[142] Der Brautstand gestattet einen herzlichen Verkehr zwischen den Brautleuten. Der gute Ton findet es ganz in der Ordnung, wenn dieselben sich mit »Du« und den Vornamen anreden und auch gegen Begrüßungs- und Abschiedsküsse läßt sich nichts sagen. Dennoch finden wir es passender, wenn diese Zärtlichkeitsbeweise nur im trauten Familienkreise stattfinden, in Gegenwart Fremder aber durch einen Handkuß ersetzt werden. Außerdem kann ein sehr vorsichtiges Verfahren bei allen vertraulichen Anwandlungen nicht genug empfohlen werden. Man mache es sich zum Gesetze, seine Zärtlichkeit für gelegentliches Alleinsein aufzusparen, im Beisein anderer aber die Ausübung derselben auf das allergeringste Maß zurückzusüyren. Ein freundlicher Blick, ein Händedruck und ein Handkuß sind die wenigen von der guten Sitte erlaubten äußeren Formen der Übersetzung innerer Gefühle. Auch Koseworte und überschwengliche Redewendungen gehören nicht vor die Ohren anderer.
Überschreitet der Bräutigam ja einmal die durch Feingefühl und Sitte gezogenen Grenzen, so ist es Sache der Braut, ihn durch freundliche Bitte und liebevollen Hinweis an die nötige Zurückhaltung zu er innern.
Leider kommt es auch vor, daß die seine Grenze des Zartgefühls vonseiten junger Damen überschritten wird. Man vergesse doch nie, daß es dem Weibe besser ansteht, Huldigungen entgegenzunehmen, als darzubringen, und daß Sanftmut, Zurückhaltung und weise Mäßigung weiblicher und fesselnder sind, als heiße Hingabe und leidenschaftliche Glut.
Wenn wir sagten, daß Zärtlichkeiten für ein tête-à-têtê aufgehoben werden müssen, so ist das nicht ganz wörtlich zu nehmen. Die Augenblicke des Alleinseins eines Brautpaares werden gezählt sein; denn die gute Sitte will, daß möglich immer eine Anstandsperson gegenwärtig sei. Doch wird die Mutter oder irgend eine verständige Anverwandte gern ein Auge zudrücken und herzliche Worte, wie maßvolle Zärtlichkeiten erlauben.
Auch beim Ausgehen sei das Brautpaar nie allein, höchstens auf kurzen Spazier- oder Besorgungsgängen am Tage und in der Kirche. Im Theater, Konzerte, in der Gemäldesammlung, auf dem Balle, kurz an allen öffentlichen Orten aber ist eine Begleitung unerläßlich. Dasselbe gilt von den Besuchen, welche als Erwiderung mündlicher Glückwünsche zu machen sind, falls man sich dabei eines[142] Wagens bedient. Diese Visiten werden am besten mittags zwischen 1/212 und 1 gemacht. Die Braut ist dabei in eleganter Toilette, der Bräutigam im Frack und hellen Handschuhen. Nur den Ehepaaren stellen sich die jungen Leute gemeinschaftlich vor und älteren alleinstehenden Damen. Zu Junggesellen geht der Bräutigam allein und zwar im Oberrock und dunklen Handschuhen.
Es ist natürlich, daß zwei Liebende das Bedürfnis haben, ihre Gefühle durch Geschenke zu bethätigen, und der gute Ton hat durchaus nichts dagegen. Nur halte man darauf, die Gaben sinnig und poetisch zu wählen, praktisch kann man bei anderen Gelegenheiten sein. Der Bräutigam studiere den Geschmack seiner Braut und richte sich nach diesem. Schmucksachen, Kunstgegenstände, zierliche Nippes, Bilder, Noten sind Dinge, die ein reicher Mann so kostbar wie möglich schenkt, aber auch der weniger Begüterte wird unter ihnen Sachen finden, die seinen Gefühlen und seiner Börse entsprechen. Für arm und reich, hoch und niedrig gleich passend aber ist ein gutes Buch.
Die Braut richtet ihre Geschenke gern so ein, das sie Zeugnis geben von ihrer Handfertigkeit, ihrem Kunstsinn und Geschmacke. Stickereien, Malereien, Schnitzereien werden dem jungen Manne stets willkommen sein und reizend erscheinen, schon einzig deshalb, weil sie aus den Händen seines Mädchens hervorgegangen sind. Man denke aber nicht, daß es stets und durchaus eine Arbeit sein muß. Ein Medaillon mit dem Bilde der Braut, Bücher, Noten, Bilder, eine antike Münze mit einem hübschen Spruche für die Uhrkette u.a. können durch den guten Ton keineswegs beanstandet werden.
Bei dem vertrauten, ungezwungenen Umgange der Brautleute kann es beiden Teilen nicht genug anempfohlen werden, so achtsam wie möglich auf Worte und Handlungen zu sein, jeder bestrebe sich eifrig, den alten, bösen Menschen auszuziehen.
Aber nicht nur sich selbst, sondern auch den beiderseitigen Angehörigen sind die Verlobten jede denkbare Rücksicht schuldig. Der Bräutigam lasse keine Gelegenheit vorübergehen, sich seinen künftigen Schwiegereltern angenehm zu machen. Der Schwiegermutter schuldet er dieselben Rücksichten, welche seine Mutter von ihm zu erwarten hat, und der Schwiegervater tritt ganz in die Rechte seines Vaters ein. Auch mit den Geschwistern seiner Verlobten stelle er ein herzliches Freundschaftsverhältnis her.
Die Braut strebe eifrig danach, ihren künftigen Schwiegereltern zu gefallen und mache die Liebenswürdigkeit wett, welche ihrer Mutter vonseiten des Bräutigams entgegengebracht wird. Sie beweise der Dame ihre Hochachtung und ihr Vertrauen durch freundliches Eingehen[143] auf ihre Ratschläge und hüte sich vor einem eigensinnigen taktlosen Festhalten an der eigenen Meinung. Sie sei zuvorkommend und vergesse nicht, daß viele Mütter sehr eifersüchtig auf die Liebe ihres Sohnes sind, weshalb es unklug und herzlos wäre, sie daran zu erinnern, daß sie dieselbe nicht mehr ungeteilt besitzen. Die Schwiegermutter indes befleißige sich gütigen Wohlwollens und mütterlicher Zuneigung gegen die Braut ihres Sohnes.
Gegen den Schwiegervater sei das junge Mädchen unbefangen und herzlich, artig und entgegenkommend; gegen die Geschwister ihres Verlobten liebevoll und schwesterlich.
Sind die Brautleute nicht an demselben Orte, so ist eine Correspondenz vom Standpunkte guter Lebensart nicht nur erlaubt, sondern sogar bedingt. Doch mögen es sich die Brautleute angelegen sein lassen, ihr Schreiben so einzurichten, daß sie, falls es in fremde Hände fällt, nicht nötig haben zu erröten, sondern dies ganz dem taktlosen Neugierigen überlassen können.
Es liegt in der Natur der Sache, daß eine Braut mit echter Liebe im Herzen wenig Wohlgefallen an Vergnügungen finden wird, die sie ohne den Geliebten genießen muß. Darum will es auch der gute Ton, daß sie sich in Abwesenheit ihres Verlobten von dem gesellschaftlichen Treiben möglichst zurückzieht, und wo sie in dasselbe gerät, es nur mit großer Mäßigung genießt. Nie aber darf sie sich einfallen lassen, einen anderen Herrn zu bevorzugen oder seinen Huldigungen ein sichtliches Wohlgefallen entgegenzubringen.
Über die Dauer des Brautstandes lassen sich keine festen Regeln aufstellen, doch erscheint uns eine halbjährige Frist zwischen Verlobung und Hochzeit gerade angemessen. Überstürzung macht einen sonderbaren Eindruck und entspricht den Anforderungen seiner Sitte nicht, während ein unmotiviertes Hinziehen für alle Teile wenig erquickend ist.
Tritt ein Trauerfall in den Familien der Brautleute ein, so muß die Hochzeitsfeier selbstredend verschoben werden. Liegen jedoch Gründe vor, dieses nicht zu wünschen, so wird dieselbe ganz in der Stille vollzogen, in welchem Falle eine Haustrauung mit wenigen Zeugen, dem seinen Ton am besten entspricht.
Leider führen nicht alle Verlobungen zu dem gewünschten Ziele, und es giebt Dinge, welche die Auflösung eines Verlöbnisses notwendig machen. Dieses so geräuschlos als möglich zu bewerkstelligen ist von dem natürlichen Takte geboten, und aus Gründen guter Lebensart empfehlen wir, vor der Welt stets die Braut für die Zurücktretende gelten zu lassen. Wer in Wirklichkeit die Auflösung herbeigeführt hat, sendet zugleich alle während der Verlobungszeit[144] erhaltenen Geschenke zurück; der andere Teil ist zwar nach den Regeln des guten Tones nicht dazu verpflichtet, doch entspricht es dem Feingefühle besser, die Zeugen einer Zeit, welche nun ganz vergessen werden muß, dem Geber wieder zurückzustellen. Daß die gegenseitigen Briefe bis auf das kleinste Blättchen ausgewechselt werden, bedarf kaum der Erwähnung.
Um der zudringlichen Neugierde der lieben Nächsten zu entgehen, ist es für die Braut am angenehmsten, nach der fatalen Affaire eine Besuchsreise von längerer Dauer zu unternehmen; dem Bräutigam wird dies nicht immer möglich sein, weil er durch seinen Beruf gebunden ist.
Am besten verträgt es sich mit seiner Lebensart, wenn recht wenig oder gar nichts über den Fall gesprochen wird. Niemals aber dürfen es sich die ehemaligen Brautleute einfallen lassen, von einander Böses zu reden. Je seiner der ganze Zuschnitt ist, desto sicherer muß die schlimme Geschichte totgeschwiegen werden.
Buchempfehlung
Zwei weise Athener sind die Streitsucht in ihrer Stadt leid und wollen sich von einem Wiedehopf den Weg in die Emigration zu einem friedlichen Ort weisen lassen, doch keiner der Vorschläge findet ihr Gefallen. So entsteht die Idee eines Vogelstaates zwischen der Menschenwelt und dem Reich der Götter. Uraufgeführt während der Dionysien des Jahres 414 v. Chr. gelten »Die Vögel« aufgrund ihrer Geschlossenheit und der konsequenten Konzentration auf das Motiv der Suche nach einer besseren als dieser Welt als das kompositorisch herausragende Werk des attischen Komikers. »Eulen nach Athen tragen« und »Wolkenkuckucksheim« sind heute noch geläufige Redewendungen aus Aristophanes' Vögeln.
78 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro