Wieder in Hamburg.

[37] Der Gedanke an die liebe Verwandtschaft hatte Karoline die Heimkehr wohl besonders schwer gemacht. Schlimmes hatte sie mit ihr erlebt, Schlimmeres noch stand ihr bevor. So waren[37] ihr nach den anfänglichen Leiden ihrer jungen Ehe die Glückstage gelegentlich durch häßliche Erfahrungen mit ihrem Schwager Abendroth verbittert worden. Einmal, an einem Augustmorgen, ist sie von ihm gebeten worden, den Mittag auf seinem Garten zu speisen. Auf dringende Einladung bleibt sie sogar bis zum nächsten Tag. Die Beköstigung an diesem besteht aber mittags aus gänzlich verdorbenem Schweinefleisch, das er im vergangenen November eingekauft. Die Luft war so verpestet, daß Karoline alle Prisen Tabak, die sie nahm, nichts halfen. Niemand aß, außer dem Hausherrn, der mit vollen Backen kaute und, angeblich schnupfenbehaftet, ganz nachträglich erst fragte, ob das Fleisch nicht röche. Ueberaus sanft macht er seiner Frau Vorwürfe, daß sie sich auf nichts anderes eingerichtet, besonders da Frau Schwester Kummerfeld da wäre. Diese bittet ihm deshalb im stillen schon allerlei ab. Nachher hört sie aber von der Frau Abendroth, daß diese eine Kalbskarbonade hatte holen wollen. »Untersteh' dich!« hatte es aber da geheißen. »Hat sie heute den ganzen Tag hier gefressen; morgen habe ich sie wieder. Will sie das nicht fressen, so kann sie es bleiben lassen. Gebe keinen Schilling für sie aus.«

Damals hatte Karoline schon eine andere schlimme Erfahrung mit diesem reizenden Schwager hinter sich. Er, der ihr so liebenswürdige Briefe nach Leipzig geschickt, hatte gleichzeitig nach Kräften gegen sie gehetzt. Ihres Schwagers Hinrich unerfreuliches Schreiben stammte tatsächlich von ihm, Hinrich hatte es unter Weglassung schlimmster Stellen nur abgeschrieben. Von Verführerinnen vom Theater hatte er weiter gesprochen, die den Frieden ganzer Familien störten. Und wenn er sich dem Verlobten gegenüber gestellt hatte, als ob er die Braut zunächst bei sich einquartieren wolle, so hatte er gleichzeitig anderen Verwandten gegenüber erklärt, er denke nicht daran, sich einen Floh in den Pelz zu setzen, eine Person vom Theater in sein Haus aufzunehmen, die sein junges Weib verführen könnte; man wisse, wie die seien. Einzig die Rücksicht auf die arme Schwägerin verbietet es Karoline, diesem Schurken den Kopf so zu waschen, wie sie möchte.

Abendroth sollte nicht das einzige Familienübel bleiben. Der Tod eines Erbonkels, dessen Vermögen überschätzt wurde, brachte der jungen Demois. Fritsch einen Freier und Gatten von sehr zweifelhaftem Werte ein. Der brave, alte Herr Hilbrand war es, der gestorben war. Die tieferschrockene und bekümmerte Karoline hatte aus Gefälligkeit gegen Tante Schreiber und aus Mitleid den Diener des Hauses übernommen. Auf den Knien hatte dieser unter Tränen gedankt, wie er am Morgen auf den Knien zu Gott gebetet.

Endlich, den 17., war der Tag des Begräbnisses. Alles war nun in Trauer versetzt, Herrschaft und Bediente, Wassereimer und Marktkörbe, Teetisch und alle Schlösser an den[38] Schränken und Türen, am Haus und auf der Diele, im Zimmer, wo der Sarg stand, der prächtig war, mit vollem zinnernen Beschlag, daß nur hin und wieder das schwarze Tuch, womit er behangen war, durchschimmerte. Das Kissen und das Laken, so in aufdedudelten Falbalas um den Sarg hing, war von weißem Atlas. Der Tote selbst hatte ein Sterbekleid von weißem, geblümtem Moiree an, und das alles war garniert mit weißen Chenillienblonden, und da solche in der Mitte zusammengenäht waren, um die gehörige Breite zu haben, so kam nun jede Elle nur einen halben Taler. Wieviel Stück daraufgegangen, weiß ich nicht. Uebrigens war auch das Kleid mit vielen Dutzenden weißen, italienischen Naturellblümchen besetzt. Zweifle, ob je ein großer Monarch prächtiger im Tode dalag, hätte der müssen in Gold oder Silberstoff liegen und Geschmeide an sich gehabt haben. – 4 Pferde zogen den besten Himmelwagen, und reitende Diener, wie man sie nennt, folgten. Mein guter Mann hat mir nie gesagt, wie viel es überhaupt gekommen mit Strafgeldern, weil man sich über die gewöhnliche Verordnung der Bürger erhob, und alle Kosten. Uebertrieben war's immer. Wäre die ganze Familie so reich gewesen, nun gut, aber Fritschens waren es nicht. Und wenn man diese mehr erben lassen, wie die übrigen! Von der Verschwendung der Leichenkosten abgerechnet, würde die Familie unstreitig mehr Gotteslohn, mehr Ehre und weniger Nachrede gehabt haben.

Es ist in Hamburg gebräuchlich, daß, sobald in einer Familie Trauer einfällt, jeder Verwandte die Fensterladen zumachen muß. Ich hatte das auch tun lassen und erkundigte mich, wann ich solche wieder wegnehmen dürfte. »Sobald die Zuckerhüte im Hause sind.« Das geschah denn den Morgen nach dem Leichenbegängnis. In Trauerwagen kamen die Dienstmädchen in tiefer Trauer angefahren, hatten auf großen Schüsseln in einer Torte einen Hut Zucker stehen, mit vielem Konfekt belegt, sehr künstlich in eine Serviette gesteckt, und setzten eine solche Schüssel ab. »Was für Moden,« dachte ich, »die nur Verschwendung sind!«

Nachher mußte Vetter Kummerfeld bei der Versteigerung der schönen Möbel so gefällig sein, recht viel zu kaufen. Und er tat[39] es, daß seiner Frau die Augen hätten übergehen können und sie ihn auf schlimme Hinauftreiberei aufmerksam machen mußte. Wo Vorteil gewesen wäre, wie bei Silber, ja, das bekamen die Juden. – Jener Freiersmann aber war der 38jährige Fähnrich Pauli, ein verschuldeter, wenig hübscher, aber höflicher Herr, der immer »untertäniger Diener«, »ganz untertäniger Diener« sagte. Mutter und Tochter waren in den gar artigen, lüttgen Offizier ganz verliebt. Mit einem Freiwerber, der förmlich angehalten hat, wird ein Zusammentreffen Paulis mit der Familie bei Kummerfelds verabredet. Bei diesen wird nach altem Hamburger Brauch nicht von Heiraten oder Bündnissen, sondern nur von gleichgültigen Dingen gesprochen. Alle sind nachher gegen die Heirat, mit Ausnahme des hauptbeteiligten Trineken (sie hieß Katharina) und der besorgten Mutter. Karoline, die das Kind beim rechten Namen nennen konnte, wie man wußte, erhielt den Auftrag, Pauli, soviel wie nur immer möglich, abzuweisen. Er kommt zu ihr, versichert, ihre Nichte, wenn sie und die Familie nichts dagegen hätten, vor allen anderen Frauenzimmern zu seiner Frau zu wünschen, und bekommt über die Vermögensverhältnisse reinen Wein eingeschenkt. Demois. Fritschen Vater, seinerzeit bankrott geworden, hat durch seinen alten Patron, auf dessen Kontor er war, den Amsterdamer Botendienst erhalten, bekommt ferner eine Summe jährlich von einem Freunde, verdient aber sonst wenig und hinterläßt fast nichts. Sie selbst ist nach dem Fallissement als Kind ins Johanniskloster eingekauft. Jetzt brauchen nur noch eine oder zwei von den Alten sterben, so ist sie an der Hebung. Dann kann sie ihre Mutter ins Kloster nehmen und ist versorgt. Er solle lieber abstehen; die feurigste, zärtlichste Liebe erkalte und breche in Haß und Zwiespalt aus, wenn Mangel einschleiche. Der Unterleutnant steht in Gedanken, will mit seinem Vater, einem Ratsmusikanten, sprechen, macht ein Kompliment und trollt ab. Da er keine Familie hat, die durchsetzen könnte, daß er höher steigt, und da kaum rechtzeitig eine Epidemie unter die Hauptleute kommt, träte er besser zurück.

Die Ehe kommt aber doch zustande, und die Hochzeit findet bei Kummerfelds statt. Nach Hamburger Brauch darf man nämlich an seinem Hochzeitstage weder Wein noch Braten haben. Solches muß man mit vielen Kosten frei machen. Deswegen läßt man sich lieber den Tag von einem Freund traktieren. Man würde ziemlich vergnügt gewesen sein, wenn Abendroth nicht alle mit seiner übeln Laune angesteckt hätte. »Hole doch der Teufel die Hamburger Hochzeiten!« sagte danach Karoline zu ihrem Mann, »alles sitzt da, als wenn's ein Leichenbegängnis wäre. Wollt's lustig in meinem Haus haben; aber der verdammte Kerl verdarb doch jeden Spaß.«

Die jungen Leute nahmen ihre Wohnung um schwiegerelterlichen Hause, in dem es dadurch nicht gemütlicher wurde. Die alte[40] Tante zog darum in ihr Kloster. Doch sparte sie sich die Unterstützung für Paulis und ihre Kinder am Munde ab. Sie zählte die Tropfen Wein fast in ihr Brotwasser, das sie trank. Gelegentliche Ermahnungen zur Sparsamkeit, die sie nicht unterdrücken kann, werden aber von dem durch Familieneinfluß zum Oberleutnant beförderten jungen Ehemann sehr ungnädig aufgenommen.

Eines Mittags sind Kummerfelds bei Fritschens zu Tisch eingeladen. Als man sich nach der Mahlzeit die Hand reichte und sich wünschte, daß das Essen wohl bekommen möchte, kam H. Pauli und küßte voller Ehrerbietung seiner Klostertante die Hand und sagte, sich tief, tief bückend: »Ich habe die Ehre, Ihnen eine gesegnete Mahlzeit zu wünschen«. Dann trat er zu Karoline, ergriff ihre Hand und sagte: »Gott weiß, ich kann das Mensch vor meine Sünde nicht ausstehen.« Ganz erstarrt stand diese da. Sie begriff es später nicht, daß sie ihm nicht nach ihrem Temperament eine Ohrfeige gegeben. Aber wie er sie küssen wollte, zog sie ihren Kopf zurück, drehte sich herum und sah durch die Glasscheiben in den Hof hinaus. Schlimm für sie war es nur, daß sie arme Närrin darüber ein großes Familienstaatsverbrechen beging, daß sie nämlich vergaß, Tante Schreiber »Gesegnete Mahlzeit« zu wünschen. Ueber diese »Unverschämtheit«, dieses »verächtliche Benehmen«, diese kränkende und beunruhigende Unfreundlichkeit kommt es noch geraume Zeit später zu großen Auseinandersetzungen in der Familie, zu einer stürmischen Szene mit ihrem Mann usw.

Als sie am 1. Januar 1774 mit ihrem Neujahrsgeschenk zu Madame Pauli ging, findet sie wieder einmal verstörte Gesichter vor. Einmal aus dem Zimmer gerufen, hört sie, wie der Oberleutnant in seinem lispelnden, quiekenden Ton die denkbar derbste Bezeichnung seiner Mißachtung für die ganze Familie herausdonnerte. Dem furchtbaren Spektakel, der sich darauf erhebt, bleibt sie auf dem Hof möglichst lange fern, bis es ihr zu kalt wird. Nachher gibt's neuen Lärm, auch einen gefährlichen Anfall des alten Hausherrn. Mit einem »Hol der Teufel solch ein Fressen!« macht sich Karoline schließlich Luft. Nun brach's wieder los von allen Ecken. Sie zankten sich nach Herzenslust und sagten sich die abscheulichsten Sottisen. – Leider erinnerten bei Kummerfeld selbst auch manche Unliebenswürdigkeiten daran, daß er der Verwandte solcher Leute war.

Den 7. September 1774 kam ihr Bruder nach Hamburg. Er wohnte diesmal nicht bei Kummerfelds im Hause, sondern sollte nur den Tisch bei ihnen haben. Er, der nicht gern schmarotzte, wollte den Wein durchaus nicht umsonst haben, sondern hielt sich seinen eigenen, und Karolinens Mann nahm es zu ihrer großen Beschämung an. Auch die Verpflegung seiner zwei Windspiele bezahlte Karl selbst. Er hatte sich zum Ballett bei Madame Ackermann engagiert. Er gab ein Ballett her »Die Fischer«, wo er einmal mit getanzt, aber vermöge des Schadens, den er sich[41] bei dem Schlooßbrand in Weimar zugezogen, sich unfähig fühlte und beständig kränklich war. Nicht gewohnt, Gage zu nehmen und nicht zu arbeiten, ging er wieder von Madame Ackermann ab, lebte sehr stille bei sich und den Geschwistern und nahm Dr. Dahl an, der ihm den Bruchschaden zu kurieren anfing. Bei einer kleinen Zwistigkeit unter den Verwandten setzt man gelegentlich auch ihm gegenüber alle gewöhnliche Höflichkeit aus den Augen, was seine Schwester nicht wenig verdrießt. Gegen Ende des Jahres wird er sehr krank und liegt ohne Hoffnung. So trat man ins neue Jahr 1775. Karoline hat zwischen den beiden, wenig miteinander harmonierenden Männern, dem pflegebedürftigen Bruder und dem auf ihre Liebe eifersüchtigen Gatten, eine schweren Stand. Beide pressen ihr oft die bittersten Tränen ab. Im Februar besserte es sich mit Karl, jene Reibungen indessen blieben. Aber Kummerfeld sagt doch von sich aus für Frau und Schwager zu, als Professor Nölting und Frau eine gemeinsame Spazierreise nach Lübeck vorschlagen.

»Der 22. Jun. war dazu angesetzt,« mit diesen Worten bricht die Erzählung dieses Bandes ab. Nachzutragen ist noch, daß in ihm öfters von Kummerfelds leichtsinniger Gutmütigkeit gegen seine Verwandten gesprochen wird. Er ist, oft ohne Vorwissen seiner Frau und ohne Rücksicht auf ihre Zukunft, viel zu freigebig. Wesentlich ergänzt werden Mitteilungen dieser Art aber durch den Weimarer Band. – Da ist z.B. die Familie Schwerdtner, deren weiblicher Teil nicht viel taugt. Die Fräulein Töchter sitzen immer beim Filetstricken, statt sich um die Küche zu kümmern, in der sie sich die Hände fuhl (schmutzig) machen würden. Da der Vater stirbt, müssen sie besondere, Trauerkleider für Sonntags. Alltags und fürs Haus, ferner schwarze, geschliffene Steine für ihre Ohrgehänge und Ringe, ja sogar, weil man doch bei so tiefer Trauer nicht bunt im Bett liegen kann, schwarze Nachtkamisölchen von geringem Kattun haben. Die Mama hatte sich allerdings nur ein paar Witwenkontuschen machen lassen, den Schmuck aber geborgt. Diese ganz verschuldeten Leute wollen auf ihr gemietetes Sommerlandhaus, ihren »Hoff«, auf keinen Fall verzichten. Das Weinen, Schreien und Heulen der Mademoisells, daß sie kein Pläsier im Sommer haben sollen, ist so schrecklich, daß Herr Brückner, der in der Rolle des Schwätzers so meisterhaft und unnachahmlich gespielt, nur ein Pfuscher gegen die war. Für diese Leute hat Kummerfeld weitgehende Bürgschaften übernommen.

So hat er nach rechts und links Wohltaten ausgeteilt, innerhalb und außerhalb der Familie. Verhängnisvoll für ihn war vor allem die Bekanntschaft mit dem ehemals reichen, aber durch Schlampampenwirtschaft ruinierten Ehepaar Most, das er in sinnloser Weise unterstützte.

[42] Das alles erfuhr Karoline nur zum allerkleinsten Teil zu Lebzeiten ihres Mannes, so daß sie kaum einmal mit vernünftigen und energischen Vorstellungen hemmend eingreifen konnte. Mit ihrer Sparsamkeit erleichterte sie ihm seine wahnsinnige Generosität. Hätte sie über das alles Bescheid gewußt, so hätte sie mit verschwenden wollen. Dann wäre Kummerfeld eher zur Vernunft gekommen und wäre vielleicht gesund geblieben. Sie hätte die Rolle der Frau von Ehrlichsdorf in der Komödie »Der Verschwender« gespielt.

Mit glücklicher Anlage eines zusammengesparten Kapitälchens von 400 Mark Banko bei der Hamburger Kammer kommt sie zu einer größeren Summe, die sie auf Leibrente gibt. Bon ihrem Mann in eine Christenmäklerkasse eingekauft, die auf schwachen Füßen steht, bewirkt sie auf den Rat einer Freundin ihren Einkauf in die sicherere Kahlenberger Witwenkasse. Aber wie ungenügend ist diese Versorgung!

In seinen selbstverschuldeten, aber ängstlich verheimlichten Sorgen und unter dem Einfluß der nahenden Krankheit wird Kummerfeld immer reizbarer. Zehnmal des Tags fängt er nun Zank und Streit an, und eben so oft bittet er wieder um Vergebung. Er wird ganz der gutherzige Murrkopf. Hassen kann sie ihn nicht. Aber hätte sie alles vorher gewußt, so wäre sie drei Jahre früher zum Theater zurückgekehrt.

In den ersten Wochen des Jahres 1776 bekommt sie aus Leipzig von Professor Oeser Briefe mit Silhouetten von ihm, seiner Frau und seinen Kindern. Auf ihres Mannes Veranlassung reist sie darauf mit Kaufleuten zur Ostermesse nach Leipzig, wohin auch gerade Karl mit Seyler von Dresden herüberkommt. Am 13. April reist sie ab. Kummerfeld gibt ihr bis zum Schinkenkrug das Geleite. Von da ab reist sie, alle traurigen Gedanken hinter sich lassend, vergnügt weiter. Sie wollte kein Bumuchelskopf sein und den andern die Reise verderben. Zwölfmal hatten jene die Reise zusammen gemacht, aber so lustig noch nie.

Im lieben, lieben Leipzig hatte sie himmlische Tage. Bald aber kamen mit bebender Hand geschriebene Briefe von ihrem Manne, die, gänzlich konfus, wie sie waren, Entsetzliches fürchten ließen. Dann beruhigt sich Karoline wieder und läßt man sich 400 Stück Austern, die Kummerfeld schickt, schmecken. Also einigermaßen beruhigt, reist sie am 15. Mai nach Hamburg ab. Heimgekehrt, findet sie ihren Mann in schrecklich aufgeregtem Zustand vor. Doch ist er glücklich, sie wieder zu haben. Hat er doch gefürchtet, sie habe von seinen gefährlichen Finanzunternehmungen gehört und wolle überhaupt nicht wiederkommen.

Eine Freude soll sie noch haben. Ihre Freundin Fleischer, deren 17järiger Sohn sich nicht hat abhalten lassen, mit den braunschweigischen Truppen nach Amerika zu gehen, kommt zu[43] Besuch. Aber diese wird Zeugin schlimmer Szenen, in denen sich bereits der spätere Wahnsinn Kummerfelds bedrohlich anzeigt.

1777, den 18. Januar, schickte mein Herr Schwager Abendroth und ließ mir sagen, ich möchte zu ihm hinkommen. Aber mein Mann dürfte es ja nicht wissen. Ich konnte den Tag nicht und versprach, den folgenden des Morgens zu kommen. Was wird es wieder sein? Sicher hat dein Mann wieder einen Streich gemacht, den du in Ordnung bringen sollst. Nun, wir werden es ja erfahren. Sonntag morgen, den 19. Januar, sagte ich, ich ginge nach der Kirche, ging aber zum ersten Male in meinem ganzen Leben mit einer Lüge vorbei und zu Herrn Abendroth.

Kaum hatte ich einen guten Morgen gesagt, mußte sich seine Frau entfernen, und er schrie ihr nach: »Ich bin für keinen Menschen zu Hause!« Nun, was soll das werden? dachte ich und war in der ruhigsten Verfassung. Herr Abendroth, mit dem ganzen Gesicht und Ton, als ob er einen Dieb, Straßenräuber und Mörder in der Inquisition hätte, hub an: »Frau Schwester, was fehlt Ihrem Mann?« Ich, mit dem ganzen Bewußtsein der Wahrheit, antwortete: »Das weiß ich nicht. Das mag Gott wissen.« Herr Abendroth: »Sie wissen's nicht? Wissen Sie denn nicht, daß er um seinen Dienst kommen soll, daß er so viele Fehler macht, daß keiner mehr von seinen Kollegen es neben ihm aushalten kann? – Wissen Sie denn nicht, daß er – –, daß er – –, daß er – –, daß er – –, daß –, daß –, daß – – –.« Ueber alles das »Wissen Sie nicht« und folgenden »daß, daß« ziehe ich einen Vorhang. Aber es waren so viele herzdurchbohrende »Wissen Sie nicht« dabei, daß ich dachte, der Schlag hätte mich auf der Stelle getroffen.

Tränen? – Oh, die hatte ich keine. Die Wohltat gewährte mir mein Unglück nicht. Auch war's zu groß, um weinen zu können. Wäre ich in Ohnmacht hingesunken, vielleicht wär's besser gewesen mit mir. Mein Hals war trocken, meine Zunge klebte am Gaumen an. Mein Herz schlug nicht; es lag wie tot. Mein ganzer Körper Eis. Das erste, dessen ich mich besinnen kann, daß ich sprach, war: »Halten Sie ein – Warten Sie –, nicht so schnell – – ich, ich ersticke.«[44] Oh, geben Sie mir ein Scheibchen Zitrone oder nur einen – einen einzigen Tropfen Wasser. Ich bitte Sie um Gotteswillen, nur einen Tropfen Wasser! Und, glaubt ihr es, die ihr dieses lest? Glaubt ihr es? – Er gab mir keinen! So kann ich sagen: Ich flehte in dem größten meiner Leiden um einen Tropfen Wasser, und er wurde mir nicht gereicht, mir nicht. Ich sollte auf der Stelle umkommen, das mußte der Wille sein, um nachher machen zu können, was sie wollten.

Ich ging fort um die Zeit. Oder vielmehr er sagte: »Nun ist's Zeit, daß Sie gehen, damit es Ihr Mann nicht merkt, daß Sie nicht in der Kirche waren.« Wie ich ging, wie ich nach Hause kam?! Das weiß nur der, der mir die vielen Prüfungen aufgelegt. Auch wer mir alles auf den Straßen begegnet sein mußte, weiß ich nicht. Nur das erfuhr ich nach der Zeit, daß die Leute, die mir begegnet und die mich gekannt hatten, gesagt: »Schade um die Kummerfeld! War doch eine brave Frau. Aber die Streiche ihres Mannes müssen sie zum Trunk gebracht haben. Wir haben sie begegnet und sie war besoffen.«

Daß ich also den Sonntagmorgen wäre besoffen gewesen, kam bald in der Stadt rund. Den Montagmorgen wurde es an der Börse und auf dem Rathaus gesagt. Es kam auch vor die Frau Lizentiat Dresser schon den Sonntag. Hielt es für einen witzig sein sollenden Einfall eines müßigen Kopfes. Nun aber auch ihr Mann, der Montag vom Rathause mit der Nachricht kommt und sagt, die ganze Stadt wäre davon voll, das Gerede wäre allgemein, da sagte sie: »Was, die Kummerfeld? Die Wassertrinkerin? Die alle 14 Tage in meinem, ich in ihrem Hause bin? Nimmermehr. Ach, vielleicht weiß sie –, hat erfahren –. Ich muß hin, muß wissen, was sie macht.« Madame Schütt sagte: »Ich will erst hin, will mir schon ein Gewerbe machen.« Sie kam, und es hieß, niemand wäre zu Hause, mußte fort. Ich verkroch mich, wollte niemand sehen. Doch sah Madame Schütt an den verweinten Augen meines Gretchens, daß es nicht richtig im Hause wäre.[45]

Den Tag darauf kamen beide guten Frauen zugefahren mit dem festen Vorsatz, das ganze Haus nach mir abzusuchen, bis sie mich fänden, sich nicht, ohne mich zu sehen, abweisen zu lassen. Denn es wurde die Tage von nichts gesprochen, als daß die Kummerfeld jetzt söffe und schon des Morgens besoffen wäre auf der Straße gegangen. Sie fanden mich im dunkeln Zimmer, alle Vorhänge zu, und mich starr auf einen Fleck sehend. »Ach Gott!« schrien die Weiber, »ist das unsere Kummerfeld?« Auch mein guter, rechtschaffener Doktor Dahl kam, der Mann, der der Medikus meiner Mutter und meines Bruders war, der die kleine Schulzen kannte, auch die reiche Kummerfeld, die so beneidet worden ihres Glücks wegen, das sie in Hamburg gemacht.

Mit Tränen im Auge hatte Herr Dr. Dahl den guten Frauen gesagt: »Unsere Kummerfeld ist hin. Mit ihrem Verstand ist es vorbei. Sie wird wie Herrn Niklas Adolph Schmidt seine Frau. Nichts kann sie retten, als eben so eine Erschütterung, wie die, die sie gehabt. Da kann eines von beiden sein: entweder sie stirbt, oder sie bekommt ihre Sinne wieder.« – Ich sollte sie wieder haben. Denn mein Mann verlor den Rest seines Verstandes und stieg mir des Morgens zum Fenster hinaus. Weg war er, und ich wußte nicht, wo er hingekommen. Dieser neue Schlag brachte das zu Eis gewordene Blut wieder in Wallung. Die dreistündige Todesangst, in der ich um seinetwillen war, machte mich wieder zur Kummerfeld.

Ich wußte nun seit dem 31. Januar, daß mein Mann raste. Nicht mein Tagebuch der letzten Schreckensszenen! Oft waren wir alle unseres Lebens nicht sicher. Einmal war die Raserei so heftig, daß er sich alle Kleider vom Leibe riß und nackend im Zimmer herumlief. Schaudervolle Auftritte hatten wir. Was war meine Ruhe vom 19. Januar bis zum 27.? Und von dem 27. Januar bis zu dem 17. Februar war mein Jammerrock, wie ich ihn nannte, nicht von meinem Leibe gekommen. Keine reine Wäsche! Geschlafen, ruhig, fest geschlafen in diesen 23 Tagen: mehr nicht wie neun Stunden. Denn meine Freundinnen sperrten mich dreimal dazu ein. Diese zwei Freundinnen, die abwechselnd Tag und[46] Nacht bei mir aushielten, waren Madame Schütt und Mademoiselle Willers. Und du, mein treues Mädchen, mein Gretchen, nie vergesse ich dich! Nie, wie du des Nachts meine Hand ergriffst, mit deinen Tränen sie benetztest und sagtest: »Will mich denn Madame auch nicht behalten? Ich bleibe bei Ihnen.« Hätte ich nicht auch so gute Menschen gefunden, so lebte ich nicht mehr. Ich hätte mir längst das Gehirn zerschmettert.

Noch hoffte ich auf seine Genesung. Ach, wenn er seinen Verstand wieder bekömmt, wenn er hören wird, mit welcher Treue und Liebe du ihn gewartet, gepflegt, dann wird deine Ehe erst glücklich werden. Welchen Eindruck wird es auf sein gutes Herz machen! So schmeichelte ich mir. Die fortwährenden Unruhen, die Tag und Nacht in meinem Hause waren, machten meine Nachbarn unwillig. Mir wurde es endlich von meinen Freundinnen gesagt, gegen ihren Willen, weil sie mich schonen wollten. Endlich mußten sie und sagten, die Nachbarn murrten zu sehr, ein Wahnsinniger gehöre auf den Pesthof (den Ort, wo dergleichen Unglückliche hingebracht werden). Ich antwortete, ich bedauerte meine Nachbarn. »Bestehen sie darauf, und es wird nicht anders, wohl, so muß ich Anstalt machen. Ich lasse meinen Mann auf den Pesthof bringen, aber ich gehe mit. Ich weiche nicht von ihm. Ich vertraue meinen Mann keinen fremden Händen an.«

Die Nachbarn lassen darauf Mitleid walten. Am 19. Februar nahmen die Schrecken mit Kummerfelds Tod ein Ende. Karoline ist Witwe. Sie fühlt ganz das Schreckliche dieses Worts. Unmittelbar vor seinem Ende hatte ihr Gatte noch auf ein paar Stunden seinen Verstand wieder bekommen und für sein gutherzig-leichtsinniges Wirtschaften ihre Verzeihung erflehen können.

Wie er die Worte wimmerte: »Ach, wenn nur meine arme Frau versorgt wäre!« Da hatte er mich nie beleidigt, da hatte ich nichts, nichts für ihn getan, noch viel zu wenig gelitten, geduldet. Wenn ich nur noch mehr, nur recht viel, viel, viel hätte zu vergeben gehabt! O Gott, du weißt es. Diese Tränen bezeugen es, die mit Macht, da ich dieses schreibe, aus meinen Augen stürzen, bezeugen die Wahrheit. O wäre ich damals in diesem Gefühl mit ihm gestorben![47]

Warum verdrängte sich dieses Gefühl? Warum gab es Stunden, daß mir sein Andenken gleichgültig ward? Warum muß ich diese Stunden oft noch haben? Der Mensch bleibt Mensch. Augenblicke, Stunden können ihn in eine höhere Sphäre versetzen, können ihn selbst Engeln gleich machen. Aber darinnen erhalten kann er sich nicht. Ich nicht!

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 37-48.
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