Ankunft in Stade und lustige Begebenheiten

[88] Als wir vor Stade ankamen, war es noch nicht sieben Uhr und das Tor daher noch geschlossen; kaum hatte der Bote aber sich genannt, so ward die Pforte aufgetan, und wir wanderten zufrieden ein.

Auf Empfehlung des Boten nahm ich meinen Abtritt im »Goldenen Stern«, wo ich mich durch ein gutes Frühstück erquickte, bei welchem ich dem gesprächigen Herrn Wirte meine Abenteuer auf der Reise nach Stade erzählte. Er schien sich herzlich zu freuen, als ich ihm sagte, daß ich künftighin in Stade bleiben würde, weil ich bei dem Herrn von Brock, dem Stiefsohn des Herrn von Völker, in Dienste trät. Er sagte mir, daß er meinen künftigen Herrn recht gut kenne, und wünschte mir Glück zu meinem neuen Dienste; zugleich gab er mir Beweise seiner Freigebigkeit durch das Geschenk eines noch brauchbaren Hutes und durch die Nichtannahme der gebotenen Zahlung für das genossene Frühstück. Ich sagte ihm den verbindlichsten Dank, bat mir die Fortdauer seines Wohlwollens aus und wurde dagegen von ihm gebeten, ihn recht oft zu besuchen, welches in der Folge wirklich geschah.

Nachdem sein Hausknecht mich an das Haus des Herrn von Völker gebracht hatte, ging ich mit klopfendem Herzen hinein. Die Herrschaft war noch nicht aufgestanden, kaum hatte man mich aber gemeldet, so kam der Stiefvater meines Herrn und gab mir seine Freude über meine Ankunft zu erkennen; sie hatten schon seit acht Tagen meiner Ankunft entgegengesehen und wären um mich besorgt gewesen, da sie zufällig erfahren, daß sich ein junger Bedienter aus dem Mecklenburgischen zu Hamburg hätte anwerben lassen. Dies hätte sie veranlaßt, sich expreß nach der Sache näher zu erkundigen, worauf sie zur Antwort erhalten hätten, daß das fragliche Subjekt ein Bedienter des Herrn Grafen von Retzow gewesen wäre.[89]

Darauf wurde mir auf Befehl des Herrn von Völker ein Frühstück aufgetragen, worauf ich der gnädigen Frau vorgestellt wurde, die mich stark in die Lehre nahm. »Aber, mein Gott«, sagte sie, »wie kann Er so unbesonnen sein, nicht einmal die Briefe bei sich zu behalten, die man Ihm anvertraut hat? Er scheint mir ein lockerer Bursch zu sein!«

Diese ehrenrührige Rede beleidigte mich so, daß ich vor Empfindlichkeit weinte und beschämt das Zimmer verließ. Herr von Völker kam mir nach und suchte mich durch die Versicherung zu beruhigen, daß mir mein Schaden ersetzt werden sollte; ich möchte nur ferner gut tun, so würd ich es bei ihnen recht gut haben. Eben wollt ich wieder in die Bedientenstube, als sein Stiefsohn, der Herr von Brock, mich freundlich bewillkommte und zugleich einlud, ihm in den Stall zu folgen. Hier zeigte er mir seine beiden Pferde, einen Fuchs, den er Bijou getauft hatte, und einen kleinen Nordebecker; beide waren sein Vergnügen und wurden mir auf die Seele anempfohlen.

Fast alle Tage lief ich nach dem Hafen, um zu sehen, ob das Schiff mit meinen Sachen noch nicht angekommen wäre, vergebens; am zehnten Tage kam endlich ein Schubkärrner und brachte sie, aber ganz durchnäßt und beschmutzt, was mir abermals einen Verweis von der gnädigen Frau zuzog, da die Briefe, welche wichtig zu sein schienen, von der Nässe fast unleserlich geworden waren.

Ich wurde nun neu gekleidet, und mein Herr ließ mich lernen, was ein Bedienter zu wissen nötig hat, frisieren, servieren und reiten und sogar Musik, als er meine Vorkenntnisse darin hatte kennen lernen.

Um meine neue Staatslivree zu zeigen, mußt ich mit der Herrschaft in der Stadt herum Visite fahren, da ging mir's fast wie dem Matz bei dem Landjunker in der Residenz. Ich erhielt eine Menge Visitenkarten und eine Namenliste, die ich beim ersten Absteigen verloren hatte.[90]

Da die Herrschaft nicht überall persönlich vorkam, so erhielt ich den Auftrag, die Visitenkarten nach Vorschrift abzugeben. Um mir zu helfen, gab ich die Karten überall ab, wo ich nur ein hübsches großes Haus sah. Es gingen Gegenvisiten-Karten ein, Gegenbesuche wurden abgestattet, und schon schien es, das Ohngefähr hätte mich glücklich geleitet, als die Erscheinung eines Schwertfegers mir den Wahn benahm. Er ließ sich von mir bei dem Herrn von Völker melden und wurde angenommen. Nach beiderseitigen Komplimenten frug mein Herr: »Was bringen Sie mir denn?« – »Ich komme, Ihnen meinen Dank für die ehrenvolle Visite abzustatten, welche Sie mir haben machen wollen!« Mein Herr, welcher merkte, was vorgefallen war, warf einen lächelnden Blick auf mich und erwiderte: »Ach so!« – Er lenkte das Gespräch nun auf etwas anderes, frug um dies und jenes, worauf der Herr Schwertfeger sich wieder empfahl. Als er fort war, brach mein Herr in ein lautes Gelächter aus und sagte: »Ein Glück für Ihn ist's, daß meine Frau jetzt nicht zugegen war!«

Einige Tage darauf war meine Herrschaft in zahlreicher Teegesellschaft, in welcher die Damen sich über allerhand Gegenstände unterhielten. – »Ich habe Sie wohl mit Ihrer Equipage und Ihrem galanten Bedienten durch die Stadt fahren und vor meiner Wohnung halten sehen«, sagt Frau von N.N. zu meiner Gnädigen, »aber ich bin nicht einmal so glücklich gewesen, eine Visitenkarte von Ihnen zu erhalten.« – »Was?« ruft meine Gebieterin, »Sie hätten keine Visitenkarte erhalten? Nicht? Nun warte, warte, das will ich meinem Bedienten anstreichen!« – Indem ich sie abends in den Wagen hob, machte sie mir ein ganz eignes Gesicht und sagte zu mir: »Er ist doch ein wahrer Dummkopf!«

Hm, Dummkopf, dacht ich, was will sie denn damit sagen? – Beim Aussteigen befahl sie mir, ihr zu folgen. Ich tappte hinter ihr drein. Als wir ins Zimmer waren, rollten ihr die Schimpfworte wie Erbsen von der Zunge,[91] endlich frug sie: »Wem hat Er die Visitenkarten abgegeben? He? Antwort! Er, der Er einen Bedienten machen will?!« Ehe ich antworten konnte, rief sie ihrem eintretenden Herrn Gemahl entgegen: »Kannst du denken, lieber Mann, die Frau von N.N. hat keine Visitenkarte bekommen und mich darüber zur Rede gestellt!« – »Beruhige dich nur, liebes Kind«, sagte Herr von Völker lachend, »die Visitenkarte ist richtig in ihrem Hause abgegeben worden, aber in die Hände des Schwertfegers geraten.« – »Wie! der Schwertfeger hat sie erhalten?« fiel sie ihm in die Rede, »wie kann Er einen Schwertfeger uns gleichstellen?« – »O still doch, mein Kind«, fuhr Herr von Völker fort, »der Fehler ist ja zu verzeihen, er wird nicht wieder vorfallen! nicht wahr, Christoph?« – »Ich werde mich wohl hüten«, sagt ich im Abgehen, »der Dummkopf und Esel wird schon aufpassen!«

Diese Replik hatte das Gute, daß die Gnädige mich nicht mehr mit Schimpfnamen belegte, sondern, wenn ich etwas auszurichten hatte, sich begnügte, mich zu warnen, ja nicht etwa zum Schwertfeger zu gehen.

Bald war man vollkommen mit meinem Dienste zufrieden, und ich stand mich sehr gut.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 88-92.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers