt besetzt, ohne dort einigen Widerstand zu finden und waren uns dadurch in eine bedenkliche Nähe gerückt. Beide Verluste machten es nun um so dringender, die Überschwemmungen, sowie überall um die Festung her, so besonders nach diesen zunächst bedrohten Punkten hin zu bewirken. Schon von Anfang an hatte ich mir mit den Voranstaltungen hierzu viele Mühe gegeben und teils auf eigne Kosten, teils durch Mitwirkung der Bürgerschaft wirklich auch so viel geleistet, daß ich hoffen konnte, sobald es die Not erforderte, eine weite Fläche umher dergestalt unter Wasser zu setzen, daß an kein Durchkommen zu denken wäre. Um einen haltbaren Damm zur Stauung aufzuführen, hatte ich mehrere hundert leere Glaskisten, die ich in einem alten Magazine fand, mit Erde füllen und neben- und aufeinander versenken lassen. Andere Dämme waren gebessert; die Schleusen und Wasserläufe in tüchtigen Stand gesetzt.
Dies ging nun nicht ohne vieles Widerstreben von seiten der Eigentümer der Wiesen und Ländereien ab, denen das Schicksal einer solchen Überschwemmung bevorstand, und welche zum Teil auf denselben trotz der Belagerung noch säen und ernten zu können vermeinten. Um dieser Katzbalgereien überhoben zu sein, wandte ich mich an Waldenfels, machte ihn an Ort und Stelle mit der ganzen Einrichtung und Verbindung der Schleusen und der Aufstauungen bekannt und forderte ihn auf, des jetzigen Zeitpunktes ohne längeres Zögern wahrzunehmen und von seiten der Kommandantur die Inundation zu veranlassen. So sehr er von der Nützlichkeit der Sache überzeugt war, wagte er's doch nicht, sie für seinen eigenen Kopf auszuführen; ich aber wollte ebensowenig etwas mit dem Obristen zu tun haben. Endlich aber überredete er mich doch, mit ihm zu demselben zu gehen und ihm die Sache gemeinschaftlich vorzustellen.
Als wir nun vor ihn kamen, fand sich sofort auch das vorbelobte Weibsbild ein und begann, tapfer mit drein zu reden. Nun war auch meine Geduld am Ende, und ich bedeutete sie kurz und gut, daß es ihr nicht zukäme, hier ihre unverlangte Weisheit feil zu haben. Das Ding aber, das sich auf seinen Herrn verließ, machte mir ein schnippisch Gesicht und wäre mir wohl gern mit allen zehn Fingern ins Gesicht gefahren, wenn ich es nicht sein säuberlich beim Kragen genommen und an und zur Stubentüre hinausgeschuppt hätte, wie recht und billig war. Darüber geriet aber wiederum der Herr Kommandant in Hitze. Er griff nach dem Degen und würde ihn ohne Zweifel gegen mich gezogen haben, wäre ihm nicht mein Begleiter in den Arm gefallen und hätte ihm zugerufen:[271] »Beruhigen Sie sich! Nettelbeck hat recht getan.« – Er kam zur Besinnung, aber mit dem Vorschlage zur Überschwemmung blieb es, wie es war. Dagegen geschahen einige Kanonenschüsse aus der Festung – die ersten, welche gegen den Feind gelöset wurden, und mit welchen also auch die Geschichte der Belagerung anheben mag.
An dem nämlichen Tage (den 14. März) hatten die Franzosen schon früh das Dörfchen Bullenwinkel – ich weiß nicht, ob aus Frevelmut, oder um irgendeinen militärischen Zweck dadurch zu erreichen – im Rauche aufgehen lassen. War es nun, daß unser Kommandant ihnen in dieser Kunst nicht nachstehen wollte, oder daß er wirklich für ein Eindringen und Festsetzen derselben in der Lauenburger Vorstadt besorgt war (was wenigstens so lange keine Not hatte, als unsere Ziegelschanze am Damme sich noch hielt): – genug, er beschloß, diese Vorstadt gänzlich abzubrennen, welche gleichwohl in den früheren Belagerungen unversehrt hatte stehen bleiben dürfen. Niemand von den zahlreichen Bewohnern hatte sich einer solchen gewaltsamen Maßregel versehen; niemand war in diesem Augenblick darauf vorbereitet; – am wenigsten, daß dem dazu erteilten Befehl die Ausführung so unmittelbar auf dem Fuße folgen werde!. Keine halbe Stunde Zeit ward den Unglücklichen zur Rettung ihrer Habe gestattet; viele mußten, wie sie gingen und standen, ihr Eigentum verlassen. Hundert Familien wurden in wenigen Minuten zu Bettlern und suchten nun in der ohnehin ziemlich beengten Stadt ein kümmerliches Unterkommen.
Man fragte sich damals (und zwar mit gutem Rechte), warum, wenn doch einmal gesengt und gebrannt sein sollte, diese Maßregel nicht schon früher die Altstadt getroffen habe, die im unmittelbaren Bereich des Feindes lag, der sich zwischen den Gebäuden derselben einnistete und uns durch seine hinter denselben angelegte Wurfbatterie in der Folge so nachteilig wurde. Als der Fehler aber einmal begangen war, blieb jeder Versuch zur Abhilfe vergeblich. Selbst alle Mühe, die wir uns gaben, die Altstadt durch unser Geschütz zu demolieren oder in Brand zu stecken, leistete die ganze Belagerung hindurch nicht, was wir davon erwarteten. – Was indes hier versäumt war, suchte der Rittmeister v. Schill an seiner Seite in der Maikuhle nach Möglichkeit wieder gutzumachen, indem er sich in diesem wichtigen Posten immer fester setzte, Fleschen anlegen ließ, Wolfsgruben grub und Verhacke veranstaltete. Die Beschützung des Platzes von dieser Seite blieb nun gänzlich seiner Sorgfalt überlassen.
Der feindliche Anführer mußte indes seine am 13. März errungenen Vorteile wohl selbst für bedeutend genug halten, um zu glauben, daß uns der Mut zu fernerem Widerstande dadurch gebrochen worden. Es erschien also am 15. vormittags um zehn Uhr am Mühlentor ein französischer Parlamentär! in einem mit vier Pferden bespannten, niedergelassenen Wagen. Der Kutscher fuhr vom Sattel; den Bock nahm ein Trompeter ein, und zwei Nobelgardisten, wie die[272] Puppen gekleidet und mit Gewehr und völliger Rüstung versehen, gingen zu beiden Seiten des Wagens einher. In diesem ungewöhnlichen Aufzuge und unter einer schmetternden Tarare rasselte das Völkchen zur Stadt herein und hielt dann plötzlich vor dem Hause des Kommandanten, der den Parlamentär in der Haustür empfing, ihm freundlich die Hand bot und dann ihn in sein Zimmer führte, welches sofort hinter ihnen verschlossen wurde.
Nach und nach versammelten sich viele Offiziere der Garnison auf dem Flur des Hauses, unter welche auch ich mich mischte. Alle waren von jener Erscheinung mehr oder weniger überrascht und auf den weiteren Erfolg gespannt. Alle fragten wir uns untereinander: ob denn sonst keiner von den Offizieren bei der vorseienden Unterredung in dem verriegelten Zimmer zugegen sei. Ich wandte mich an den Obrist v. Britzke, der auch unter dem Haufen stand. »Herr, Sie sind der nächste an Rang und Alter. Ihnen gebührte es am ersten, mit anzuhören, was da unterhandelt wird. Sprengen Sie die Türe!« – Er zuckte die Schultern, und niemand von den Anwesenden sprach ein Wort. Mich aber überfiel innerlich eine unbeschreibliche Angst und Sorge. Die Erinnerungen an Stettin, Küstrin und Magdeburg standen mir wie finstre Gespenster vor der Seele. Ich konnte nicht dauern, nicht bleiben, sondern lief, den Vizekommandanten aufzusuchen, der jetzt allein noch Unheil verhüten konnte.
Vergebens irrte ich in atemloser Hast, den wackern Mann in der ganzen Stadt, vergebens auf den Wällen zu erfragen! Bald sagte man mir, er sei auf der Münde beim Hafen, und ich schickte Boten über Boten aus, ihn schleunigst herbeizurufen; – bald wieder hieß es, er sei bei den Verschanzungen auf dem Wolfsberge beschäftigt. Aber während ich auch dorthin Eilboten abfertigte, war die Zeit bis fast um zwei Uhr abgelaufen, und ohne ihn erwarten zu können, trieb es mich wieder nach dem Kommandantenhause, wo Unheil gebrütet wurde.
In der Zwischenzeit aber hatten Trompeter, Kutscher und Nobelgarden, die mir sämtlich nicht so aussahen, als ob sie in diese Kleider gehörten, sich nach Belieben und ohne Aufsicht in der Stadt zerstreut; man möchte denn das Aufsicht nennen wollen, daß ein Unteroffizier von der Garnison, namens Reischard, ein geborner Sachse, sich wie von ungefähr zu ihnen gesellte und sie, wie man wissen wollte, auch auf den Wällen herumgeführt hatte. Dieser Mensch war übrigens in den letzten Zeiten vielfältig bei den Arbeiten an den Verschanzungen und beim Palisadensetzen als Aufseher gebraucht worden, er konnte also über die Lage und Beschaffenheit der Werke wohl einige Auskunft geben.
Endlich nach langem peinlichen Harren ward von dem Kommandanten aus dem Fenster gerufen, des Parlamentärs Wagen vorfahren zu lassen. Beide Herren traten Hand in Hand aus dem Zimmer hervor, verweilten aber noch einige Zeit in der Haustür, weil noch etwas an dem Wagen in Ordnung zu[273] bringen war. Unter uns Umstehenden gab es auch einen anspachischen Offizier außer Diensten, der so ziemlich das Aussehen eines Abenteuerers hatte, sich seit einiger Zeit in der Stadt umtrieb und auch jetzt sich, man wußte nicht wie und warum, hier eingedrängt hatte. Dieser nun trat mit einer gewissen Zuversichtlichkeit auf den französischen Unterhändler zu und begrüßte ihn; beide ergriffen einander bei der Hand und drängten sich durch uns alle hindurch, um auf den Hof zu gelangen, wo sie lange und angelegentlich miteinander sprachen.
Hier wurde ich nun warm und ereifert. Ich faßte den Kommandanten an den Arm und zog ihn dorthin nach, indem ich rief: »Herr Obrist, was die beiden dort abzumachen haben, das müssen Sie auch wissen!« – Er folgte mir wie ein Schaf, sowie wir aber näher kamen, verbeugten sie sich beiderseits höflichst und gingen auseinander, worauf auch der Parlamentär in den Wagen stieg und davon kutschierte. Erst eine halbe Stunde nachher kam der Hauptmann v. Waldenfels fast atemlos herbeigeeilt, und ich und andre erzählten ihm, was hier vorgegangen. Der Mann geriet ganz außer sich, daß so etwas in seiner Abwesenheit hatte geschehen können. Man erfuhr auch nachher, daß Loucadou und der Vizekommandant einen harten Wortwechsel gehabt und sich förmlich miteinander überworfen hatten. Wer irgend zum Nachdenken aufgelegt war, mußte in all diesen Vorgängen sehr viel Unbegreifliches finden, und wollte er einigem bösen Argwohn Raum bei sich geben, so mußte ihn der Umstand noch mehr darin bestärken, daß nach zwei Tagen jener Unteroffizier Reischard unsichtbar geworden und zum Feinde übergegangen war.
Gleich am 16. März machte der Feind vormittags den ersten Versuch, ob und wie die Stadt aus der eroberten Schanze auf dem Hohenberge mit Wurfgeschütz zu erreichen sein werde. Er schickte uns also einige Granaten zu, die aber entweder schon in der Luft platzten oder unschädlich in den Stadtgraben fielen. Nichtsdestoweniger ward abends um acht Uhr ganz unvermutet Feuerlärm geschlagen, und – das Haus des Kommandanten stand in vollem Brande! Alles lief zum Löschen herbei; während jedoch manche verständige Bürger samt mir sich unwillkürlich veranlaßt fühlten, dies Ereignis mit dem gestrigen Parlamentär in eine sehr bedenkliche Verbindung zu bringen. Lag in diesem Brandlärm, wie wir fürchteten, etwas Vorbereitetes, so ließ sich auch wohl besorgen, daß der Feind diesen Zeitpunkt zu einer nächtlichen Überrumpelung benutzen könnte.
Voll von diesem beängstigenden Gedanken entschlossen sich unsrer dreizehn an der Zahl, sofort eine Runde rings um die Stadtwälle zu machen und die Verteidigungsanstalten mit eigenen Augen nachzusehen. Wir traten unsern Weg sogleich auf dem Platze vom Stockhause an und setzten ihn auf dem innern Wall bis an das letzte Hornwerk Geldern an der Saline und von dort wiederum[274] bis dahin fort, wo wir ausgegangen waren. Überall auf den Batteren, wo Kanonen und Pulverwagen standen, riefen wir wiederholt und überlaut die Schildwachen an, aber nur selten ward uns eine Stimme zur Antwort, und auf unsrer ganzen langen Runde trafen wir auf diese Weise nicht mehr als sieben – schreibe sieben Mann unter dem Gewehr!
So etwas überstieg alle unsre Gedanken und Begriffe! Wir erachteten es für dringende Notwendigkeit, dem Kommandanten davon die schleunigste Anzeige zu machen, damit bessere Anstalt getroffen und Unglück verhütet würde. Der aber war längst aus seinem brennenden Hause geflüchtet und hatte sich in das Posthaus einquartiert. Auch dort suchten wir ihn auf und ließen ihm durch seine Ordonnanz hineinsagen: »Die Bürgerpatrouille wolle ihn sprechen, um etwas Hochwichtiges anzumelden.« Wir empfingen hierauf den Bescheid: »Der Herr Obrist habe sich bereits zur Ruhe begeben und lasse sich heute nicht mehr sprechen.« – Was für eine unerhörte Seelenruhe bei einem Festungskommandanten, der den Feind vor den Toren hat, und dessen Haus in vollen Flammen steht! Dieser Brand wurde übrigens gegen drei Uhr morgens gelöscht; wir Bürger setzten unsre Umgänge die ganze Nacht fort, und der Feind hielt sich ruhig. Leicht aber mag man ermessen, wie uns bei diesen Umständen zumute war und welcher traurigen Zukunft wir entgegensahen.
Allein was war hier mit unserm stillen Grollen und Jammern, oder auch mit lautem Murren und Räsonieren geholfen? Hier mußte schneller und nachdrücklicher Rat geschafft werden, und so bedachte ich mich nicht lange, sondern ging noch am nämlichen Morgen ans Werk, um aus der ganzen Fülle meines beklommenen Herzens unmittelbar an den König selbst aufs Papier hinzuwerfen, was mir in diesen letzten Tagen sowie manches Frühere unrecht und bedenklich vorgekommen. Ich weiß noch, daß dieses Schreiben mit den unterstrichenen Worten endigte: »Wenn Ew. Majestät uns nicht bald einen andern und braven Kommandanten zuschicken, sind wir unglücklich und verloren!« – Diese Vorstellung schloß ich in eine Adresse an den Kaufmann Wachsen zu Memel, meinen Freund und einen gebornen Kolberger, ein und ersuchte denselben, die Einlage, wo möglich, an den König persönlich zu übergeben. Es fand sich aber zur Absendung nicht eher eine Gelegenheit als am 22. März, da Schiffer Kamitz mit einer Anzahl Gefangener nach Memel in See ging. Dieser lieferte denn auch mein Paket richtig an seine Adresse ab, und von Wachsen erfuhr ich, daß der Monarch dasselbe aus seinen Händen selbst empfangen und gnädig aufgenommen habe.
Daß am 17. März abermals ein Feuer in der Kommandantur hervorbrach, wiewohl es alsbald wieder gedämpft wurde, konnte Zufall sein oder eine irgendwo noch verborgen gebliebene Glut zur Ursache haben; allein die Gemüter waren[275] einmal zum Argwohn aufgeregt und merkten nur an, daß heute so wenig als gestern um die Zeit, da das Feuer aufgegangen, irgendein feindliches Geschoß in Tätigkeit gewesen sei.
Bis zum 19. März beschäftigten sich die Belagerer vornehmlich mit Einrichtung ihrer Lager, mit Festsetzung in der Altstadt und mit Schlagung einer Verbindungsbrücke über die Persante in der Nähe von Rossentin, und je mehr sich Truppen hieherwärts bewegten, um so weniger war es zu bezweifeln, daß ihre Absichten auf Gewinnung der Schanze auf dem Kauzenberge gerichtet seien, die ihre Besatzung abwechselnd aus der Festung erhielt. Am frühen Morgen jenes Tages hatte der gedrohete Angriff wirklich statt. Es gab das erste anhaltende Feuer aus grobem Geschütz und kleinem Gewehr in dieser Belagerung. Anfall und Verteidigung waren in gleichem Maße heftig, aber nur zu bald mußte die Besatzung der Übermacht weichen, und auch das weiter zurückliegende Dorf Sellnow ging verloren, ohne daß die aus dem Platze nachrückende, zahlreiche Verstärkung es vermochte, dem Feinde seine gewonnenen Vorteile wieder zu entreißen. Dies war für uns ein sehr empfindlicher Verlust; denn nur von der Position von Sellnow aus war die Stadt auf dieser Seite angreifbar. Wer Sellnow innehat, ist gewissermaßen auch Meister des Siederfelds in seiner weitesten Ausdehnung und Herr des Gradierwerks und selbst der Saline. Nicht minder eröffnet es den bequemeren Zugang zum Angriff der Maikuhle. Das alles wußten wir; aber es ward nur erst in dem Augenblick, als es zu spät war, gehörig beherzigt.
Rasch und besonnen hingegen benutzte der Feind auf der Stelle seine erlangten Vorteile, ging in das Siederland vor, setzte sich hinter das Gradierwerk und zeigte sich selbst vor dem Galgenberge. Rechtshin aber griff er zugleich unsre Schanze auf dem Strickerberge, hart an dem Damme vor dem Gelder Tore gelegen, mit solchem Nachdruck an und ward dabei durch sein Flankenfeuer von der Altstadt her so gut unterstützt, daß das Feuer aller unsrer Batterien, wie heftig es auch unterhalten wurde, dagegen kaum ausreichte. Abends gegen sechs Uhr mußten die Grenadiere, welche bis dahin die Schanze mit Entschlossenheit verteidigt hatten, sich durch eine Abteilung Freiwilliger des Schillschen Korps ablösen lassen, und diesen glückte es, sich darin noch achtundvierzig Stunden zu behaupten – ja noch gleich in der nächsten Nacht eine neue Schanze nächst dem Weißen Kruge (dem letzten Hause der Gelder Vorstadt) aufzuwerfen, wodurch der Damm noch besser bestrichen und die Feinde an der Annäherung verhindert wurden.
Allerdings stand nun die genannte Vorstadt in naher und dringender Gefahr, überwältigt und dann der Festung sehr nachteilig zu werden. Loucadou war darum auch sogleich mit dem Befehl zum Abbrennen bereit. Diesmal aber fand[276] seine rücksichtslose Härte einen edelmütigen Widerstand an dem Rittmeister v. Schill, welcher die Unnützlichkeit jeder Übereilung bei der Ausführung dieser Maßregel dartat, solange die vorliegenden Schanzen noch von seinen Leuten verteidigt würden, für deren Mut und Ausdauer er sich verbürgte. Der Kommandant sah sich für den Augenblick genötigt, nachzugeben, und Hunderte von Menschen fanden dadurch Zeit, alle bewegliche Trümmer ihres Vermögens rückwärts in Sicherheit zu flüchten. Erst als dies geschehen war, trat die unabwendbare Zerstörung ein, und die Schanzen wurden verlassen.
Es fehlte jedoch viel, daß Loucadou durch diesen glücklichen Erfolg selbst zur besseren Besinnung gekommen wäre. Er sah in Schills Benehmen nur einen sträflichen Mangel an Subordination und brach demnächst in mündliche, harte Vorwürfe aus, welche einen lebhaften Wortwechsel nach sich zogen und mit einem angekündigten Zimmerarrest endigten, dem der Gekränkte sich geduldig unterzog, da sein menschenfreundlicher Zweck nunmehr seine Erfüllung bereits erreicht hatte. Aber nicht so geduldig nahmen Soldaten und Bürger es auf, als es bekannt wurde, was für eine Ungebühxnis ihrem Augapfel und Liebling (denn das war er!) widerfahren sei. Es entstand ein Gemurmel, ein Reden, ein Fragen, ein Durcheinanderlaufen, das mit jeder Minute lauter und stürmischer wurde. Eine immer gedrängtere Masse sammelte sich auf dem Markte, und es war nicht undeutlich die Rede davon, Schill mit Gewalt zu befreien und den Kommandanten für das, was er getan, persönlich verantwortlich zu machen.
Ich erfuhr alsbald, was im Werke sei; allein war ich gleich nicht weniger entrüstet als jeder andre, so entging es mir doch nicht, von welchen unseligen und schwer zu berechnenden Folgen hier jede Gewalttätigkeit sein würde. Vielmehr kam alles darauf an, diese Volksbewegung zu stillen und ihren raschen Ausbruch zu verhindern. Ich warf mich schnell unter die Menge, bat sie, Vernunft anzunehmen und vor allen Dingen Schills eigne Meinung zu vernehmen. Diese zu hören, sei ich jetzt auf dem Wege begriffen. Sie möchten also ruhig meine Wiederkunft erwarten. Das ward denn auch angenommen.
Als ich zu dem Gefangenen kam und ihm sagte, wie die Sachen ständen, erschrak er heftig, und mich an beiden Händen ergreifend, rief er: »Freund, ich bitte Sie um alles, stellen Sie die guten Menschen zufrieden! Aufruhr wäre das letzte und größte Unglück, das uns begegnen könnte. Sagen Sie ihnen, ich sei nicht arretiert; ich sei krank – kurz, sagen Sie, was Sie wollen, wenn die Leute sich nur zur Ruhe geben.« – Ich gelobte ihm das, weil er es wollte und weil es das Beste war, und eilte nach dem Markte zurück. Kaum konnte ich mich durch das tosende Gedränge schlagen. Vor dem Kuhfalschen Hause trat ich auf eine Erhöhung und forderte wiederholt und mit angestrengtester Stimme, daß man mich hören solle. Nur mit Mühe erwirkte dies so viel Stille, um[277] überall vernommen zu werden. »Kinder!« rief ich, »ich komme von unserm Freunde. Aus seinem eignen Munde weiß ich's: er hat nicht Arrest, wie ihr glaubt, sondern hält sich wegen Unpäßlichkeit in seinem Zimmer. Euch insgesamt aber bittet er durch meinen Mund, wenn ihr ihm je Liebe bewiesen habt, daß ihr jetzt ruhig auseinandergeht. Binnen wenig Tagen hofft er so vollkommen hergestellt zu sein, daß er selbst unter euch erscheinen und euch für eure Anhänglichkeit danken kann. Wer also ein guter Bürger und sein Freund ist, der geht nach Hause.«
Diese Rede war nicht zierlich, aber verständlich und machte um so mehr den besten Eindruck, da sie von dem Superintendenten Baarz, der neben mir stand, wiederholt und weiter ausgeführt wurde. Die guten Leute kamen glücklich zur Besinnung, und als die Angeseheneren sich ruhig wegbegehen hatten, fehlte es nicht, daß auch der Pöbel sich allgemach verlief. Loucadou verhielt sich bei diesem Vorgang ganz still, als hätte er kein Wasser getrübt, was ihm auch gar sehr zu raten war. Schills Arrest aber blieb, wie man wohl denken kann, ein leeres Wort, das stillschweigend zurückgenommen wurde. Denn da Schill seine Gegenwart in der Maikuhle und auf einigen andern Orten bei den Vorposten notwendig fand, tat er, was die Umstände erforderten, und Loucadou stand nicht an, zu erklären: »Außerhalb der Festung möge er schalten, wie er's für gut befinde.«
Noch hatte die eigentliche Belagerung kaum ihren Anfang genommen, d.h. es waren noch keine Laufgräben eröffnet, keine Batterien angelegt und die Stadt noch kaum beschossen: und dennoch hatten wir bereits durch Saumseligkeit und Unverstand von unsern Vorteilen so viel eingebüßt, als nur nach einem langen und hartnäckigen Angriff und einer ebensolchen Gegenwehr zu entschuldigen gewesen wäre. Wir hatten nur, wenn ich so sagen mag, den Instinkt der Furcht, und dieser leitete uns ganz richtig, indem er uns zuflüsterte, daß wir, um unsers letzten Heils willen, uns nicht vom Meere abdrängen lassen müßten. Darum wandte man von jetzt an eine stets größere Sorgfalt auf die Befestigung der Maikuhle, deren zuvor noch immer mit einiger Schonung behandelte Bäume jetzt zum Teil niedergehauen wurden. Aber auch ostwärts des Hafens verließ man sich nicht mehr allein auf das Münder Fort und die wohlgelegene Schanze auf dem Münder Kirchhofe, welche noch durch eine zwischen beiden angelegte Redoute auf dem sogenannten »Baumgarten« verstärkt wurde, sondern richtete auch eine ganz besondere Aufmerksamkeit auf den noch östlicher gelegenen Wolfsberg, der dem Andrigen des Feindes längs dem Strande einen Damm entgegenstellt. Diese wichtige Anhöhe, welche auf ihrer flachen Kuppe einen Raum von mehr als hundert Schritten im Durchmesser darbietet, wurde nach und nach in ein geschlossenes Werk von ausnehmender Stärke verwandelt und darum auch für die Folge der Belagerung überaus wichtig. Von den Erhöhungen bei Bullenwinkel[278] kann sie zwar bestrichen werden, aber die dazwischenliegenden Radewiesen erschweren gleichwohl jede Annäherung.
Hierherwärts schien aber jetzt noch der Blick des Feindes ungleich weniger als auf den Gewinn der Maikuhle geheftet zu sein. Nicht nur hatte er neuerdings eine Floßbrücke in noch größerer Nähe bei der Altstadt über den Strom geschlagen, um sich den Übergang zu erleichtern und seine Truppen schnell auf jeden Punkt zu werfen, sondern vom 22. bis zum 24. März erfolgten auch täglich größere oder kleinere Rekognoszierungen, die selbst bis gegen den Strand vorzudringen suchten und sich endlich in Neuwerder oder den sogenannten »Spinnkaten« festsetzten. Diese leichten Angriffe gegen die Maikuhle wurden den 26. und 30. März ohne bedeutenden Erfolg wiederholt und bereiteten einen ernsthafteren vor, zu dessen Ausführung man vielleicht nur die Ankunft des Marschalls Mortier abwartete, welcher endlich am 5. April bei dem Belagerungskorps eintraf und sein Hauptquartier in Zernin nahm. Ebendaselbst hatte weiland auch der russische General Rumanzof das seinige aufgeschlagen.[279]
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