[124] Gegen das Ende vom Juli reisten wir von Freiburg weg nach Rastatt. Wir fuhren auf offenen Wagen; es fiel Regenwetter ein. Ich war leicht gekleidet und erkältete mich so sehr, daß ich krank wurde. Die Reise von Freiburg nach Rastatt ging erst zu Lande bis Straßburg, dann zu Wasser bis an einen Ort, etliche Meilen von Rastatt, den ich nicht mehr zu nennen weiß, und dann wieder zu Lande bis Rastatt. Die Reise war für mich eine der traurigsten. Meine Maladie wurde die Rote Ruhr. Wer je diese Krankheit gehabt, kann denken, was ich ausgestanden, und das auf der Reise. Als wir mit dem Schiff angelandet, hieß es, das Dorf, wo wir übernachten sollten, wäre nur einen Flintenschuß weit entfernt. Der Flintenschuß war aber weiter als eine starke Meile. Alle waren fortgelaufen, um Quartier zu bestellen, und ich mit drei Mädchen, wo keins dem Verstande noch viel besser war wie die andere, blieben allein. Der Schiffer, nachdem er alles ausgeladen, sagte, er müsse[124] zurück und bliebe da nicht. Die Sachen waren fortgeschafft worden, und kein Mensch kam, mich zu holen. Was das Versehen war, weiß Gott; aber alle müssen den Nachmittag verwirrt gewesen sein. Der Schiffer trug mich aus dem Schiff und setzte mich ans Land und fuhr ab. Da saß ich nun bei den Mädchen. Ich machte endlich den Versuch, um fortzugehen oder vielmehr auf Händen und Füßen zu kriechen. Die Mädchen wollten mich tragen; aber sie hatten alle drei nicht Kräfte genug, und ein Kranker mit den und solchen Schmerzen ist immer schwerer und unbehilflicher zu tragen. Wir zogen also fort und verfehlten den Weg. Wie man mich also endlich holen wollte, fand man mich nicht. Kurz, es wurde Abend, Nacht, und ich war noch auf der Landstraße. Ein Bauer begegnete uns endlich; den frugen wir, und der wies uns nach dem rechten Fußsteig. Ich bat solchen, auch für Geld und gute Worte mich ins Dorf zu tragen. Der aber hatte keine Zeit und mußte nach seinem Dorf. Nun kroch ich denn weiter und kam halb 10 Uhr in der Nacht ins Dorf. Am Tor blieb ich liegen, schickte eins von den Mädchen hinein, sollten sehen, in welchem Haus die Meinigen wären, daß sie mich holen sollten. Die war fort, als meiner ein Bauer ansichtig wurde durch mein Wimmern. Der nahm mich auf den Arm und trug mich in drei Häuser, und nirgends war jemand von uns. Endlich im vierten, da waren sie. Man brachte mich zu Bett, und ich dachte nicht, den Morgen zu erleben. Zum Glück fand man in dem Hause Medizin. Weil die Wirtin kurze Tage vor meinem Hinkommen auch erst von der Roten Ruh genesen war, so hatte sie um so viel mehr Mitleid mit meinem Zustand und suchte alle Restchen Rhabarber und Rhabarbertinktur zusammen und gab's mir auf's Geratewohl ein.
Den Morgen wurde ich in eine halbe Chaise gepackt und fuhr in solcher mit meiner Mutter und Bruder nach Rastatt. Endlich, da mein Bruder in einem Wirtshaus Wohnung gefunden, trug man mich hin und wurde ins Bett gelegt. Man lief um Hilfe. Ein Doktor war verreist, der andere lag krank. Nun zum Leibmedikus von dem Landgrafen. Der kam. Wie er aber sah, was mir fehlte, sagte er:[125] »Weil der Fürst selbst nicht wohl ist, darf ich keine Kranken besuchen, wo man in der Meinung ist, daß solche anstecken. Ich werde Ihnen aber einen sehr geschickten Mann zuschicken, Herrn Meyer, Leibchirurgus vom Fürsten, der mir dann alle Tage von Ihrem Befinden Nachricht geben soll und mit dem ich Ihretwegen konsultieren werde.« Er ging, und nach Verlauf von ein paar Stunden kam Herr Meyer, ein Greis, nahe die 80 Jahre und so leutselig und gut; nur der Anblick von ihm mußte den Kranken trösten. Er schüttelte den Kopf, da er hörte, daß bereits drei Tage und Nächte verflossen, ohne rechte Hilfe gehabt zu haben. »Doch wollen wir hoffen!« Der Mann gab sich viel Mühe. Drei-, viermal kam er und oft noch spät des Abends und wünschte, mir zu helfen. Doch die Schmerzen wollten nicht weichen. Ich zerbiß die Bettlaken. Nun dachte meine gute Mutter, die Rechnung bei dem Wirt möchte zu groß werden, und gab mir Tücher, die denn auch alle kurz und klein von mir gekaut wurden.
Da meine Mutter Tag und Nacht bei mir wachte, so jammerte es Mad. Wolfram und Mad. Garbrecht, und die wechselten denn ab und blieben die Nacht bei mir, daß meine Mutter einige Stunden schlafen konnte. Endlich fingen die Schmerzen an, in etwas nachzulassen, und mein lieber, alter Meyer hatte Hoffnung, daß ich bald würde vollkommen gesund werden.
Da verschiedene bei mir gewacht, so wollte eins von den drei Mädchen, die bei Mad. Ackermann im Hause waren, auch wachen. Es hieß Friderici und wurde nach einiger Zeit H. Doebbelins zweite Frau. Mir war's lieb, damit meine Mutter nur des Nachts Ruhe hatte; denn sie hatte des Tags über genug mit mir zu tun. Aber Gott behüte alle Kranken vor so einer Wächterin! Herr Meyer sagte: »Wenn unsere Kranke nur erst wieder Schlaf bekommt, dann wird alles gut.« Zum Unglück bekam ich eben die Nacht, da Friederike, wie man sie nannte, bei wir wachte, Schlaf. Weil ich aber sehr matt war, so war es natürlich, wie bei jedem schweren Kranken, daß ich im Schlafe zuckte und Mienen machte. Da wurde sie angst und dachte, ich stürbe, weckte mich also bei jeder Bewegung wieder auf, erschreckte mich, daß ich oft hoch auffuhr.[126] »Mein Gott, was will sie?« »Ach, Mamsell, ich fürchte mich bei Ihnen! Wenn Sie nur nicht sterben. Sie machen solche Gesichter und zucken immer.« »Kind, das tue ich vielleicht aus Mattigkeit. Schlafen sie lieber. Ich will auch, will's Gott, die Nacht schlafen.« Nichts half; kaum war ich eingeschlummert, so fuhr sie mir mit der Hand über's Gesicht, ob ich vielleicht gar schon kalt und tot war, wenn ich auch keine Mienen oder Gesichter machte, wie sie es nannte. »Nun, Gott wird mich die Nacht auch überstehen lassen. Aber zum Wachen zu mir darf sie nie wiederkommen.« Nun zwang ich mich, nicht zu schlafen.
Endlich wurde ich auch durstig und bat sie, mir einen Trank zu reichen. »Gleich, Mamsell, Ihre Mama hat mir gesagt, daß Ihre Suppe zum Trinken in der warmen Asche steht.« Mein Trank war Hammelfüße ohne Salz gekocht. Ich lag und schmachtete vor Durst. Es verging wohl eine Stunde, ehe sie wieder kam; und ohngeachtet meine Mutter und Bruder bei mir im Zimmer in ihren Betten lagen und schliefen, so jammerten sie mich doch, daß ich keinen rufen wollte und sie aus ihrer Ruhe stören, litt geduldig Durst und dachte, es ist die erste und letzte Nacht, daß die bei mir ist. Endlich kam sie angelatscht. »Mein Gott, wo bleibt sie?« »Ach, Mamsell, die Suppe war eiskalt (im August und bei der Hitze!), und da habe ich erst Feuer anmachen müssen und Ihnen solche gewärmt.« »Gut, gebe sie nur her; ich verschmachte fast.« Sie schenkt mir eine Tasse voll ein, und ich schlucke die Suppe in der Begierde hinunter, ohne solche erst zu versuchen. Aber, mein Gott, wie geschah mir! Ich schrie, sobald ich sie verschluckt hatte: »Gift! Gift! Gift! Hilfe!« Mutter und Bruder sprangen aus ihren Betten und zu mir hin: »Was gibt's? Was gibts?« »Ach, Gift, Gift, habe ich bekommen. Rettung, Rettung, oder schlagt mich tot! Aus Barmherzigkeit macht meinem Leiden ein Ende!« Meiner Mutter war's unbegreiflich. »Friederike, was hat sie ihr gegeben?« »Ihre Suppe, Madame. Aber Mamsell phantasiert, hab's die Nacht schon gemerkt; da hatte sie die stille Bangigkeit.« – »Den Teufel hatte ich! Ich rase nicht. Gebt mir zu trinken; ich vergehe sonst!« Meine Mutter gießt mir aus[127] demselben Topf, von der nämlichen Suppe, noch eine Schale voll und reicht mir die hin. In der Angst gieße ich solche den Hals hinunter. Nun war's nicht anders, als wenn alles Eingeweide in meinem ganzen Leibe sich zerriß. Ich warf die Schale in die Stube, meiner Mutter gerade vor dem Kopf vorbei. Hätte ich sie das Unglück zu treffen, ich hätte sie totgeworfen. Ich schrie nicht, ich brüllte. Meine Mutter, die nicht wußte, was sie mir gegeben hatte, glaubte nun selbst, ich raste, und daß meine Krankheit mich ungeduldig machte. Die fing nun an, mit mir zu schelten, und drohte mir, mich ganz allein liegen zu lassen. Schmerz und Wut machten mich fast verzweifeln. Und daß ich noch obendrein sollte unrecht haben! Ja, ich glaube, wenn ich aus dem Bett gekonnt hätte, ich hätte in der Rage alle zusammen geprügelt und vergessen, daß meine Mutter meine Mutter war. Nun beschwor ich sie, sie sollte doch nur die Barmherzigkeit für mich haben und die verdammte Suppe kosten. »Aber um Gottes willen, trinken Sie keinen Tropfen hinunter, Sie sind sonst des Todes davon.« Sie wollte nicht und gab mir unrecht. »Nun, so weicht alle von mir und laßt mich krepieren ohne Barmherzigkeit! Gott wird's bald mit mir enden und vergebe euch, meinen Mördern!«
Der Lärm hatte alle im Hause geweckt, Garbrechts und Wolframs und, ich weiß selbst nicht mehr, die alle in demselben Hause wohnten. Endlich sagten sie alle, so koste doch einer die Suppe! Wer weiß, was die Friederike wieder angestellt hat. Endlich und endlich nahm meine Mutter einen Tropfen auf die Zunge. War erst nicht Lärm genug, so ging nun erst der Spektakel an. »Ach Gott, Gott, mein Kind, meine Tochter, sie ist hin, hin!« »Was ist's?« »Kupfer! Kupfer!«
Kurz, nun gesagt, was es war: Friederike hatte meine gute Suppe mit dem Topf auf der Treppe fallen lassen. Sie dachte: Suppe ist Suppe, fand in der Wirtin ihrer Küche in einem kupfernen Kessel, der nicht verzinnt war, eine Grundsuppe von gesalzenem und geräuchertem Schweinefleisch, Würsten und alles zusammengekocht für die Fuhrleute, die immer einkehrten, goß nun, solche zu verdünnen, etwas Wasser[128] zu, ließ von neuem aufkochen und hatte mir die zu trinken gegeben. Nun war alles in Angst. Meine Mutter raufte ich in ihren grauen Haaren, mein Bruder lief, nichts als Hemd und Hosen, zu Meyern, um dem zu sagen, was vorgefallen.
Ich bat abwechselnd, bald um Trinken, bald, mich doch tot zu schlagen oder mir ein Messer zu geben, um mich selbst umzubringen. Der Schmerz war entsetzlich. Man machte mir Tee zurecht. Alles wünschte, meinen Jammer lindern oder enden zu können. Nun kam der gute, alte Meyer, brachte mir ein Brechmittel mit, aber lief im Zimmer herum und jammerte ebenso wie die andern. »Auf meine alten Tage so eine Schande! Alle meine Reputation ist hin. Was wird mein Markgraf sagen? Was die Stadt? Eine Patientin, mit der ich mich so viel wußte. So gefährlich gewesen, mit Hilfe von Gott sie aus aller Not gerissen, und nun solche Unvorsichtigkeit! Sie ist hin, hin! Mich wundert, daß sie nicht schon tot ist. Schicken Sie nur nach einem Geistlichen! Welche Natur kann das aushalten? Kupfer! Von gesalzenem Schweinefleisch die Grundsuppe in die ohnedies wunden Gedärme!«
Tee über Tee mußte ich trinken. Endlich kam ich zum Brechen. Man hatte mich wie tot schon in den Armen. Mit meinem Schreien war's vorbei; nur noch stille winselte ich wie ein armer Hund. Mein Bruder hatte sich angekleidet und frug mich, ob ich einen Geistlichen wollte. Ich nickte ja. Der Morgen war nun da, und ein Priester trat zu mir ans Bett.
Sie ist sich von Kindesbeinen an keines Lasters bewußt. Ihrer Mörderin, der Friederike, vergibt sie. Ja, sie vermacht ihr noch einiges. Sie bekennt sich zu Gott und seinem Sohn als gute Christin. Der würdige Mann wischt sich die Tränen von den Wangen und betet mit ihr. Dann kommuniziert sie. Lieber hätte sie ihr Grab in Freiburg gefunden. Die Mutter wird der Liebe des Bruders übergeben.
Ich lag verschiedene Tage ganz still und blaß. Aus dem Atmen sah man's, daß noch Leben in mir war. Nun kam für mich noch eine herbe Szene. Ackermann bekam nicht die Erlaubnis, in Rastatt zu spielen, weil der Markgraf sehr krank war. Er war fortgereist und hatte endlich in Karlsruhe die Freiheit erhalten. Nun mußte mein Bruder mit der Gesellschaft[129] fort. Man kündigte es mir an. »Das ist hart! Doch Gott will es so.« Den zweiten Tag kam die ganze Gesellschaft vor mein Bett und sagte mir Lebewohl. Ich ihnen. Sie weinten alle um mich herum. »Weint nicht! Hab' keinen von euch mit Willen beleidigt. Hab' ich gefehlt, so vergebt mir. Wir sehen uns wieder, wenn nicht hier, in jenen Gebieten!« Mein Bruder war der letzte. Er lag auf meinem Gesicht und weinte. Nun fühlte ich erst die Bitterkeit einer ewigen Trennung. Man sah's an meinem Gesicht, was ich litt, und man riß Karl mit Gewalt von mir.
Ackermann wohnte uns gegenüber, und nun hörte ich das Rasseln der Wagen und Pferde. »Ach, liebe Mama! Nur noch einmal lassen Sie mich Karl sehen!« »Wie kann ich?« »Tragen Sie mich ans Fenster, muß ihn sehen.« Die gute Mutter nahm mich wie ein Kind auf den Arm. Ich klammerte mich, so fest ich noch konnte, an ihren Hals, und so trug sie mich ans Fenster und setzte mich in einen Stuhl. Sie öffnete ein anderes und rief Karl, heraufzusehen. Er sah mich und wollte wieder die Treppe ins Haus. Man hielt ihn aber fest. Und so fuhren die Herren alle auf einem Wurstwagen und die Frauenzimmer in Kutschen fort, wehten ihre Schnupftücher, bis ich keinen mehr sehen konnte.
Es war an einem Donnerstag. Mein guter Meyer kam und war mit allem, was er gehört, unzufrieden. Ganz unrecht hatte er nicht. Gegen den Abend wurde ich so schwach, daß der alte Mann die ganze Nacht nicht von meinem Bett wich. Endlich bekam ich den Freitag in der Nacht Schlaf und habe den Sonnabend und Sonntag geschlafen. Selbst davon konnte ich mich nichts erinnern, wenn ich zu trinken gefordert hatte. Den Montag morgen fühlte ich mich ungemein besser. Mein alter Meyer sang und tanzte in der Stube herum vor Freude. »Ach, ich habe sie gerettet, Gott Dank, hab' sie gerettet! Aber das ist eine Natur. Die haben Tausende nicht!« Ich mußte über den guten Alten lächeln. »Das muß der Markgraf wissen. Nun gehe ich zum Leibmedikus. Der wird sich freuen. Komme bald wieder.«
Ich ward nun von Stunde zu Stunde besser. Eines Morgens kam mein Meyer und sagte: »Heute bin ich zum[130] ersten Mal wieder bei dem Markgrafen gewesen. Wenn er nicht selber so krank wäre, daß er bettlägerig ist, so müßten Sie, sobald Sie imstande wären, auszugehen, selbst zu ihm kommen. So neugierig ist der Herr, Sie zu sehen nach alledem, was er von mir von Ihnen gehört. So schön, so jung, so viel Geduld bis auf die eine Nacht! Aber da hat man's Ihnen auch danach gemacht. Ich selbst hätte gern alles zusammengeschlagen. Ja, ja, Madame, Sie mit Ihrem Kind so einer dummen Dirne anzuvertrauen! Wenn Ihre Tochter gestorben, wären Sie schuld gewesen, nicht das dumme Mädchen.« »Lieber Meyer, nein, meine Schuld! Ich wollte sie bei mir haben, gewiß meine Mutter nicht! Sie war dagegen.« »Gut, gut, daß Sie leben! So eine gute Christin! Oh, die sind nicht viel bei dem Theater.« »Haben unrecht, lieber Meyer, gibt mehr und auch gute.« »Aber die Freudigkeit, mit der sie sterben wollten! Oh, wenn ich Sie nur dem Fürsten zeigen könnte! Haben Sie sich denn nie malen lassen?« »Ja!« Ich frug, ob meine Mutter mein Bildnis eingepackt hätte und Karl es mitgenommen. »Nein,« sagte sie, »wo hätte ich Zeit gehabt zu packen?« »Oh, das ist gut. Geben Sie mir das Porträt! Ich trag's nach Hof.« Meine Mutter holte es aus dem Koffer heraus. Nun beurteilte mich der Alte nach dem Bild. »Ja, Sie soll's sein. Aber es ist's nicht. Nein, noch ist sie schöner. Nun, so sehen Sie doch nur ihr Händchen gegen die Hand!« »Meyer, wär ich gesund, Sie würden mich erröten machen, aber meine roten Backen sind weg.« »Kommen wieder!« sagte der Alte, hüpfte nach seiner Art mit dem Bilde herum in der Stube und trug's nach Hof. Mein Bild brachte er mir erst den Sonnabendmorgen wieder. Das Bett hatte ich schon den Donnerstag verlassen. Ich frug ihn, ob er mir wohl erlaubte, daß ich mich dürfte in die Kirche tragen lassen. »Noch etwas früh, doch das Wetter ist gut.« Ich ließ mich zur Kirche tragen, meine Mutter begleitete mich, und brachten Gott unser erstes Dankopfer. Von da ließ ich mich nach des guten Meyers Wohnung tragen. Was sich der ehrliche Alte mit seiner guten, alten Frau freute! Gern hätte ich den Mann nach seiner Bemühung gelohnt. Aber wer[131] kann solch einen Mann bezahlen? Gewünscht hätte ich, reich zu sein. Doch gab ich ihm nach meinem wenigen Vermögen, was ich konnte. Rechnung forderte ich von ihm, und sie war so außerordentlich billig, daß ich ihm mehr geben mußte, als er aufgesetzt. Wollte es nicht nehmen. Und doch war's für mein Herz noch viel zu wenig. Er hatte noch keinen Carolin angesetzt. Ich gab ihm 3; war mein ganzes kleines Vermögen.
Ich ließ mich nach Hause bringen, und den Nachmittag bekam ich Besuch, vor allen Dingen von H. Doebern, der nicht wenig stutzte, wie ich sagte, daß ich, wenn ich mich danach befände, morgen nachmittag gedächte, fortzureisen. »Das laß Ihnen Gott wohlbekommen, und nehmen Sie sich in acht!« Am Sonntagmorgen kam mein Bruder mit einem sehr guten, bequemen Wagen. Mein alter Meyer besuchte mich noch, war da, als mein Karl ankam. Das war ein Wiedersehn! – Ein trauriger Abschied von Meyern. Er weinte wie ein Kind. »Gott geleite Sie. In diesem Leben sehe ich Sie nicht wieder. Hab bald ausgelaufen 80 Jahre. Wie lange kann ich alter Kerl denn noch verlangen zu leben? Ist das nicht noch viele Gnade von Gott? Und bin noch so bei Kräften.« Er küßte uns alle herzlich und verließ uns. – Nun ist er lange tot, hatte nur noch einige Jahre gelebt. Solche Menschen sollten nicht sterben. Ruhe sanft, ehrlicher, menschenfreundlicher Mann! Hast mein Leben erhalten. Ahnte dir wohl nicht, daß du es für so viele Leiden, die ich noch auf der Welt erduldet, noch werde erdulden müssen, gefristet hast?
Den Nachmittag fuhren wir fort. Karl trug mich selbst die Treppe hinunter und in den Wagen hinein. In wenigen Stunden war die kleine Fahrt zurückgelegt, und wir fanden recht hübsche Wohnung, die Karl gemietet hatte. Donnerstag spielte ich schon das erste Mal mit, und den Freitag tanzte ich wieder. Das bekam mir aber übel. Bekam Seitenstechen, daß man mich nach beendigtem Balett vom Theater trug und ich zwei Tage wieder das Bett hüten[132] mußte. Doch wurde ich nun immer mehr und mehr besser und sammelte meine Kräfte wieder.1
1 | W.H.: Nach der Zeit, so lange ich bei der Ackermannschen Gesellschaft war, wurde viermal der Vorhang aufgezogen, wo ich sagen konnte: Heute bin ich ganz frei. Diese vier Tage waren in Hamburg im Jahr 1765 den 31. Oktober und den 11. September; 1766 den 2. April und den 10. September. Gewiß, da ist keine Schauspielerin vor, noch nach mir gewesen, und kommt wieder, die das sagen wird können. Und in diesen langen Jahren meinetwegen nie ein Stück länger aufgeschoben, nie einen Zank um eine Rolle; nie einen Zank wegen einem Kleide gehabt; nie der Direktion aufgesagt, noch von derselben aufgesagt worden und nie Zulage der Gage verlangt; nie Vorschuß gehabt. Wie mancher Sommer verging, ich sah kein Bäumchen blühen, wir hätten denn auf einer Reise sein müssen. Wie mancher Winter, in welchem Maskenbälle gehalten wurden: ich kam auf keinen. Ich war noch jung. Aber nein, mein Theater ging mir über alles. »Ich könnte krank werden, meine Schuldigkeit nicht tun,« so dachte ich. Meine Stunden, wenn nicht Theater, wenn nicht Proben waren, brachte ich mit Handarbeit in meiner Wohnung zu. Man gewann mich an jedem Ort lieb, meines Fleißes, meiner Unverdrossenheit wegen. Und wenn ich nicht gleich unverbesserlich spielte, so verdarb ich nichts, und solche Leute sind einem Direkteur viel wert, der sie im Notfall überall hinstellen kann: zu Lustig und Traurig; zu Klug und Einfältig; zu der Königlichen Prinzeß bis zum Bauernmädchen herab. |
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