1. Kapitel

[10] Gott und Unsterblichkeit


Die menschliche Seele ist in den Nerven des Körpers enthalten, über deren physikalische Natur ich als Laie nichts weiter aussagen kann, als daß sie Gebilde von außerordentlicher Feinheit – den feinsten Zwirnsfäden vergleichbar – sind, auf deren Erregbarkeit durch äußere Eindrücke das gesammte geistige Leben des Menschen beruht. Die Nerven werden dadurch in Schwingungen versetzt, die in nicht weiter zu erklärender Weise das Gefühl von Lust und Unlust erzeugen; sie besitzen die Fähigkeit, die Erinnerung an die empfangenen Eindrücke festzuhalten (das menschliche Gedächtniß) und zugleich die Kraft, durch Anspannung ihrer Willensenergie die Muskeln des Körpers, den sie bewohnen, zu irgend welchen beliebigen Thätigkeitsäußerungen zu veranlassen. Sie entwickeln sich von den zartesten Anfängen (als menschliche Leibesfrucht, als Kindesseele) zu einem weitschichtigen, die ausgedehntesten Gebiete des menschlichen Wissens umfassenden System (der Seele des gereiften Mannes). Ein Theil der Nerven ist blos zur Aufnahme sinnlicher Eindrücke geeignet (Gesichts-, Gehörs-, Tast-, Wollustnerven u.s.w.), die also nur der Licht-, Schall-, Wärme- und Kälteempfindung, des Hungergefühles, des Wollust- und Schmerzgefühles u.s.w. fähig sind; andere Nerven (die Verstandesnerven) empfangen und bewahren die geistigen Eindrücke und geben als Willensorgane dem ganzen Organismus des Menschen den Anstoß zu den Aeußerungen seiner auf die Außenwelt wirkenden Kraft. Dabei scheint das Verhältniß stattzufinden, daß jeder einzelne Verstandesnerv die gesammte geistige Individualität des Menschen repräsentirt, auf jedem einzelnen Verstandesnerv die Gesammtheit der Erinnerungen sozusagen eingeschrieben1 ist und die größere oder geringere Zahl der vorhandenen Verstandesnerven nur von[11] Einfluß ist auf die Zeitdauer, während deren diese Erinnerungen festgehalten werden können. Solange der Mensch lebt, ist derselbe Körper und Seele zugleich; die Nerven (die Seele des Menschen) werden von dem Körper, dessen Funktion mit denen der höheren Thiere im Wesentlichen übereinstimmen, ernährt und in lebendiger Bewegung erhalten. Verliert der Körper seine Lebenskraft, so tritt für die Nerven der Zustand der Bewußtlosigkeit ein, den wir Tod nennen und der schon im Schlaf vorgebildet ist. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die Seele wirklich erloschen sei; die empfangenen Eindrücke bleiben vielmehr an den Nerven haften; die Seele macht nur sozusagen einen Winterschlaf durch, wie manche niederen Thiere, und kann in der weiter unten zu berührenden Weise zu neuem Leben erweckt werden.

Gott ist von vornherein nur Nerv, nicht Körper, demnach etwas der menschliches Seele Verwandtes. Die Gottesnerven sind jedoch nicht, wie im menschlichen Körper nur in beschränkter Zahl vorhanden, sondern unendlich oder ewig. Sie besitzen die Eigenschaften, die den menschlichen Nerven innewohnen, in einer alle menschlichen Begriffe übersteigenden Potenz. Sie haben namentlich die Fähigkeit, sich umzusetzen in alle möglichen Dinge der erschaffenen Welt; in dieser Funktion heißen sie Strahlen; hierin liegt das Wesen des göttlichen Schaffens. Zwischen Gott und dem gestirnten Himmel besteht eine innige Beziehung. Ich wage nicht zu entscheiden, ob man geradezu sagen darf, daß Gott und die Sternenwelt eines und dasselbe ist, oder ob man sich die Gesammtheit der Gottesnerven als etwas noch über und hinter den Sternen Lagerndes und demnach die Sterne selbst und insbesondere unsere Sonne nur als Stationen vorzustellen hat, auf denen die schaffende Wundergewalt Gottes den Weg zu unserer Erde (und etwaigen anderen bewohnten Planeten) zurücklegt.2 Ebensowenig getraue ich mir zu sagen, ob auch die Weltkörper selbst (Fixsterne, Planeten u.s.w.) von Gott geschaffen worden sind, oder das göttliche Schaffen sich nur auf die organische Welt bezieht, und demnach neben der für mich unmittelbar gewiß gewordenen Existenz eines lebendigen Gottes doch auch noch Raum bliebe für die Nebularhypothese von Kant-Laplace. Die volle Wahrheit liegt vielleicht (nach Art der vierten Dimension) in einer für Menschen nicht faßbaren Diagonale beider Vorstellungsrichtungen. Jedenfalls ist die licht- und wärmespendende Kraft der Sonne, vermöge deren sie die Ursache alles organischen Lebens auf der Erde ist, nur als eine mittelbare Lebensäußerung Gottes anzusehen, weshalb denn auch die der Sonne von Alters her bei so vielen Völkern gezollte göttliche Verehrung zwar nicht die volle Wahrheit in sich schließt, aber doch einen hochbedeutsamen, von der Wahrheit selbst sich nicht allzuweit entfernenden Kern derselben enthält.

Die Lehren unserer Astronomie hinsichtlich der Bewegungen, der Entfernung und der physikalischen Beschaffenheit der Himmelskörper[12] u.s.w. mögen im Allgemeinen richtig sein. Allein, soviel ist mir auf Grund meiner inneren Erfahrungen unzweifelhaft, daß auch unsere Astronomie hinsichtlich der licht- und wärmespendenden Kraft der Gestirne und namentlich unserer Sonne die volle Wahrheit noch nicht erfaßt hat, sondern daß man dieselbe mittelbar oder unmittelbar nur als den der Erde zugewendeten Theil der schaffenden Wundergewalt Gottes aufzufassen hat. Als Beleg für diese Behauptung führe ich vorläufig nur die Thatsache an, daß die Sonne seit Jahren in menschlichen Worten mit mir spricht und sich damit als belebtes Wesen oder als Organ eines noch hinter ihr stehenden höheren Wesens zu erkennen giebt. Gott macht auch das Wetter; dies geschieht in Folge der stärkeren oder geringeren Wärmeausstrahlung der Sonne in der Regel sozusagen von selbst, kann aber in besonderen Fällen von Gott nach eigens damit verfolgten Zwecken in bestimmte Richtungen gelenkt werden. Ich habe z.B. ziemlich sichere Andeutungen darüber erhalten, daß der harte Winter des Jahres 1870–71 eine von Gott beschlossene Sache war, um bei gewissen Anlässen das Kriegsglück auf Seiten der Deutschen zu wenden, und auch das stolze Wort von der Vernichtung der spanischen Armada Philipps II. im Jahre 1588 »Deus afflavit et dissipati sunt« (Gott fachte den Wind an und sie verschwanden) enthält höchst wahrscheinlich eine geschichtliche Wahrheit. Dabei nenne ich die Sonne nur als das der Erde zunächstgelegene Werkzeug der Aeußerung der göttlichen Willensmacht; in Wirklichkeit kommt für die Gestaltung der Wetterlage auch die Gesammtheit der übrigen Gestirne in Betracht. Insbesondere entsteht Wind oder Sturm dadurch, daß sich Gott in größere Entfernung von der Erde zurückzieht; unter den jetzt eingetretenen weltordnungswidrigen Umständen hat sich das Verhältniß, um dies gleich im Voraus zu er wähnen, dahin verschoben, daß das Wetter in gewissem Maaße von meinem Thun und Denken abhängig ist; sobald ich mich dem Nichtsdenken hingebe, oder, was dasselbe besagt, mit einer von der Thätigkeit des menschlichen Geistes zeugenden Beschäftigung, z.B. im Garten mit Schachspielen aufhöre, erhebt sich sofort der Wind. Wer an dieser allerdings geradezu abenteuerlich klingenden Behauptung zweifeln wollte, dem kann ich fast täglich Gelegenheit geben, sich von ihrer Richtigkeit zu überzeugen, ebenso wie ich dies in neuerer Zeit schon wiederholt verschiedenen Personen (dem Geh. Rath, meiner Frau, meiner Schwester u.s.w.) gegenüber mit dem sogen. Brüllen gethan habe. Der Grund liegt eben darin, daß sich Gott, sobald ich mich dem Nichtsdenken hingebe, von mir als einer vermeintlich blödsinnigen Person zurückziehen zu können glaubt.

Vermöge des von der Sonne und den übrigen Gestirnen ausgehenden Lichtes hat Gott die Fähigkeit, Alles was auf der Erde (und etwaigen anderen bewohnten Planeten) vorgeht, wahrzunehmen, der Mensch würde sagen: zu sehen; insofern kann man bildlich von der Sonne und dem Sternenlichte als dem Auge Gottes reden. Er hat Freude an Allem, was er sieht, als Erzeugnissen seiner Schöpferkraft, ähnlich wie der Mensch sich über seiner Hände Arbeit oder über das von seinem Geist[13] Geschaffene freut. Dabei war jedoch – bis zu der weiter unten zu erwähnenden Krisis – das Verhältniß so, daß Gott die von ihm geschaffene Welt und die darauf befindlichen organischen Wesen (Pflanzen, Thiere, Menschen) im Allgemeinen sich selbst überließ und nur durch Fortdauer der Sonnenwärme für die Möglichkeit ihrer Erhaltung, Fortpflanzung u.s.w. sorgte. Ein unmittelbares Eingreifen Gottes in die Geschicke der einzelnen Menschen und Völker fand – ich bezeichne diesen Zustand als den weltordnungsmäßigen Zustand – in der Regel nicht statt. Ausnahmsweise konnte dies wohl ab und zu der Fall sein; allzuhäufig konnte und durfte es aber nicht geschehen, weil die damit verbundene Annäherung Gottes an die lebende Menschheit – aus weiter unten zu entwickelnden Gründen – für Gott selbst mit gewissen Gefahren verbunden gewesen wäre. So konnte etwa ein besonders inbrünstiges Gebet Gott vielleicht die Veranlassung geben, im einzelnen Falle mit einem Wunder helfend einzugreifen3 oder das Geschick ganzer Völker (im Kriege u.s.w.) durch Wunder in bestimmte Richtungen zu lenken. Er konnte sich auch mit einzelnen hochbegabten Menschen (Dichtern u.s.w.) in Verbindung setzen (»Nervenanhang bei demselben nehmen«, wie die mit mir sprechenden Stimmen diesen Vorgang bezeichnen), um diese mit irgend welchen befruchtenden Gedanken und Vorstellungen über das Jenseits (namentlich im Traume) zu begnadigen. Allein zur Regel durfte ein solcher »Nervenanhang«, wie gesagt, nicht werden, weil vermöge eines nicht weiter aufzuklärenden Zusammenhanges die Nerven lebender Menschen namentlich im Zustande einer hochgradigen Erregung eine derartige Anziehungskraft auf die Gottesnerven besitzen, daß Gott nicht wieder von ihnen hätte loskommen können, also in seiner eigenen Existenz bedroht gewesen wäre.4

Ein regelmäßiger Verkehr Gottes mit Menschenseelen fand nach der Weltordnung erst nach dem Tode statt. Den Leichen konnte sich Gott ohne Gefahr nähern, um ihre Nerven, in denen das Selbstbewußtsein nicht erloschen war, sondern nur ruhte, vermittelst der Strahlenkraft aus dem Körper heraus- und zu sich heraufzuziehen und sie damit zu neuem himmlichschen Leben zu erwecken; das Selbstbewußtsein kehrte mit der[14] Strahleneinwirkung zurück. Das neue jenseitige Leben ist die Seligkeit, zu der die Menschenseele erhoben werden konnte. Allerdings konnte dies nicht ohne vorgängige Läuterung und Sichtung der Menschennerven geschehen, die je nach der verschiedenen Beschaffenheit der Menschenseelen kürzerer oder längerer Zeit und nach Befinden noch gewisser Mittelstufen als Vorbereitung bedurfte. Für Gott – oder wenn man diesen Ausdruck vorzieht, im Himmel – waren nur reine Menschennerven zu gebrauchen, weil es ihre Bestimmung war, Gott selbst angegliedert zu werden und schließlich als »Vorhöfe des Himmels«5 gewissermaßen Bestandtheile Gottes selbst zu werden. Nerven sittlich verkommener Menschen sind geschwärzt; sittlich reine Menschen haben weiße Nerven; je höher ein Mensch sittlich in seinem Leben gestanden hat, desto mehr wird die Beschaffenheit seiner Nerven der vollkommenen Weiße oder Reinheit sich nähern, die den Gottesnerven von vornherein eigen ist. Bei sittlich ganz tiefstehenden Menschen ist vielleicht ein großer Theil der Nerven überhaupt nicht brauchbar; danach bestimmen sich die verschiedenen Grade der Seligkeit, zu der ein Mensch aufsteigen kann und wahrscheinlich auch die Zeitdauer, während deren ein Selbstbewußtsein im jenseitigen Leben sich aufrecht erhalten läßt. Ganz ohne vorgängige Läuterung der Nerven wird es kaum jemals abgehen, da schwerlich ein Mensch zu finden sein wird, der ganz von Sünde frei wäre, dessen Nerven nicht also irgend einmal in seinem vergangenen Leben durch unsittliches Verhalten verunreinigt worden wären. Eine ganz genaue Beschreibung des Läuterungsvorgangs zu liefern, ist auch für mich nicht möglich; immerhin habe ich verschiedene werthvolle Andeutungen darüber erhalten. Es scheint, daß das Läuterungsverfahren mit irgend einer für die Seelen das Gefühl der Unlust erzeugenden Arbeitsleistung6 oder einem mit Unbehagen verknüpften vielleicht unterirdischen Aufenthalt verbunden war, dessen es bedurfte, um sie nach und nach der Reinigung zuzuführen.

Wer hierauf den Ausdruck »Strafe« anwenden will, mag ja in gewissem Sinne Recht haben; nur ist im Unterschied von dem menschlichen Strafbegriff daran festzuhalten, daß der Zweck nicht in der Zufügung eines Uebels, sondern nur in der Beschaffung einer nothwendigen Vorbedingung für die Reinigung bestand. Hiermit erklären sich, müssen aber zum Theil auch berichtigt werden, die den meisten Religionen geläufigen Vorstellungen von Hölle, Fegefeuer u.s.w. Die zu reinigenden Seelen[15] lernten während der Reinigung die von Gott selbst gesprochene Sprache, die sog. »Grundsprache«, ein etwas alterthümliches, aber immerhin kraftvolles Deutsch, das sich namentlich durch einen großen Reichthum an Euphemismen auszeichnete (so z.B. Lohn in der gerade umgekehrten Bedeutung für Strafe, Gift für Speise, Saft für Gift, unheilig für heilig u.s.w. Gott selbst hieß »rücksichtlich dessen, der ist und sein wird« – Umschreibung der Ewigkeit – und wurde mit »Ew. Majestät treugehorsamer« angeredet.) – Die Läuterung wurde als »Prüfung« bezeichnet; Seelen, die das Läuterungsverfahren noch nicht durchgemacht hatten, hießen nicht, wie man erwarten sollte, »ungeprüfte Seelen«, sondern gerade umgekehrt, jener Neigung zum Euphemismus entsprechend »geprüfte Seelen«. Die noch in der Läuterung begriffenen Seelen wurden in verschiedenen Abstufungen »Satane«, »Teufel«, »Hülfsteufel«, »Oberteufel« und »Grundteufel« genannt; namentlich der letztere Ausdruck scheint auf einen unterirdischen Aufenthalt hinzuweisen. Die »Teufel« u.s.w. hatten, wenn sie als flüchtig hingemachte Männer gesetzt wurden, eine eigenthümliche Farbe (etwa das Möhrenroth) und einen eigenthümlichen widerwärtigen Geruch, wie ich selbst in einer ganzen Anzahl von Fällen in der sog. Pierson'schen Anstalt in Coswig (mir als Teufelsküche bezeichnet) erlebt habe. Ich habe z.B. den Herrn v.W. und einen Herrn von O., den wir im Ostseebad Warnemünde kennen gelernt hatten, als Teufel mit eigenthümlich rothem Gesicht und rothen Händen und den Geh. Rath W. als Oberteufel gesehen.

Von Judas Ischarioth habe ich vernommen, daß er wegen seines Verraths an Jesus Christus Grundteufel gewesen sei. Man darf sich aber diese Teufel nicht etwa, den christlichen Religionsbegriffen entsprechend, als Gott feindliche Mächte vorstellen, im Gegentheil waren dieselben fast durchgängig bereits sehr gottesfürchtig und unterlagen eben nur noch dem Reinigungsverfahren. Der oben aufgestellte Satz, daß Gott sich der deutschen Sprache in der Form der sog. »Grundsprache« bedient habe, darf natürlich nicht dahin verstanden werden, als ob die Seeligkeit nur für die Deutschen bestimmt gewesen sei. Immerhin waren die Deutschen in neuerer Zeit (wahrscheinlich seit der Reformation, vielleicht aber auch schon seit der Völkerwanderung) das auserwählte Volk Gottes, dessen Sprache sich Gott vorzugsweise bediente. Das auserwählte Volk Gottes in diesem Sinne sind nacheinander im Laufe der Geschichte – als die jeweilig sittlich tüchtigsten Völker – die alten Juden, die alten Perser (diese in ganz besonders hervorragendem Maße, worüber weiter unten das Nähere), die »Graeco-Romanen« (vielleicht in der Zeit des Römisch-Griechischen Alterthums, möglicher Weise aber auch als »Franken« zur Zeit der Kreuzzüge) und zuletzt eben die Deutschen gewesen. Verständlich waren für Gott im Wege des Nervenanhangs ohne Weiteres die Sprachen aller Völker.7[16]

Den Zwecken der Läuterung unreiner Menschenseelen scheint auch die Seelenwanderung gedient zu haben, die, wie ich nach verschiedenen Erlebnissen anzunehmen Grund habe, in ausgedehntem Maaße stattgefunden hat. Die betreffenden Menschenseelen wurden dabei auf anderen Weltkörpern, vielleicht mit einer dunklen Erinnerung an ihre frühere Existenz, zu einem neuen menschlichen Leben berufen, äußerlich vermuthlich im Wege der Geburt, wie es sonst bei Menschen der Fall ist. Bestimmtere Behauptungen wage ich darüber nicht aufzustellen, namentlich auch darüber nicht, ob die Seelenwanderung nur dem Zwecke der Läuterung oder auch noch anderen Zwecken (Bevölkerung anderer Planeten?) gedient hat. Von den zu mir sprechenden Stimmen genannt oder sonst auf andere Weise bekannt geworden sind mir einige Fälle, wo die Betreffenden in dem späteren Leben eine wesentlich niedrigere Lebensstellung als in den früheren eingenommen haben sollen, worin vielleicht eine Art Bestrafung gelegen haben mag.

Ein besonders bemerkenswerther Fall war der des Herrn v.W., dessen Seele eine Zeit lang ebenso, wie noch jetzt die Flechsig'sche Seele, einen sehr tiefgreifenden Einfluß auf meine Beziehungen zu Gott und demnach meiner persönlichen Schicksale ausgeübt hat.8 Von W. bekleidete zu der Zeit, als ich in der Pierson'schen Anstalt (der »Teufelsküche«) war, in dieser Anstalt die Stelle eines Oberwärters, nach meiner damaligen Auffassung – die ich mir auch jetzt noch nicht zu widerlegen vermag – nicht als wirklicher Mensch, sondern als »flüchtig hingemachter Mann« d.h. als eine durch göttliches Wunder vorübergehend in Menschengestalt gesetzte Seele. In der Zwischenzeit sollte er im Wege der Seelenwanderung als »Versicherungsagent Marx« schon ein zweites Leben auf irgend einem anderen Weltkörper geführt haben.

Die durch den Läuterungsprozeß vollkommen gereinigten Seelen stiegen zum Himmel empor und gelangten dadurch zur Seligkeit. Die Seligkeit bestand in einem Zustande ununterbrochenen Genießens, verbunden mit der Anschauung Gottes. Für den Menschen würde die Vorstellung eines ewigen Nichtsthuns etwas Unerträgliches bedeuten, da der[17] Mensch nun einmal an die Arbeit gewöhnt ist und für ihn, wie das Sprichwort besagt, erst die Arbeit das Leben süß macht. Allein man darf nicht vergessen, daß die Seelen etwas Anderes sind, als der Mensch, und daß es daher unzulässig sein würde, an die Empfindungen der Seelen den menschlichen Maaßstab anzulegen.9 Für die Seelen bedeutet eben das fortwährende Schwelgen im Genusse und zugleich in den Erinnerungen an ihre menschliche Vergangenheit das höchste Glück. Dabei waren sie in der Lage, im Verkehre unter einander ihre Erinnerungen auszutauschen und vermittelst göttlicher – sozusagen zu diesem Zwecke geborgter – Strahlen von dem Zustande derjenigen noch auf der Erde lebenden Menschen, für die sie sich interessiren, ihrer Angehörigen, Freunde usw. Kenntniß zu nehmen, und wahrscheinlich auch nach deren Tode bei dem Heraufziehen derselben zur Seligkeit mitzuwirken. Zurückzuweisen ist die Vorstellung, als ob etwa das eigene Glück der Seelen durch die Wahrnehmung, daß ihre noch auf der Erde lebenden Angehörigen in unglücklicher Lage sich befanden, hätte getrübt werden können. Denn die Seelen besaßen zwar die Fähigkeit, die Erinnerung an ihre eigene menschliche Vergangenheit zu bewahren, nicht aber neue Eindrücke, die sie als Seelen empfingen, auf eine irgend in Betracht kommende Zeitdauer zu behalten. Dies ist die natürliche Vergeßlichkeit der Seelen, welche neue, ungünstige Eindrücke alsbald bei ihnen verwischt haben würde. Innerhalb der Seligkeit gab es Gradabstufungen je nach der nachhaltigen Kraft, die die betreffenden Nerven in ihrem Menschenleben erlangt hatten und wahrscheinlich auch nach der Zahl der Nerven, die zur Aufnahme in den Himmel für würdig befunden worden waren.

Die männliche Seligkeit stand höher als die weibliche Seligkeit, welche letztere vorzugsweise in einem ununterbrochenen Wollustgefühle bestanden zu haben scheint. Es würde ferner etwa die Seele eines Goethe, eines Bismarck u.s.w. ihr Selbstbewußtsein (Identitätsbewußtsein) vielleicht auf Jahrhunderte hinaus behauptet haben, während dies bei der Seele eines früh verstorbenen Kindes vielleicht nur auf soviel Jahre der Fall sein mochte, als die Lebensdauer im menschlichen Leben umfaßt hatte. Eine ewige Fortdauer des Bewußtseins, der oder jener Mensch gewesen zu sein, war keiner Menschenseele beschieden. Vielmehr war es die Bestimmung aller Seelen schließlich, verschmolzen mit anderen Seelen, in höheren Einheiten aufzugehen und sich damit nur noch als Bestandtheile Gottes (»Vorhöfe des Himmels«) zu fühlen. Dies bedeutete also nicht einen eigentlichen Untergang – insofern war der Seele eine ewige Fortdauer beschieden – sondern nur ein Fortleben mit anderem Bewußtsein. Nur eine beschränkte Betrachtungsweise könnte darin eine[18] Unvollkommenheit der Seligkeit – gegenüber der persönlichen Unsterblichkeit im Sinne etwa der christlichen Religionsvorstellungen – finden wollen. Denn welches Interesse hätte es für eine Seele haben sollen, des Namens, den sie einst unter Menschen geführt hatte, und ihrer damaligen persönlichen Beziehungen sich noch zu erinnern, wenn nicht nur ihre Kinder und Kindeskinder längst ebenfalls zur ewigen Ruhe eingegangen, sondern auch zahlreiche andere Generationen ins Grab gestiegen waren und vielleicht selbst die Nation, der sie einstmals angehört hatten, aus der Reihe der lebenden Völker gestrichen war. In dieser Weise habe ich – noch in der Zeit meines Aufenthalts in der Flechsig'schen Anstalt – die Bekanntschaft mit Strahlen gemacht, die mir als Strahlen – d.h. zu höheren Einheiten erhobene Complexe seliger Menschenseelen – des alten Judenthums (»Jehovastrahlen«), des alten Perserthums (»Zoroasterstrahlen«) und des alten Germanenthums (»Thor- und Odinstrahlen«) bezeichnet wurden und unter denen sich sicher keine einzige Seele mehr befand, welche ein Bewußtsein davon gehabt hätte, unter welchem Namen sie vor Tausenden von Jahren dem einen oder anderen dieser Völker angehört habe.10

Ueber den »Vorhöfen des Himmels« schwebte Gott selbst, dem im Gegensatz zu diesen »vorderen Gottesreichen« auch die Bezeichnung der »hinteren Gottesreiche« gegeben wurde. Die hinteren Gottesreiche unterlagen (und unterliegen noch jetzt) einer eigenthümlichen Zweitheilung, nach der ein niederer Gott (Ariman) und ein oberer Gott (Ormuzd) unterschieden wurde. Ueber die nähere Bedeutung dieser Zweitheilung vermag ich weiter Nichts auszusagen,11 als daß sich der niedere Gott (Ariman) vorzugsweise zu den Völkern ursprünglich brünetter Race (den Semiten) und der obere Gott vorzugsweise zu den Völkern ursprünglich blonder Race (den arischen Völkern) hingezogen gefühlt zu haben scheint. Bedeutsam ist, daß eine Ahnung dieser Zweitheilung sich in den religiösen Vorstellungen vieler Völker vorfindet. Der Balder der Germanen, der Bielebog (weißer Gott) oder Swantewit der Slawen, der Poseidon der Griechen und der Neptun der Römer ist mit Ormuzd, der Wodan (Odin) der Germanen, der Czernebog (schwarzer Gott) der Slawen, der Zeus der Griechen und der Jupiter der Römer ist mit Ariman identisch. Unter dem Namen »Ariman« und »Ormuzd« wurden mir der niedere und der obere Gott zuerst Anfang Juli 1894 (etwa am Schlusse der ersten Woche meines Aufenthalts in der hiesigen Anstalt) von den mit mir redenden Stimmen genannt; seitdem höre ich diese Namen tagtäglich.12[19] Der angegebene Zeitpunkt fällt zusammen mit der Aufzehrung der vorderen Gottesreiche, mit denen ich vorher (seit etwa Mitte März 1894) in Verbindung gestanden hatte.

Das in dem Vorstehenden entwickelte Bild von der Natur Gottes und der Fortdauer der menschlichen Seele nach dem Tode weicht in manchen Beziehungen nicht unerheblich von den christlichen Religionsvorstellungen über diese Gegenstände ab. Gleichwohl scheint mir ein Vergleich zwischen beiden nur zu Gunsten des ersteren ausfallen zu können. Eine Allwissenheit und Allgegenwart Gottes in dem Sinne, daß Gott beständig in das Innere jedes einzelnen lebenden Menschen hereinsah, jede Gefühlsregung seiner Nerven wahrnahm, also in jedem gegebenen Zeitpunkte »Herz und Nieren prüfte«, gab es allerdings nicht. Allein dessen bedurfte es auch nicht, weil nach dem Tode die Nerven der Menschen mit allen Eindrücken, die sie während des Lebens empfangen hatten, offen vor Gottes Auge dalagen und danach das Urtheil über ihre Würdigkeit zur Aufnahme in das Himmelreich mit unfehlbarer Gerechtigkeit erfolgen konnte. Im Uebrigen genügte die Möglichkeit, sobald irgend ein Anlaß dazu gegeben schien, sich im Wege des Nervenanhangs Kenntniß von dem Innern eines Menschen zu verschaffen. Auf der anderen Seite fehlt dem von mir entworfenen Bilde jeder Zug von Härte oder zweckloser Grausamkeit, der manchen Vorstellungen der christlichen Religion und in noch höherem Grade denjenigen anderer Religionen aufgeprägt ist. Das Ganze der Weltordnung erscheint danach als ein »wundervoller Aufbau«,13 gegen dessen Erhabenheit alle Vorstellungen, welche sich Menschen und Völker im Laufe der Geschichte über ihre Beziehungen zu Gott gebildet haben, nach meinem Urtheil weit zurücktreten.

1

Ist diese Annahme richtig, so löst sich damit zugleich das Problem von der Vererbung und Variabilität, d.h. der Thatsache, daß Kinder ihren Eltern und Voreltern in gewissen Beziehungen gleichen und in gewissen anderen Beziehungen von ihnen abweichen. Der männliche Samen enthält einen Nerv des Vaters und vereinigt sich mit einem aus dem Leib der Mutter entnommenen Nerven zu einer neu entstehenden Einheit. Diese neue Einheit – das spätere Kind – bringt also den Vater und die Mutter, nach Befinden vorwiegend den ersteren oder die letztere, von Neuem zur Erscheinung, empfängt dann ihrerseits während ihres Lebens neue Eindrücke und überträgt die auf diese Weise neu erworbene Eigenart wiederum auf ihre Nachkommen. Die Vorstellung von einem die geistige Einheit des Menschen darstellenden besonderen Bestimmungsnerven, wie sie meines Wissens dem gleichnamigen du Prel'schen Werke zu Grunde liegt, dürfte demnach in Nichts zerfallen.

2

Von alle Dem haben auch unsere Dichter eine Ahnung »Droben überm Sternenzelt muß ein guter Vater wohnen« u.s.w.

3

Daß Gott z.B. in der Lage ist, jeden Krankheitskeim im menschlichen Körper durch Entsendung einiger reiner Strahlen zu beseitigen, habe ich an meinem eigenen Körper in unzähligen Fällen erlebt und erlebe dies auch jetzt noch alltäglich von Neuem.

4

(Zusatz vom November 1902). Die Vorstellung einer auf so ungeheure Entfernungen wirkenden, von einzelnen menschlichen Körpern oder – in meinem Falle – von einem einzigen menschlichen Körper ausgehenden Anziehungskraft, müßte, an und für sich betrachtet, d.h. wenn man dabei nach Art der uns sonst bekannten Naturkräfte an ein blos mechanisch wirkendes Agens denken wollte, geradezu absurd erscheinen. Gleichwohl ist das Wirken der Anziehungskraft als Thatsache für mich vollkommen unzweifelhaft. Einigermaßen begreiflich und dem menschlichen Verständnis näher gerückt wird vielleicht die Erscheinung, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Strahlen belebte Wesen sind und daß es sich daher bei der Anziehungskraft nicht um eine rein mechanisch wirkende Kraft, sondern um etwas den psychologischen Triebfedern Aehnliches handelt: »Anziehend« ist eben auch für Strahlen Dasjenige, was interessiert. Das Verhältniß scheint also ähnlich zu liegen, wie dasjenige, von dem Goethe in seinem »Fischer« singt: »Halb zog sie ihn, halb sank er hin.«

5

Der Ausdruck »Vorhöfe des Himmels« ist nicht von mir erfunden, sondern giebt, wie alle anderen Ausdrücke, die in diesem Aufsatz mit Anführungsstrichen versehen sind (so z.B. oben »flüchtig hingemachte Männer«, »Traumleben« u.s.w.) nur die Bezeichnung wieder, unter welcher jedesmal die mit mir redenden Stimmen den betreffenden Vorgang mir mitgeteilt haben. Es sind Ausdrücke, auf die ich nie von selbst gekommen sein würde, die ich nie von Menschen gehört habe, zum Theil auch wissenschaftlicher, inbesondere medizinischer Natur, von denen ich nicht einmal weiß, ob sie der betreffenden menschlichen Wissenschaft geläufig sind. In einzelnen besonders bezeichneten Fällen werde ich auf dieses merkwürdige Verhältniß noch weiter aufmerksam machen.

6

Im Betreff der Flechsigschen Seele war z.B. einmal von einem »Kärrnerdienste« die Rede, den dieselbe habe leisten müssen.

7

In ähnlicher Weise verstehen jetzt alle Seelen, die mit mir im Nervenanhang stehen, eben weil sie an meinen Gedanken theilnehmen, alle mir verständlichen Sprachen, verstehen z.B. Griechisch, wenn ich ein griechisches Buch lese u.s.w.

8

Daß ich hier, wie bereits oben in Anmerkung 1, Namen von Menschen nenne, die jetzt noch unter den Lebenden sind und gleichwohl von einer Seelenwanderung rede, die sie durchgemacht haben sollen, er scheint auf den ersten Anblick natürlich als ein vollkommener Widerspruch. In der That liegt hierbei ein Räthsel vor, das auch ich nur unvollkommen zu lösen vermag, und das nach rein menschlichen Begriffen überhaupt nicht zu lösen sein würde. Gleichwohl sind die betreffenden Thatsachen in mehreren Fällen, namentlich, was die von W.'sche Seele und die Flechsig'sche Seele betrifft, für mich ganz unzweifelhaft, da ich die unmittelbaren Einwirkungen dieser Seelen auf meinen Körper Jahre lang verspürt habe und, was die Flechsig'sche Seele oder möglicherweise einen Flechsig'schen Seelentheil betrifft, noch jetzt täglich und stündlich verspüre. Eine annähernde Erklärung des Zusammenhanges werde ich weiter unten, wenn ich auf die sog. Menschenspielerei zu reden komme, zu geben versuchen. Vorläufig genüge der Hinweis auf die Möglichkeit einer Seelentheilung, welche es denkbar erscheinen lassen würde, daß gewisse Verstandesnerven eines noch lebenden Menschen (die doch nach dem oben Bemerkten das volle Identitätsbewußtsein des Menschen wenn auch vielleicht auf kürzere Zeit bewahren würden) außerhalb seines Körpers irgend eine andere Rolle spielen.

9

Gleich als ob er eine Ahnung von diesem Verhältnisse gehabt habe, läßt z.B. Richard Wagner seinen Tannhäuser im höchsten Genuß der Liebeswonne sagen: »Doch sterblich, ach, bin ich geblieben und übergroß ist mir dein Lieben, wenn stets ein Gott genießen kann, bin ich dem Wechsel unterthan«, wie denn überhaupt vielfach bei unseren Dichtern gleichsam prophetische Blicke sich finden, die mich in der Annahme bestärken, daß ihnen göttliche Eingebungen im Wege des Nervenanhangs (namentlich im Traume) zu Theil geworden seien.

10

Die obige Darstellung in Betreff der »Vorhöfe des Himmels« giebt zugleich vielleicht eine Ahnung in Betreff des ewigen Kreislaufs der Dinge, der der Weltordnung zu Grunde liegt. Indem Gott etwas schafft, entäußert er sich in gewissem Sinne eines Theiles seiner selbst oder giebt einem Theile seiner Nerven eine veränderte Gestalt. Der scheinbar hierdurch entstehende Verlust wird aber wiederum ersetzt, wenn nach Jahrhunderten und Jahrtausenden die selig gewordenen Nerven verstorbener Menschen, denen während ihres Erdenlebens die übrigen erschaffenen Dinge zur körperlichen Erhaltung gedient haben, als »Vorhöfe des Himmels« ihm wieder zuwachsen.

11

Abgesehen von dem weiter unten in Betreff der »Entmannung« zu Bemerkenden.

12

Daß für die Bezeichnung des niederen und oberen Gottes die Namen der betreffenden persischen Gottheiten festgehalten worden sind, ist für mich ein Hauptgrund zu der Annahme, daß die alten Perser (natürlich vor ihrem späteren Verfall) in ganz besonders hervorragendem Sinne das »auserwählte Volk Gottes«, m.a.W. ein Volk von ganz besonderer sittlicher Tüchtigkeit gewesen sein müssen. Diese Annahme wird unterstützt durch die ungewöhnliche Vollkräftigkeit der Strahlen, die ich s.Z. an den »Zoroasterstrahlen« wahrgenommen habe. Der Name Ariman kommt übrigem auch z.B. in Lord Byrons Manfred im Zusammenhang mit einem Seelenmord vor.

13

Wiederum ein nicht von mir erfundener Ausdruck. Ich hatte – natürlich in der weiter unten zu erwähnenden Gedanken- oder Nervensprache – von wundervoller Organisation gesprochen, worauf mir dann der Ausdruck »wundervoller Aufbau« von außen eingegeben wurde.

Quelle:
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden 1973, S. 10-20.
Lizenz:
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Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken: nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage:
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
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