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[57] Werd' ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch, du bist so schön,
So magst du mich in Trümmer schlagen,
So will ich gern zugrunde gehn.
Goethe.[57]
Nachdem ich mein Oberlehrer-Examen in Berlin bestanden hatte, rieten mir einige wohlwollende Bekannte und Verwandte, ich möge jetzt mein Probejahr als Gymnasiallehrer durchmachen. Ich habe dann doch »etwas Sicheres« für meine deutsche Laufbahn vor mir. Aber ich fühlte weder den Beruf noch die Neigung in mir, deutsche Gymnasiasten zu unterrichten. Somit siedelte ich nach meinem Examen nach Hannover über, nahm mir dort eine eigene Wohnung in der Schillerstraße und kündigte zunächst Vorträge für junge Damen in Literatur, Mythologie und griechischer Geschichte an, welche ich auch mit wachsender Beteiligung einige Wochen hielt. Die Idee war, unmittelbar auf eine akademische Laufbahn hinzuarbeiten. Ich war damals etwa 24 Jahre alt und beabsichtigte, mich als Privatdozent der Philosophie an einer deutschen Universität niederzulassen.
Da erhielt mein Leben durch einen unerwarteten Anstoß von außen eine entscheidende Richtung.
In England hatte ein Bruder meiner Mutter, Karl Engel, eine Reihe von Jahren gelebt, zunächst als ausübender Musiker in Orgelspiel und Pianoforte. Er hatte dann eine Engländerin aus der angesehenen Familie der Pagets geheiratet und auf deren Wunsch seine Tätigkeit als Künstler mit der stilleren eines Musikhistorikers und Sammlers vertauscht. Er hatte sich dadurch einen europäischen Ruf erworben. Wer Näheres über ihn zu wissen wünscht, den kann ich auf das Meyersche Konversationslexikon verweisen. Im Herbst 1880 war meine Tante in London gestorben[58] und hatte meinem Onkel ihr nicht unbedeutendes Vermögen hinterlassen. Karl Engel hatte in England eine angesehene Stellung in der Gesellschaft und unter den Gelehrten, verkehrte auch bei der Königin Viktoria und mit dem damaligen Prinzen von Wales, und mit wem er sonst wollte. Sein Schwager war der Augenarzt der Königin, Sir William Bowman. Eine andere Schwester meiner verstorbenen Tante war Mrs. Kenricks, die Schwiegermutter Mr. Joe Chamberlains, welcher zu jener Zeit Handelsminister in der liberalen Regierung Mr. Gladstones war.
Nach dem Tode seiner Frau fühlte mein Onkel sich vereinsamt in Kensington und, als ich gerade meine Vorträge in Hannover angefangen hatte, lud er mich ein, ihn in London zu besuchen. Ich nahm diese Einladung gern an und gab die begonnenen Vorträge wieder auf. Ende Dezember 1880 siedelte ich nach London über und wohnte zunächst bei meinem Onkel in 54 Addison Road Kensington. Später unternahmen wir Reisen zusammen, welche mich mit einem Teil von Westeuropa bekannt machten. Außer Südengland lernte ich Frankreich, Holland und Belgien kennen.
Mit meiner Übersiedlung nach England nahm der äußere Zuschnitt meines Lebens sofort eine großartigere Form an. Nicht nur verschwanden alle finanziellen Schwierigkeiten ein für allemal, ich kam auch in die besten englischen Gesellschaftskreise. Wenn ich bis dahin in Deutschland Philosophie, Geschichte usw. gelernt hatte, so lernte ich jetzt Lebensformen an der Themse kennen, die sehr verschieden von denen der deutschen Universitätskreise waren und wieder mehr in meine Ilfelder Vorschule einlenkten. Meine englischen »Vettern«, die Bowmans, die Pagets, auch Mr. Chamberlain, suchten etwas darin, schon aus Achtung vor meinem Onkel, mich in ihre Kreise zu ziehen und mich ebenbürtig aufzunehmen. Mein Onkel wünschte, daß ich von vornherein mich »englisch« kleide und es meinen britischen Vettern[59] gleichtue. Er eröffnete mir ein eigenes Konto auf einer Londoner Bank, und ich kam in den Besitz eines eigenen Scheckbuches. Über meine Zeit konnte ich frei verfügen. Nur liebte es mein Onkel, daß ich ihm nach dem Tee von fünf bis sechs Uhr nachmittags, wenn er auf dem Flügel sich erging, Gesellschaft leiste und nachher mit ihm spazieren gehe. Bei Tage trieb ich Englisch nach Addisons und Macaulays Werken und studierte planmäßig London, oder ich beschäftigte mich auch im britischen Museum, wo ich für die Monumenta Germaniae die Annales Mettenses aus einer Handschrift abschrieb. Abends war ich meistens allein, in Gesellschaften oder in Theatern, da mein Onkel früh zu Bett zu gehen liebte.
Ich muß gestehen, daß mir dieser Londoner Aufenthalt eine Reihe ganz anderer Kenntnisse und Anregungen brachte, als wie dies eine Tätigkeit als deutscher Referendar oder Schulamtskandidat hätte tun können. Der Unterschied zwischen englischen und deutschen Lebensformen und Anschauungen mußte sich mir täglich aufdrängen, und, wenn ich der Sache auf den Grund ging, so mußte ich mir sagen, daß die größere Unabhängigkeit jedes einzelnen in der Gesamtheit das eigentlich entscheidende in dem Charakter zwischen Angelsachsen und Deutschen sei. Wenn ich aber darüber nachdachte, so erkannte ich schon damals, daß die großartige Weltstellung der Briten, vornehmlich auch die gewaltige Kolonialpolitik dieses Volkes, die Grundlage war, welche es jedem Engländer ermögliche, sich eine wirtschaftliche Unabhängigkeit, frei von Fremden, frei von seinem eigenen Staate und seiner eigenen Regierung, irgendwo auf der Erde zu erwerben. Wenn ich meine eigenen Freunde in Deutschland mit meinen Freunden und Verwandten in England verglich, so sah ich, daß die ersteren nach den paar Jahren akademischer Freiheit meist ins Philistertum einbogen und gebückt vor Gönnern und Vorgesetzten die Elastizität ihrer Seelen verloren, während die letzteren unabhängig[60] nach oben und rücksichtsvoll gegen ihresgleichen und nach unten als geborene Herren über die Erde wandelten.
Auf meinen Reisen nahm ich schon um 1881 wahr, daß die Engländer in den Hotels meist auf den Stühlen an den Tafeln saßen, meine deutschen Landsleute aber in der Regel als Diener dahinter standen. Auch fand ich überall, wohin ich kam, meistens die Tatsache, daß die Engländer sich selbstbewußt und nationalstolz fühlten, die Deutschen aber sehr oft das Bestreben hatten, als Fremde zu erscheinen, sich als Engländer, Franzosen usw. »aufzuspielen«. Diese Beobachtungen habe ich in meiner Studie »Das Deutschtum in London«, welche zuerst 1883 in der »Gegenwart«, später in meinem »Deutsch-national« veröffentlicht ist, dargelegt. Diese Anschauungen sind der Ausgangspunkt meiner eigenen kolonialen Bestrebungen für Deutschland geworden.
Bereits im Sommer 1881, als ich noch mitten in meinen englischen Eindrücken und Schlußfolgerungen stand, begann ich ein echt deutsches Werk zu schreiben, nämlich eine Fortsetzung der Philosophie Artur Schopenhauers. Dieselbe ist später unter dem Titel: »Willenswelt und Weltwille« bei F. A. Brockhaus in Leipzig erschienen und, soweit ich weiß, noch heute im Buchhandel zu haben. Schon 1879 hatte ich eine kleine Schrift: »Artur Schopenhauer als Schriftsteller und Philosoph« veröffentlicht. Bis 1881 hatte ich meine Forschungen nach allen Seiten ausgedehnt. Ihr Niederschlag ist das oben erwähnte Werk, welches sich hauptsächlich auf die Bücherei des Britischen Museums stützte, aber auch auf manches Werk, welches ich mir kaufte. Ich habe es teils in London, teils in dem von mir so sehr geliebten Eastbourne, auch in Frankreich und Tunbridge Wells verfaßt. Ich glaube, seine kritischen Teile sind besser, als seine positiv aufbauenden. Aber damals glaubte ich noch, wir könnten das völlig unlösbare Rätsel des Seins mit Worten lösen und dem Ganzen liege ein optimistischer, überhaupt ein Zweck zugrunde. Von beidem bin ich vollständig zurückgekommen.[61] Ich bin also heute viel mehr Schopenhauerianer als 1881.
Den Winter 1881 bis 1882 verbrachten mein Onkel und ich in Tunbridge Wells. Damals dachte Karl Engel daran, sich in jenem anmutigen Orte Kents dauernd ein Haus zu nehmen, weil er in Tunbridge Wells besser schlafen könne als in Kensington. Als wir uns eines Nachmittags ein solches Haus an einem Park ansahen, machte mein Onkel mir den Vorschlag, ich möge dauernd bei ihm bleiben. Mir stehe in England eine glänzende Laufbahn bevor, wenn ich, wie er, Engländer werden wolle. Dann werde er mich auch adoptieren und mir sein Vermögen hinterlassen. Obwohl ich schon damals ganz klar sah, daß die englische Welt und der englische Volkscharakter eine ganz andere Räsonnanz für eine Natur wie die meine sei, als der preußisch-deutsche, obwohl mir deutlich war, daß das englische Weltreich mir in jeder Beziehung eine glänzende Laufbahn gewähre, obwohl solcher Übergang in ein fremdes Volkstum, insbesondere bei den höchsten Gesellschaftsklassen Deutschlands etwas Alltägliches war, von der deutschen Prinzessin oder dem deutschen Fürsten auf dem Thron von Ausländern bis zu dem deutschen Schneidergesellen in der ausländischen Werkstätte, so konnte mein persönlicher Stolz sich 1881 doch nicht entschließen, einen solchen Schritt zu tun. Das Shakespearesche »Ich bin ich« hieß in diesem Fall, »Ich bin Deutscher,« und ich lehnte es ab, dieser Tatsache entgegenzuhandeln. Da ich einmal in Deutschland geboren war, hielt ich es für selbstverständlich, dieses Urteil des Weltgeistes bestehen zu lassen. Ich entschied mich damit für ein Leben des Leidens und Elends im Gegensatz zu äußerem Erfolg und Glanz. Aber das sollte ich erst später einsehen. Im November 1881 wußte ich es noch nicht.
Mein Onkel, der gedacht hatte, ich werde seinen Vorschlag gern annehmen, ließ bei meiner Ablehnung seinen Plan, sich in Tunbridge Wells anzusiedeln, fallen und fuhr[62] im April 1882 mit mir nach Deutschland, wo ich meine akademische Laufbahn jetzt im Ernst in Angriff nehmen wollte. Zum zweitenmal kam eine energische Wendung meines Geschickes von außen.
In Hannover, nach einem Besuch bei meiner Mutter, trennten Karl Engel und ich uns, ich, um nach Berlin zu gehen und meine Habilitation ernstlich zu betreiben, Onkel, um die Plätze seiner Kindheit zu besuchen und dann nach London zurückzukehren. Ich habe sein Schicksal an einer andern Stelle erzählt1. Hier will ich nur wiederholen, daß er im November 1882 plötzlich starb, und ich dadurch gezwungen wurde, meinen deutschen Aufenthalt abzubrechen und nach England zurückzukehren. Mein Onkel hatte ein Testament hinterlassen, in welchem er seine deutschen Geschwister zu seinen Erben, mich aber zu seinem Testamentsvollstrecker eingesetzt hatte. Mir fiel sein literarischer Nachlaß zu. Ich habe nach seinem Tode noch sein: »The early history of the Violine Family« herausgegeben und seine reichen musikalischen Sammlungen dem South Kensington Museum verkauft, wo sie noch heute unter der Bezeichnung »Karl Engel's Collection« zu sehen sind.
Für mich begann nun eine Zeit reger geschäftlicher Tätigkeit. Ich hatte das ganze Vermögen meines verstorbenen Onkels abzuwickeln und zu verteilen. Ich mußte unser Haus in 54 Addison Road und seine Möbel verkaufen; seine Papiere waren in der City von London zu Geld zu machen, und dafür die besten Zeiten abzuwarten. Ich hatte einen Prozeß gegen einen betrügerischen Auktionator zu führen und mit Rechtsanwälten zu verkehren. Dies ist meine eigentliche Lehrzeit gewesen, und durch diese verschiedenen Betätigungen erhielt ich einen klaren Einblick in das Getriebe des englischen Lebens.
Daneben verkehrte ich jetzt ganz unabhängig in vielen[63] Familien und mit Junggesellen. Soviel es meine Zeit gestattete, hielt ich mich in meinem Lieblingsorte Eastbourne und in anderen Seeplätzen auf. Ich war ein eifriger Reiter und Schwimmer und beteiligte mich wiederholt an den Schwimmregatten im Kanal. Zweimal habe ich im Sommer 1883 versucht, an die französische Küste hinüberzuschwimmen. Es war die Zeit, wo dem Captain Webb dieses Kunststück gelungen war. Bei Kew Gardens auf der Themse hielt ich mir ein eigenes Boot, in welchem ich Touren bis nach Hampton Court und weiter flußaufwärts unternahm. Lieblich ging mir das Leben ein in der schönen Themsestadt und immer weniger anziehend erschien mir die Rückkehr in das banausische Berlin.
Den Verkehr mit den Bowmans und meinen übrigen Verwandten setzte ich fort. Besonders den mit Herbert Bowman, welcher gegenwärtig, glaube ich, Direktor der Bank von England ist, und mit Mr. Joseph Chamberlain, welcher in jenen Jahren die öffentliche Aufmerksamkeit in Großbritannien immer mehr auf sich zog und zu jener Zeit der Führer des linken Flügels der Liberalen wurde.
Alles das gewährte mir einen deutlichen Einblick in das gesellschaftliche und das politische Leben der Engländer, welches ich schon in meinen jungen Jahren durch Anschauung und Betätigung kennen lernte. Ich glaube, ich habe es gründlich gelernt, mit ihnen geschäftlich, gesellschaftlich und politisch umzugehen, indem ich bald dahinter kam, daß unsere den Franzosen nachgemachten Manieren an der Themse gar nicht am Platze seien, daß man, anstatt mit Verbeugungen und Hutabreißen wirken zu wollen, ihren Willensneigungen gegenüber vor allem selbst sich bestimmte Ziele stecken und solche, möglichst natürlich und energisch, vertreten müsse. Daß man einen Minister ruhig am Knopfloch anfassen könne und daß ein natürliches Auftreten immer sicherer zum Ziele führe, als sich zu winden und zu drehen. Ich bin mein ganzes Leben hindurch gerade mit Engländern immer gut[64] gefahren, bei Geschäften und in Politik, und dies danke ich vornehmlich der praktischen Lehrzeit, welche ich in England von 1882 bis 1883 durchgemacht habe. Die eigentlichen Kniffe der City von London mit ihren Geheimnissen und Unterströmungen sollte ich freilich erst von 1896 ab kennen lernen.
Bei meinen Geschäften, Reisen und Vergnügungen vernachlässigte ich auch das British Museum nicht, in dessen Lesesaale ich ein regelmäßiger Gast war, und in welchem ich nicht nur Geschichte sondern auch Philosophie trieb. Insbesondere wurde mir in jener Zeit auch die Überlegenheit und die Schwäche unserer deutschen Art klar. Die erstere bestand in unserer methodischen und gewissenhaften Forschung, der wenigstens England nichts an die Seite zu stellen hat, die englische Art eines Darwin, eines Carlyle, eines Wallace schien mir mehr im liebevollen Eingehen auf einen Einzelzweig zu bestehen, und in einer frischeren Anschauung und Darstellung. Mein Lieblingsschriftsteller wurde mehr und mehr Thackeray, dessen Romane ich verschlang, bis zu einem gewissen Maße auch Charles Dickens.
Die Kenntnis der britischen Kolonialpolitik erwarb ich mir teils theoretisch durch Studium der Akten aus der Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts im Record office (Archiv) in Chancery Lane, teilweise durch Verkehr mit Leuten aus den Kolonien. London ist in der Tat ein Sammelplatz für alle möglichen Persönlichkeiten und Völker, und ich machte mir dies voll zunutze. So lernte ich im Sommer 1883 einen Nordamerikaner, Mr. Stacy, kennen, mit welchem ich viel verkehrte. Er kam gerade aus einem Lande Maschonaland in Südafrika, wo er nach Gold geschürft und auch Gold gefunden hatte. In jenen Jahren war zum erstenmal eine eigentliche Kolonialbewegung in Deutschland zum Durchbruch gekommen, von welcher ich einiges in den Zeitungen las. Männer wie Fürst Hohenlohe-Langenburg, Rudolf von Bennigsen, Dr. Fabri, Dr. Miquel, Dr. Hübbe-Schleiden und[65] andere hatten gerade zu Frankfurt a. M. den Deutschen Kolonialverein gegründet. Dieser sah sich von London aus viel gefährlicher an, als er in Wirklichkeit war. Daß diese Herren im Grunde gar nicht daran dachten, sich überhaupt mit Kolonialpolitik praktisch zu befassen, daß ihre Gefolgschaft keine Volksbewegung, sondern überhaupt nur eine stille Gemeinde darstellte, das konnte ich an der Themse 1883 nicht wissen. Ich glaubte, es handele sich nur darum, irgendein Kolonialprojekt auszuführen, um einen achtunggebietenden Rückhalt in der Heimat zu finden. Daß weder dem Fürsten Bismarck noch den Gründern des Kolonialvereins irgend etwas an solcher unbequemen Einmischung gelegen sei, ahnte ich in meinem Sturm und Drang nicht. Daß beide Teile geneigt seien, solche nicht nur nicht zu unterstützen, sondern umgekehrt zu bekämpfen, konnte ich 1883 an der Themse wirklich nicht annehmen.
Somit wandte ich mich denn an Mr. Stacy mit dem Vorschlag, gemeinsam ein Kolonialunternehmen südlich des Sambesi, im heutigen Rhodesia auszuführen, nach Art der alten englischen »adventurers«, von denen ich gelesen hatte. Er sollte die Mineralschätze, besonders das Gold, von den zu erwerbenden Ländern haben, ich wollte die Gebiete selbst für Deutschland nehmen. Als Stacy erfuhr, daß es sich um die schwarz-weiß-rote Flagge handle, lehnte er seine Teilnahme sofort ab. Damit wollte er nichts zu tun haben. Ich mußte erkennen, daß der Kanonendonner von Sedan, auf welchen ich mir soviel zugute tat, auf der Erde doch nicht die Wirkung getan hatte, wie ich dachte. Indes war dieser Plan der eigentliche Beziehungspunkt, welcher mich 1883 im November wieder nach Deutschland zurückführte.
Ich hatte inzwischen feststellen müssen, daß mein philosophisches Werk »Willenswelt und Weltwille« kein Erfolg war, sondern vielmehr einen Schlag ins Wasser darstellte. Dies machte mir ein Einlenken in eine wissenschaftliche deutsche Laufbahn noch mehr zuwider. Ich darf für mich[66] beanspruchen, daß ich stets gewissenhaft geprüft habe, auf welcher Seite meine Fähigkeiten und Neigungen eigentlich lagen, ehe ich mich für einen Lebensberuf entschied. Wie ich bereits schon im Herbst 1877 es aufgab, eine eigentlich schriftstellerische Tätigkeit einzuschlagen, so kam ich im Jahr 1883 allmählich dahinter, daß auch eine wissenschaftliche Laufbahn nicht das sei, was die Natur mit mir vorhabe. Meine Arbeit als Testamentsvollstrecker meines Onkels brachte mich in diesen Monaten auch mit meinem Onkel Anton in nähere Berührung. Ich benutzte diese Gelegenheit, um meinen alten Plan einer Beteiligung an seiner Unternehmung bei Chicago weiter zu fördern. Lieber wollte ich, wenn es sein mußte, Schweinehandel am Michigansee treiben, als Privatdozent in Berlin oder Leipzig werden. Ein Verwandter in Deutschland, welchem ich im September 1883 meine Unentschiedenheit mitteilte, wollte außer sich vor Entsetzen werden. Wie könnte eine wohlgeordnete Seele auch nur eine Sekunde darüber im unklaren sein, ob er Kants Philosophie lehren oder Schweine schlachten wolle? Mir kam so recht zum Bewußtsein: »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, und eine will sich von der andern trennen.«
Im August machte ich zunächst eine Reise nach Nürnberg zu meinem Bruder Hermann und dann mit ihm nach Wien. Darauf fuhr ich auf längere Zeit nach Paris und Frankreich, um mein Französisch etwas fließender zu gestalten. Im Oktober 1883 traf ich schließlich in Berlin ein, um mich formell zwar als Privatdozent der Philosophie irgendwo an einer deutschen Universität niederzulassen, im Ernst aber zu versuchen, ob sich nicht mit deutscher Unterstützung irgendwo auf der Erde eine deutsche Kolonie gründen lasse.[67]
1 | S. »Die Gründung von Deutsch-Ostafrika« S. 22 bis 26. |
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