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[218] Gegen Ostern erfährt Karl von seinem Friseur, daß über seine Mamsell Schwester eine ganz infame Kritik heraus sein soll, von der die ganze Stadt voll wäre. Kummerfeld verschafft ihr eine Abschrift davon.
Woraus es, abgeschrieben, hieß: Auszug aus den Freien Nachrichten aus dem Reiche der Wissenschaften und der schönen Künste. Hamburg, den 21. Februar 1766. Schiebeler hatte die Ode, die er auf mich gemacht, in eine Monatsschrift einrücken lassen. Darüber machte sich denn ein hämischer Schuft her und sprach mir auch den kleinsten Wert darinnen ab, den ich als Schauspielerin verdiente. Machte also, wo nicht in Worten, doch in Ansehung der hämischen Art, womit er mich beurteilte, alle die, die mir doch manche Gerechtigkeit widerfahren ließen, zu Eselsköpfen und mich herunter, wo man gegen ein Mädchen, die noch kein Jahr auf dem Theater ist, mehr Nachsicht und mehr Aufmunterung, ja, mehr Lob gibt, als mir in dem Wisch, mir, die wahrlich Ackermann so lange Jahre sehr gestützt hatte. Kurz, nicht einen Heller Wert Ehre in Ansehung alles meines Fleißes, Arbeit und Mühe! Bringt hinterher die elende Entschuldigung, solch ein übertrieben Lob würde mich stolz machen, sagt, daß es mein Glück wäre, daß ich anfinge, mich nach Ekhof, vermöge seines Unterrichts, zu bilden. Als wenn ich ohne Ekhof die unwissendste Dirne wäre, die je das Theater betreten hätte.
Eine Erwiderung, die sie gegen den unbekannt bleibenden Verfasser schreibt, muß die Zensur des Syndikus Schubach passieren.
Er ließ mir das Kompliment darüber machen, daß es gut, pünktlich und richtig beantwortet wäre. Doch ließ er mir zugleich mit sagen, daß jeder, der mich kennt, eines weit besseren von mir überzeugt wäre, als was ein schlechter Kerl mehr aus einem Privathaß gegen mich geschrieben, um mich zu kränken, als daß es eine Kritik sei, wie eine Kritik sein müsse. Er wolle es einrücken lassen, aber der Kerl würde wieder antworten und auf die letzt würde es ein Federkrieg, bei dem der Rechtschaffene sich doch immer ärgere. Ich sollte also, wenn seine Bitte bei mir etwas vermöge, es nicht einrücken lassen. Zehn solcher Pasquillanten würden nicht imstande[219] sein, die Liebe und Achtung zu unterdrücken, die ich mir von Freunden und Kennern des Theaters erworben. Was sollte ich tun? Ich gab nach. Oh, wie oft hat es mich nach der Zeit gereut! Nur den Verfasser unter meine Augen zu bekommen, der Wunsch blieb.
Meine im Grunde zur Munterkeit geneigte Gemütsart kam auch wieder, und ich vergaß den Verdruß, den ich von neuem gehabt. Nun, um etwas mehr bequemer zu wohnen und näher bei dem Theater zu sein, zog ich aus meiner Wohnung. Die Gegenstände, die mich zu sehr an meinen Verlust erinnerten, und meine Gesundheit, die dadurch litt, kurz, das alles bewegte mich. Ich zog auf den Gänsemarkt und war da viel besser logiert.
Die Aufgabe der Nachbarschaft mit Kummerfeld stört das gute Einvernehmen nicht. Mit ihm, Steinfeld und dem Ehepaar Herzog haben Karoline und ihr Bruder einen festen Zirkel. Viel Aufregung aber bringt ein gemeinsamer Ausflug nach Zollenspieker mit sich. Karoline war schon durch einen Traum gewarnt worden. Sie sah sich in einem rotseidenen Negligé, das mit Brabanter Spitzen besetzt war, wie sie es nie in Wirklichkeit besessen, mit einer Hoffart, deren sie sich nachher schämte, liegen und prahlen. Plötzlich rief sie ein Lärm ans Fenster: ein Kind ist in den Ziehbrunnen gefallen. Sie stürzt hinunter, vermag es aber nicht zu retten. Frau Ackermann, der sie am andern Tag davon erzählt, ist auch gegen die Fahrt. Diese findet aber doch statt. Das »Schulzel« ist unterwegs still, blaß und zum Weinen geneigt. Ihre Warnung, das mitgebrachte Feuerwerk nicht abzubrennen, wird verlacht. Als abends die Raketen steigen, hört sie plötzlich das markerschütternde Schreien ihres Bruders: es scheint, daß diesem die Hand weggerissen ist. Sie sinkt in eine mehrstündige Ohnmacht. Als sie sich später über das blutüberströmte Lager ihres furchtbar leidenden Bruders wirst, wollen die dabei stehenden Bauern angesichts so zärtlicher Liebe nicht glauben, daß es Geschwister seien. Ein besonderer Sckreckenstag war nachher derjenige der Operation. Von Dr. Dahl hat Karoline gehört, daß möglicherweise die Hand oder wenigstens der Daumen verloren gehen könne. Sie hat in ihrer Verzweiflung eben die Haube vom Kopfe in die Stube geworfen, rauft sich die langen Haare und will mit dem Kopf gegen die Wand, da tritt Karl wie ein Gespenst herein. Sie muß, um ihn zu beruhigen, zu Lüge und falschem Schwur greifen. Denn ehe er ein Krüppel würde, will er sich mit der schon scharf geladenen Pistole erschießen. Zum Ueberfluß muß noch die unglückselige Klara von Ackermanns kommen und ihr auf eine mißverstandene Aeußerung Dr. Dahls hin jede Hoffnung auf Erhaltung der Hand nehmen. Während der Operation[220] brüllen die beiden, an Selbstbeherrschung nicht gewöhnten, leidenschaftlichen Menschen in verschiedenen Zimmern, daß die Leute auf der Straße und in den Höfen zusammenlaufen. Durch die ihr von Boeck gemachte Mitteilung, daß die Hand Karl geblieben, wird sie wieder zu sich gebracht. Jetzt merkt sie erst, daß sie sich alles vom Leibe gerissen und halbnackt auf dem Bett sitzt. Ihre Wirtin wirft ihr einen Mantel über. –
Ihre Freunde suchen sie nun auf alle Weise zu zerstreuen, und allmählich lernt sie auch Hamburgs Vorzüge, seine paradiesischen Gegenden und Aussichten kennen. Jetzt hat es alles für den Reichen, für den Mittelsmann und selbst für den Armen, dem bleibt der herrliche Wall.
Doch ich sollte in Hamburg nicht vergnügt sein, wenigstens nicht mehr ganz. Es kamen Schriften, Kritiken oder vielmehr Pasquille auf Ackermann sowohl, wie auf seine ganze Gesellschaft heraus. Nur die einzige Madame Hensel wurde verschont. Man hätte sehr kurzsichtig sein müssen, um nicht merken zu können, daß solche von einem Freund von ihr geschrieben worden wären. Diese Frau, die gewiß unendlich viele Verdienste in Ansehung ihrer theatralischen Kenntnisse hatte, war doch ebensogut, wie wir alle, nicht ohne Fehler. Doch auch ihre Fehler sah man nicht, wollte sie nicht sehen und machte auch solche zu Schönheiten. Ich machte mir aus all den schiefen Beurteilungen vielleicht am wenigsten, weniger als die andern. Nur blieb ich stehen bei dem allerersten, das mich nun von neuem anfing zu verdrießen, weil das eine alle die andern nach sich zog und gezogen hatte. Mich reute es nun von ganzem Herzen, daß ich dem H. Syndikus gefolgt. An so vielen Orten, wo wir Ackermann Brot verdient und alle zusammen in dem Ruf standen, daß die Ackermannsche Gesellschaft eine der ersten ist, wo gewiß in keiner Gesellschaft Deutschlands solcher Fleiß, Eifer und Unverdrossenheit geherrscht und gewiß auch Einigkeit, solange Madame Hensel von Ackermann weg war, die nun einmal den Fehler hatte, daß neben ihr keiner gefallen sollte. Sie wollte allein glänzen, sie allein die Leute ins Theater bringen. Das ganze Publikum war Ochsenzeug in ihren Augen, wenn solche ein Stück ansahen mit Beifall, in welchem sie nichts hatte. Und war, wenn solches zwei- und dreimal wiederholt wurde das Haus voll, ja, dann war der Teufel vollends los. Solch ein elendes[221] Stück! Dem Verfasser und Zuschauer blieb gewiß für keinen Heller Ehre. Nun wollte sie abdanken, fortgehen von solchem dummen, undankbarem Publikum, gar nicht mehr spielen, ihre besten Rollen verhunzen. Und so eine gewiß große Schauspielerin sie war, so verhunzte sie jede Rolle, die ihr nicht anstand. Schon war in ihren Ausdrücken der Autor unter den Mittelmäßigsten, wenn in einem neuen Stück zwei oder drei Frauenzimmer-Rollen gewesen, die alle zwei oder drei gleich gut waren. Inzwischen war und blieb das Publikum nur infam, und Ochsen, Esels, undankbar, ungerecht, wenn solches der Nebenschauspielerin auch applaudierte. Ja, wenn eine Alte, Mutter, Tante oder Kupplerin darin war, die durfte applaudiert werden, und da stand Autor und Publikum in Gnaden, das ganze Stück durch. Ich, die ich sie nun ganz in ihrer Schwäche kannte, handelte gegen sie weit großmütiger, als sie's wahrlich an mir verdient hatte. Nicht selten zog ihr das Applaudissement anderer Mutterbeschwerden zu, so daß sehr oft andere Stücke mußten in Eile gegeben werden, weil Mad. Hensel krank geworden. An alle meine Freunde, die ich kannte, ging also die Bitte von mir: Ich mag spielen, so gut ich will, rührt für mich keine Hand! Die versprachen's, und es geschah. Mein Stolz wäre gekränkt gewesen, wenn eins von denen, mit welchen, wie man wußte, ich es nun ganz hielt, mir Beifall geklatscht hätte. Nie ist wohl vor Mad. Hensel oder mit ihr zugleich damals noch eine Aktrice in der Welt gewesen, die sich so oder mehr an allen guten und jungen Aktricen versündigt hatte, wie sie. Nur nach der Zeit bekam sie eine würdige Nachfolgerin sowohl in ihrer Kunst, als in ihrem Neid. Oft hatte ich Lust, zu sagen: »H. Ackermann, sehen Sie sich an meiner Stelle nach einer andern um!« Doch weil ich mich besann, daß das eben der Wunsch von Mad. Hensel gewesen wäre, wollte ich ihr nicht die Freude machen. Trotz all ihrem Anstiften und Schreiben, überzeugte es mich nunmehr erst von meinen großen Verdiensten. Denn wäre ich nur mittelmäßig, nicht einmal schlecht gewesen, so würde sie ruhig und zufrieden gewesen sein. Da ich aber die einzige war, die die Wagschale gleich hielt, ja, eher bei mir, als bei ihr noch das Uebergewicht bekam,[222] so mußte sie sich nach ihrem neidischen Herzen auch so gebärden.
Inzwischen kann man leicht denken, welch eine Gärung unter der ganzen Gesellschaft war. Wie alles sich Mühe gab, den Schurken zu entdecken, der das Zeugs so recht, nicht, um uns alle zu befreien, nein, uns zu kränken und zu beschimpfen, hinschmierte. Der Argwohn fiel auf den Sekretär Löwe, und die Ursache war sein Schwager, der ewig jung genannte Schönemann (denn auch in den vierziger Jahren hieß der noch jung, weil er nie aus dem [unleserlich] gekommen). Kurz, der dumme, erbärmliche Bursche war aus Schwerin gekommen und stak immer auf dem Theater, sowohl bei Proben, als Komödien. Nun wurde Verschiedenes, was der eine und andere gesagt hatte, gedruckt, also hieß es: Das ist der Spion, trägt alles über, und Löwe läßt's drucken. Ich war die einzige, die Löwes Partei nahm. Konnte nicht denken, daß ein Mann wie er, der mir in dem Hause von H. Bubbers so viel Verbindliches gesagt, mich so sehr um meine Freundschaft gebeten, daß der so ein abscheulicher Schurke sein sollte. Ich glaubte es nicht und hatte darüber mit manchem Streit.
Nicht lange dauerte es, als ein neues Bubenstück heraus sollte. Der Friseur, Fersen hieß er, wo mir recht ist, der meinen Bruder und die ganze Gesellschaft als Theaterfriseur frisierte (nur mich nicht, denn so viel gab ich nicht aus. Denn mich hatte der Mangel an Geld gelehrt, mein eigener Friseur zu werden), der sagte eines Morgens zu mir, er wollte mir was sagen, wenn ich ihn nicht verriete. Käm's raus, so brächte ich ihn um sein Brot. Gab ihm mein Wort. Der erzählte mir denn, was Mad. Hensel für eine abscheuliche Kreatur sei. Wahr, sie bezahlt mich gut, und ich habe neulich erst einen Dukaten von H. Seyler bekommen, Mad. eine Maske zu kaufen, die sie vors Gesicht nehmen soll, damit ihr der Puder nicht schaden soll. Aber sie macht's zu toll. Auf ihrem Putztisch liegt ein Epigramm, da heißt die Ueberschrift: »An die beste kränkliche Aktrice.« Nun sagte er mir die sechs oder acht Zeilen, die es hatte, die ich abschrieb. Aber ich habe solche verloren, der Inhalt war ungefähr dieser: Das Wiener[223] Theater, Schuch und Bernardon und H. Kurz hätten so viele schlechte Schauspieler, wo es gut wäre, wenn die stürben. Warum denn immer eine so vortreffliche Frau wie Mad. Hensel müßte krank sein. Und wäre keine da, die der Tod hinnehmen wollte, »so«, hieß es, »raffe die weg, die man schlecht als Sara sterben sah. Das sollte denn auf mich gehen. Und man dachte, weil Mad. Hensel zu oft gesagt hatte, daß das ihre liebste Rolle gewesen, solche aber von mir gespielt wurde, und gewiß, so lange ich da war, nicht zu spielen würde bekommen haben, daß ich ihr solche hurtig abgeben würde. Noch war das Epigramm geschrieben. Der Friseur hatte es nach und nach auswendig bei Mad. Hensels Putztisch, nicht wörtlich, doch nach dem Inhalt, gelernt, und ich wollte nur abwarten, ob es auch gedruckt zum Vorschein kommen würde. Schwieg also ganz still. Nur wundert mich, daß diese große Schauspielerin von mir in der Sara nachher so viel kopiert hat.«
Eine Stelle, wo ihr der große Lessing in seiner Dramaturgie so ein großes Kompliment gemacht, in der Sterbeszene, ist von mir. Ich, die ich bei so vielen Sterbebetten war, nicht bei meinen Eltern allein, nein, schon in meiner frühen Jugend (denn wenn ich alle, alle Begebenheiten und Anekdoten hier abfassen wollte, wann, wann würde ich fertig werden?), ich habe, um in meiner Kunst zu werden, was ich war, alle Stände, alle Menschen, alle Auftritte, Leidenschaften, kurz, alles an andern studiert, nachgedacht und behandelt, sogar die Tollhäuser. Welchen Nutzen ich davon gehabt, beweist bei unparteiischen Kennern, wie weit ich es in meiner Kunst gebracht. Ich habe Menschen studiert, nicht auf dem Theater, nein, wie sie in der Natur waren, und solche verfeinert, wie auf dem Theater auch ein Bauernmädchen seidene Schuhe und Strümpfe anhaben und nicht, wie auf dem wahren Dorfe, barfuß gehen darf. Ich hoffe, man wird mich verstehen. Mad. Hensel bestahl mich; ich, weiß Gott, nicht sie. Oder ich hätte auch in der Sara die Marwood so anfahren und den Stuhl packen und an die Seite werfen müssen, daß dem Zuschauer noch anfangs ungewiß war, ob solcher der Marwood an den Kopf oder an die Kulisse fliegen würde.[224] Mad. Hensel benutzte, nur ohne Kopf, eine Stelle von mir in dem »Codrus«, als Philaide, die mir meisterhaft gelang und angebracht war zuerst von mir im dritten Akt der zweiten Szene, wo Codrus die Ursache ihrer Tränen und die schleunige Abreise des Medon von Philaiden wissen will. Liebe, Ehrfurcht, Schmerz, Angst und Furcht, alles hat sich ihrer Seele bemeistert. Sie sagt: »Verzeihe, Herr, wenn dich mein Wort betrübt. Verzeih, du willst es so! Er floh.« Nun verursacht die ganze Verfassung, in der sie ist, der Natur gemäß, eine lange Pause. Das Geständnis schwebt auf ihrer Zunge, und Angst hält es noch zurück. Endlich ist sie ihrer nicht mehr mächtig, sie fällt Codrus zu Füßen, indem sie sagt: »Weil er mich liebt!« Hier fühlte ich es meiner Leidenschaft richtiger angebracht, mich mit dem Geständnis zugleich der Verzeihung würdig, und nicht sowohl der Verzeihung, sondern auch für strafwürdig zu bekennen, daß ich Medon und nicht den König lieben konnte. Hier war es also richtiger und der Situation des Edlen, der nie gefehlt, mehr angemessen, bei dem Bekenntnis der Schuld auf die Erde zu fallen, als nachher bei den Worten: »Verzeih, und gib die Schuld dem herrschenden Geschick!« So habe ich nachgedacht über mein Spiel, was sich tun und nicht tun läßt, schickt und nicht schickt, als ein Mädchen von 15 Jahren. Denn in Straßburg, 1761, wurde »Codrus« zum ersten Male von uns gegeben. Mad. Hensel, die voll Aerger es sah und hörte, mit welchem großen Beifall man die kleine Schulze deswegen beehrte und aufmunterte in ihrer Kunst, dachte: nun, wo bringst du das auch an? Ja, in der »Zayre«. Wie sie also bei der Erkennungsszene im zweiten Akt ist und Lusignan zu ihr sagt: »Sprich; ich will christlich sein,« bäumte sie sich und drückte und preßte, als ob sie sticken wollte, die Worte heraus: »Ja – – Herr ... (auch lag sie auf allen beiden Knien), ich will es sein.« In Straßburg wurde die Stelle nicht so bewundert, ob sie gleich dort wie anderwärts einige überraschte. Nirgends machte man so viel daraus, als in Hamburg ihre Verehrer, in Hamburg, wo man glaubte, alle Weisheit und Kenntnis allein verschluckt zu haben, ohne an den wirklichen Unsinn, den Mad. Hensel beging, zu denken. Da liegt sie nun zu Lusignans[225] Füßen. Er sagt: »Nimm dies Bekenntnis, Gott, das sie uns vorgetragen.« Sie bleibt liegen, und Corasmin, der Vertraute des Sultans und Feind der Christen, redet sie an:
»Der Sultan schickt mich her, Prinzessin, dir zu sagen,
Du sollst den Augenblick dich diesem Ort entziehn,
Vornehmlich aber ganz der Christen Umgang fliehn.«
Und findet sie zu den Füßen eines Christen. Ja, sie stand auf, sobald sie ihn hörte, aber nicht, da sie ihn sah. Denn wo konnte sie ihn sehen, da sie mit ihrem Kopf auf Lusignans Knien lag, das Schnupftuch vor den Augen, und Corasmin und jeder Mensch im gemeinen Leben wohl nicht eher einen anreden kann und wird, bevor er nicht auch sieht, ob der da ist, dem er was zu sagen hat. Und ich zweifle, ob, wenn's auch noch so ein Anfänger gewesen wäre, er, um ihren Fehler zu bedecken, sich für einen Esel haben halten lassen, die erste Zeile seiner Rede in der Kulisse zu sagen. Doch solche Streiche machte Mad. Hensel unzählige, eben in ihrer berühmten Zayre. Wenn sie in dem fünften Akt abgeht mit den Worten:
»Wohlan, ermuntre dich, unglückliche Zayre!«,
welche mit einem sanften, doch schwermütigen Ton, mit einer kleinen, doch unterdrückten Träne wollen und müssen nach aller Vernunft gesagt sein, lief sie und schrie das Wort »unglückliche« so zetermäßig heraus, daß man sich die Ohren hätte zustopfen mögen, und sagte es mit der Gebärde, dem Gesicht und der Aktion, wie im dritten Akt, da sie von Orosman geht mit den Worten:
»Mein Weinen, meinen Wunsch und Abscheu und Verdruß Nebst der Verzweiflung dir nicht verraten muß.«
Hier ist's recht, dort aber nicht. Doch solche Schnitzer machte sie unendlich, um nur ein Donnerwetter von Applaudieren hinter sich her zu haben. Jedem biete ich Trotz, der mir so was Unverzeihliches nachsagen kann, so lange ich Aktrice war. Hatte ich was zu donnern, wo es sein mußte, ja, so konnte ich laut genug sein, und meine Lunge vertrug's so gut wie mancher ihre. Nur trotz des Lärms, den so was macht, trotz der Ueberraschung, die kitzelt, hütete ich mich vor[226] unsinnigen Ueberraschungen, die ich mir selbst nicht vergeben hätte, wenn solche mir gleich der Kenner bei so vielem Guten, das ich hatte, durch die Finger würde gesehen haben.
So bemerkte ich also mehr der Fehler, um nicht in selbe zu fallen, und blieb deswegen nicht blind bei dem Guten. So würde der, der hämisch ist, nur dabei stehen bleiben und, wenn jemand die Blätter lesen sollte, glauben, Mad. Hensel habe die ganze Zayre verhunzt. Bewahre der Himmel, nein! Sie hatte unendlich mehr Gutes. Die zwei Fehler machen noch nicht das Ganze schlecht. Im Gegenteil spielte sie solche so schön, daß sie Kenner und Nichtkenner auch gegen Fehler blind machte. Wer würde auch so bösartig sein und das nicht jedem großen Schauspieler gönnen? Nur soll er nicht glauben, er sei vollkommen, soll an den Balken denken, der ihm aus den Augen steht, und seinen Nebenmenschen den kleinen Splitter lieber stecken lassen, als solchen so unfreundlich herausreißen, daß er blind am gesunden und unbeschädigten Auge zugleich wird. Jeder, der sich anmaßt, Theater und Schauspieler zu kritisieren, muß nicht allein gegründete Kenntnisse der Kunst haben, sondern von aller Parteilichkeit sich frei wissen. Tadelt, aber seid nicht boshaft, nicht hämisch! Ich kann nicht mich allein nennen, nein, ich wollte ganze Seiten voll Schauspieler und Schauspielerinnen nennen, mit Namen nennen, die unbillige Kritiken mehr in ihrer Kunst vernachlässigt, mißmutig gemacht, als Lob und Beifall sie sollen stolz oder »ja, du bist das, was man von dir sagt« glauben gemacht haben sollten. Und der unbillige Kritiker, der einen Schauspieler auf des andern Kosten lobt oder tadelt, verdiente öffentlich mit Ruten gestrichen zu werden. »Macht gegeneinander gehässig!« dringt so manchen Rechtschaffenen um sein Brot.
Von allen Kritiken – da ich doch einmal bei der Materie in, kann ich mich nicht von ihr trennen, obgleich das, was ich jetzt sagen will, noch in spätere Jahre hingehörte, als in das 1766., wo ich in meiner Geschichte bin –, von allen Kritiken und Beurteilungen, die ich gelesen, weiß ich keine, die richtiger und wahrer ist, als die, wo man in der »Berliner Theaterzeitung« Brockmanns und Schröders Hamlet gegeneinander[227] beurteilte. Inzwischen war Brockmann immer der erste Hamlet. Und bei Schröder, so ein großer Mann dieser ist, wenn er, da »Hamlet« zuerst in Hamburg gegeben worden, solchen vor Brockmann gespielt hätte, bleibt immer noch die Frage, ob Schröder mit dem Beifall würde gespielt haben, wie nachher. Brockmann und Schröder sind von den neun Hamlets immer die größten und werden's wohl auch bleiben, die ich gesehen. Unter sieben bleibt noch ein einziger, der solches weder von Schröder noch von Brockmann spielen sah, aber das, was von ihrem Spiel gesagt wurde, benutzte und glücklich benutzte. Doch das hat Zeit, soll aber genannt werden. Und so richtig diese Berliner Beurteilung war, so hätte ich doch die Stelle vom »Lorbeerkranz« weggewünscht. Habe solche vergessen, wie sie wörtlich hieß. Diese einzige Stelle gibt der Beurteilung einen Pinselstrich, der ihren Wert verdunkelt. Und wenn Herr Brockmann, den ich außer Hamburg noch nicht wieder spielen sah, die Vergleichung nicht benutzt, so kann der Verfasser dieses Vergleichs sicher glauben, der Lorbeerkranz allein mag die Ursache davon sein. Der Künstler ist nicht anders, so wie der Mensch immer Mensch bleibt. Und kann den Schluß ein jeder machen, wie behutsam man in Tadel sein muß, wenn's unsere Absicht ist, zu bessern.
»Herr Schröder ergänzte die Stellen, die Herr Brockmann vergriff.« Nur vergriff – bleibt Fehler. Aber konnte Herr Schröder bei aller seiner Stärke auch manchen Stellen den Ton, das Gesicht, die Aktion, den Ausdruck geben, die Brockmann ganz eigen waren? Auch nicht. Will nur einige kleine Worte bemerken. Wo er die erste Nachricht erhält, daß man den Geist seines Vaters gesehen, wie Brockmann sagte: »Ich wollte, ich wäre dabei gewesen,« dann »Und ich für mein Teil will hingehen und beten,« weiter: »O Gott, ich wollte mich in eine Nußschale einsperren lassen« usw. – das konnte Schröder bei aller seiner Kunst nicht leisten, was Brockmann leistete. Und so sind mehr Stellen. Verdiente nun nicht der Lorbeerkranz geteilt zu sein? Aber, um beiden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so stand der Lorbeer auf Brockmanns Kopf in der schönsten Blüte. Schröder nahm ihm solchen ab, setzte sich solchen auf den Kopf, und er kam zur vollen Reife.[228]
Wie oft dachte ich: »Das ist unverbesserlich,« und dann wieder: »Das ist abscheulich.« Und Erfahrung hat mich gelehrt, daß nichts so gut ist, was nicht noch besser sein könnte, und nichts so schlecht ist, was nicht auch noch schlechter sein kann. Ueber die Entscheidung des Guten und Besseren habe ich mich bereits erklärt und Stellen gezeigt. Nun noch zum Schluß etwas von Schlechtem.
Sie sah in Hamburg von H. Queya im »Barbier von Sevilla« den Bedienten das Niesen sehr natürlich vorstellen. Ein Zweiter machte es später weniger gut, ein Dritter nachher noch schlechter. Dabei war im übrigen der letzte als Schauspieler wieder besser. Unvorsichtige Kritik heftet sich leicht zu schnell an Einzelheiten.
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