Zurzach, Schweiz.

[102] An einem Ort, wo wir Schweizer Kaufleute antrafen, die auf die Messe nach Zurzach wollten, hörten wir, daß Ackermann nicht mehr in Winterthur sei, sondern auch in Zurzach die Messe halten wollte. Wir änderten also unsere Fahrt und sagten, wir wollten nun erst nach Zurzach. Wäre Ackermann nicht mehr da, nun, so wollten wir denn von da aus nach Winterthur. Den 26. August, des Morgens gegen 10 Uhr, kamen wir an ein kleines Städtchen. Als wir eben zum Tor hineingefahren, mußten wir wegen einer Trift Schweine stillhalten. Ich sah von ohngefähr zur Kutsche hinaus, und meine Augen hefteten sich gleich auf einen angeschlagenen Komödienzettel. Da stand: Die Ackermannsche Gesellschaft werde heute aufführen den »Geizigen« von Molière. »Ach, Herr Jesus!« sagte ich, »das Zurzach?« Mir fiel traurigen Andenkens Fürth bei Nürnberg ein. Die Ackermannsche Gesellschaft auf einem großen Dorf! Weinen war mir näher wie Lachen. Die Frau Doktorin hüpfte im Gegenteil vor lauter Freude, was ihre Erscheinung für ein angenehmes Erstaunen verursachen würde usw.

Der Kutscher mußte fragen, wo Herr Ackermann wohnte. »Im Schwert,« war die Antwort. Nun fuhren wir fort und kamen ins Wirtshaus. Wir stiegen aus; die Doktorin voraus die Treppe hinauf und wir dann nach. Traten ins Zimmer. Madame Ackermann war auch wirklich so erstaunt, daß sie vergaß, uns willkommen zu heißen, und es dauerte ziemlich lange, bis sie zu uns endlich sagte: »Wollen Sie sich nicht setzen?« Ihr Blick sagte uns nichts, das uns ermuntert hätte, machte aber das angenehme Erstaunen. Nicht lange danach trat Herr Ackermann in die Stube in einem Nachtleibchen, Mütze und Pantoffeln, schneuzte sich mit der Hand in Ermangelung eines Schnupftuchs, wischte sich die Hand an seinem dicken Bauch ab und sagte, indem er uns die Hand bot und herzlich drückte: »Seien Sie mir willkommen!« Der Auftritt war uns so komisch wie möglich; denn wir kannten Ackermanns nicht und ihre Weisen. Doch das war dem Manne seine Art so. Und bloß Angewohnheit war's, daß er immer[103] ohne Schnupftuch ging. Da er nicht Tabak brauchte, konnte er solches leichter entbehren. Er sprach mit der Frau Doktor nicht viel. Durch sein offenes, gutes Betragen wurden wir mit heiter, und die Mittagszeit, die wir mit ihnen hielten, hielt uns schadlos für den langen Zwang auf der Reise. Und meine Zunge wurde so geläufig, daß die Frau Doktor stumm dasaß. Kurz, ich rächte mich mit Schwatzen, und was ich plapperte, war munter, witzig und fröhlich; denn die Not war ja überstanden. – Nach Tische sahen wir uns nach Wohnung um. Man wies uns zu einem Buchbinder. Er stand selbst in einem grünen Kaftan, mit einer Haarbeutelperücke, Hut auf dem Kopfe und langer Tabakspfeife vor der Haustür. Wir frugen nach dem Herrn vom Haus, weil wir ihn auch für einen Meßfremden hielten. »Bin's selbst, was steht zu Ihren Diensten?« Wir sagten, wer wir wären, und wogten gern Wohnung haben. »Hätten müssen eher hier eintreffen. Wohnungen, wegen der vielen Fremden, sind sehr rar.« »Ja, das glauben wir. Wenn es nur eine Stube oder Kammer wäre; wir wollen uns behelfen.« »Nun, ich will sehen, ob ich noch etwas im Hause leer habe.« Wir folgten ihm, und er wies uns in ein kleines Kämmerchen, wo zwei Betten standen und so eben unsere Koffer konnten gesetzt werden. Aber weder Stuhl noch Tisch hatte übrigens Raum. Doch waren wir nur froh, daß wir Dach und Fach hatten; denn die Zurzacher Messe war und ist vielleicht noch eine von den größten. Man sieht und findet Menschen von allen nur möglichen Ländern und Städten. Den Tisch mußten wir auch im Hause nehmen; denn selbst seine Menage darf kein Fremder in der Schweiz halten; jeder ist Wirt und gibt Kost, sobald er immer ausleiht. »Herr Wirt, was verlangen Sie von uns die Woche?« »Wie viel haben Sie Gage?« Wir sahen einander an. Doch gestanden wir treuherzig die Wahrheit. »Die Woche 9 Gulden.« »Das ist nicht viel und besonders hier in Zurzach.« »Ja, wir haben nicht mehr und müssen uns behelfen. Noch einmal, Herr Wirt, was sollen wir zahlen?« »Ziehen Sie nur ein, das wird sich finden; denn heute habe ich nicht Zeit.« »Aber, Herr Wirt –« »Ja, ja, lassen Sie nur Ihre Sachen herbringen! Wir[104] wollen schon fertig werden!« »Nun, in Gottes Namen! Wir bleiben ja nicht lange hier.« Also zogen wir ein, packten aus, kleideten uns an und gingen nach dem Theater, denn es war den Tag die erste Komödie.

Doch des Abends 8 Uhr ging solche an. Wurde die vier Wochen, so lange die Messe dauerte, alle Tage gespielt und des Sonntags zweimal. Das erste Stück ging des Sonntags 4 Uhr nachmittags an und das zweite nach 8 Uhr. Also in sieben Tagen acht Komödien! Den andern Tag reiste die Frau Doktorin mit Herrn Ackermann fort. Madame Ackermann wünschte mich in Zurzach noch spielen zu sehen, und ich brachte ihr alle meine Rollen, die ich gespielt hatte, auch die, die ich zum Teil bei Herrn Doebbelin einstudiert, aber nicht gegeben worden. Unter allen war keine als die Iphigenie, die ich spielen sollte. »Ja, Madame, die habe ich wohl auf der Reise gelernt, aber nur bis auf die zwei letzten Akte, die kann ich nicht. Und da ich ganz neu hier bin und keinen von der Gesellschaft kenne, wünschte ich in einer Rolle aufzutreten, die ich schon gespielt habe.« Denn niemand kannten wir von allen, die da waren, als Herrn Garbrecht und seine Frau von Schuch aus, und Herrn Curioni mit seiner Frau, der, als wir in Prag bei Locatelli waren, zweiter Tänzer war und nun bei Ackermann Ballettmeister. »Ja, Kind, ich wollte es wohl, aber ich kann hier kein ander Stück geben, als von dem ich die Zettel gedruckt bei mir habe, weil hier keine Buchdruckerei ist.« »Wenn Sie also das Stück hier geben wollten, so haben Sie ja schon bei der Gesellschaft ein Frauenzimmer, die die Rolle gespielt hat.« »Ja, das ist wohl wahr. Es ist Mad. Antusch. Sie spielt sie aber nicht gern und hat mich lange ersucht, die Rolle abzunehmen; sie kann nicht im Trauerspiel spielen.« »Aber, liebe Madame, wenn mir das nur keine Feindschaft macht! Geben Sie mir lieber eine von Ihren Rollen ab! Nur um ein Mal zu spielen.« Denn ich wollte so gerne mit der Chimene in »Rodrich und Chimene« anfangen, einer Rolle, von der ich gewiß wußte, daß ich sie richtig sagte und spielte; denn mein Vater hatte mich solche noch gelehrt. Half aber nichts. Die Schuld lag an den Zetteln.[105]

Ich mußte die Rolle vollends auswendig lernen, und Madame Ackermann befahl mir ausdrücklich, ja nicht zu sagen, daß ich diese Rolle nie gespielt hätte. »Nun aber, Madame, so werden Sie doch so gut sein und Probe ansagen lassen? Denn ich habe das Stück nie aufführen sehen und nie gelesen.« »Ja, das soll geschehen.«

Mit ziemlichem Unwillen kam ich nach Hause. Inzwischen studierte ich an der Rolle dem Sinn gemäß, was ich zu sagen hatte. Oder lernte sie vielmehr nur vollends auswendig. Denn wie konnte ich an stummes Spiel denken, da ich nicht wußte, was die anderen zu sagen hätten? Täglich erinnerte ich an Probe oder bat nur um das Stück zum Durchlesen, weil ich nicht einmal wußte, ob meine Rolle richtig abgeschrieben war. Nun kam der Herr Ballettmeister und frug: »Für was sind Sie engagiert?« Mein Bruder antwortete: »Ich als Tänzer und meine Schwester als meine Tänzerin.« Curioni wollte uns nicht verstehen oder stellte sich, uns nicht verstehen zu wollen. Um es ihm also ganz begreiflich zu machen, so sagte Karl: »Ich bin hier bei Herrn Ackermann auf dem Fuß engagiert, wie Sie in Prag bei Locatelli waren. Sie machen Ihr Ballett, und ich tanze mit meiner Schwester ein Pas de deux dem Charakter Ihres Balletts gemäß nach meiner Musik, die ich ins Orchester lege.« Denn wohl zu merken: Großer Tänzer war zwar keiner da; doch auch die wenigen durften nur das tanzen, was der Ballettmeister wollte. Die jetzigen Zeiten mögen nun anders sein; aber damals mußte man sich vorsehen, nichts von seinem Recht zu vergeben. Curioni frug, womit wir anfangen wollten. »Mit einer Komischen. Geben Sie ein Bauernballett, machen Konzert und Finale. Ich figuriere mit meiner Schwester darinnen mit und tanzen dann unser Pas de deux. Nach uns kann dann tanzen, wer will.« Das stand nun auch dem Herrn und so! nicht an.

Wir mochten nun 8 Tage etwa dagewesen sein, so wurde »Iphigenie« auf den andern Tag angekündigt. Ich ging um 9 Uhr hin. Aber da war an keine Probe zu denken. Ich bat Madame Ackermann. »Die Klara hat's!« Das war die Souffleuse. Die war auf die Bücher wie der Teufel auf[106] eine Seele. Kurz, ich bekam's nicht. Kam voller Aerger nach Hause. Den Abend kam ich aufs Theater, verließ mich auf meine gerechte Sache und spielte. Daß ich nicht so gespielt, ganz so gespielt, wie ich hätte sollen, war kein Wunder. Und laßt die größte Schauspielerin auftreten, sie leistet gewiß das nicht in einer falschen Situation, als was ich noch den Tag geleistet habe. Hier war also Chikane und Malize gegen mich schon den ersten Tag. Doch ich war jung und hübsch. Wer konnte mir schaden? Ich wurde bei jedem Abgang applaudiert, und das machte mir Mut, und kehrte mich nicht an alles Naserümpfen, wie sie hinter der Szene standen und im Grunde sich doch ärgerten, daß es besser ging, als man es nach der gesunden Vernunft hätte erwarten können.1

Den andern Tag mußte ich mit meinem Bruder tanzen, und da ging es nicht besser. Herr Curioni machte weder Konzert[107] noch Finale. Und obgleich seine Balletts sonst von 6 oder 8 Personen besetzt waren, so tanzte den Tag keins, und mein Bruder und ich sollten und mußten uns ganz allein darstellen. Auch gut; wir waren unserer Sache gewiß. Konnte keiner uns was gut machen, so konnte uns auch keiner was verderben. Mein Bruder legte eine gute Symphonie auf, und unser Ballettchen oder vielmehr Pas de deux bestand in einem »Kohlenbrennerbauer und Bäuerin.« Wir tanzten, und das Applaudieren war so stark, daß wir, so lange wir dagewesen, noch in keinem Ballett von Curioni so lauten Beifall gehört hatten. Nun bekamen wir beide nichts weiter in Zurzach zu tun und gingen müssig.

Nicht zu vergessen, als die Woche um war, baten wir den Wirt um unsere Rechnung. »Hab ohnmöglich Zeit!« Und so ging's alle Wochen und Tage und immer. »Ich habe nicht Zeit« war die Antwort. Oder daß er sich beschwerte, daß er uns müsse das Essen auf die Stube schicken; warum wir uns nicht lieber an die Tafel setzten, und daß wir uns den Kaffee selbst mahlen und nicht von ihm nähmen. Endlich, da wir vier bis fünf Wochen da waren, hieß es, wir reisten fort nach Baden. »Nun, Herr Wirt, wir müssen fort. Was sind wir schuldig?« »Gleich! Wie lange sind Sie hier?« »Fast fünf Wochen.« »Hm, hm,« murmelte er »– 5 – 5 – ja! Die Woche 9 Gulden, macht 45 Gulden.« Da standen wir wie versteinert. »9 Gulden die Woche? Herr, wo denken Sie hin? Können wir Ihnen das noch geben, was wir eingenommen? Braucht man nicht täglich Geld? Schuhe, Strümpfe, Wäsche, Nadeln, Karmin, Muschen, Handschuhe usw.? Herr! So wahr Gott lebt, das ist all mein Geld, was ich habe,« sagte meine Mutter und schüttete all ihr bißchen Geld, das sie in dem Beutel hatte, auf den Tisch. Der Wirt sah uns an, lachte und schüttelte dazu den Kopf, tat mit der Hand einen Griff in das Geld, nahm ungezählt, was er fassen konnte, – mochte nicht viel über 5 oder höchstens 6 Gulden gewesen sein. »Reisen Sie und kommen nur künftige Messe wieder! Da sollen Sie bessere Wohnung finden, will für Sie stehen lassen.« Gab uns noch Obst und kalte Küche mit auf den Weg. Wir mußten's dem Mann ins Gesicht sagen: »Solch[108] einen guten Wirt haben wir noch auf keiner Reise getroffen.« Himmel, was waren wir nun lustig! Denn recht hat uns in dem Haus kein Bissen geschmeckt, weil wir nicht wußten, was es uns kosten würde. Gern hätten wir uns wieder den Monat August gewünscht, um erst ins Quartier zu ziehen.

1

W.H.: [Die Iphigenie war ihr bei Schuch 1756 in Potsdam zuerteilt worden. Von Madame Vintzingerin in Cöln weiß sie, daß Iphigenie eine Rolle der Frau Ackermann war.] Ich wackelte auf meinem Stuhl hin und her, und das Weinen war mir sehr nahe. Als ich wegen der Probe ein Wörtchen einwarf, hatte der Achillspieler einen schrecklichen Rachen. »Probe eines alten Stückes wegen? Hier, wo wir achtmal in sieben Tagen spielen?« Und ich Schaf mußte stillschweigen, durfte nicht fragen, daß es für mich das Neueste von allem Neuen wäre. Kurz, ich mußte ohne Probe, ohne das Stück gelesen zu haben, spielen. Ich paßte auf wie ein Spürhund, ob ich auch recht stand und dergleichen. Im vierten Akt hatte ich eher wegzugehen als mit der Königin, wie in meiner Rolle stand. Da erhielt ich einen Wink von der Königin mit den Augen: »Geh fort!« Und aus dem Souffleurloch kam der lange Finger der Klara, die gleichfalls winkte, daß ich gehen solle, wie ich schon auf dem Weg war. Ueber das letztere konnte ich bei allem meinen Jammer das Lachen doch nicht lassen; denn für mich war das Schimpf, mir unter dem Spiel sagen zu lassen, wann ich weggehen müßte. So etwas wußte ich, wie ich 6 Jahre alt war.

[In der ersten Szene mit dem König hatte sie die anderen Schauspieler in Erstaunen gesetzt. Nachher aber ließ sie infolge von Unsicherheit und Angst nach.] Der Achill hatte was von Wegwenden zu mir gesagt, und ich wendete mich weg, nachdem er's gesagt hatte. Er gab mir zwar einen Wink mit den Augen. Aber wie konnte ich wissen, was er mir zu sagen hatte? Solch Zeug kam die Menge zum Vorschein.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 102-109.
Lizenz:

Buchempfehlung

Suttner, Bertha von

Memoiren

Memoiren

»Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.« B.v.S.

530 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon