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[238] 1816
In Eduards Gesellschaft, der seine Ferien zu einem kleinen Ausfluge nach Oberitalien benutzen will, traten wir Sonntags, den 2. September, unsre Reise an. Um ein Uhr kamen wir in Kandersteg an und nahmen sogleich vier Pferde mit ebensoviel Führern, um uns über die Gemmi zu transportieren. Auf dreien ritten Dorette, Emilie und Ida, das vierte trug unser Gepäck. Eduard und ich zogen es vor, zu Fuß zu gehen. Eine Viertelstunde diesseits Kandersteg beginnt das Steigen und dauert ununterbrochen ziemlich steil wohl 21/2 Stunden. Dann führt der Weg um das Gellihorn eine Strecke gerade aus, bis er sich eine Viertelstunde von Schwaribach von neuem erhebt. – Das Wetter war bisher recht freundlich gewesen; hier aber erreichte uns ein Schloßenschauer, der sich bald in Regen auflöste und uns tüchtig durchnäßte. Da es überdies schon ziemlich spät war und wir die größere und beschwerlichere Hälfte des Weges noch vor uns hatten, so beredeten uns die Führer leicht, in Schwaribach zu übernachten. Dies ist freilich nur ein rohes Blockhaus und hat mit den Hotels in den Tälern der Schweiz nichts gemein, als daß man hier so gut wie dort überteuert wird. Da uns jedoch eins der beiden bewohnbaren Zimmer allein eingeräumt wurde und wir darin außer einer reinlichen Streu für uns Männer ein großes Bett für Dorette und die Kinder fanden, so verbrachten wir doch die Nacht ganz erträglich. Etwas schauerlich war uns freilich zu Mute, als wir uns vor dem Einschlafen erinnerten, daß die Mordgeschichte in Werners »Vierundzwanzigsten Februar« hier vor sich geht!
In der Nacht war Schnee gefallen, und es war daher bei unserm Aufbruch am anderen Morgen bitter kalt. Ich schickte deshalb drei Pferde zurück und ließ Dorette und die Kinder ebenfalls zu Fuß gehen, da[239] ohnehin das Hinabsteigen in das Leukerbad nicht zu Pferde geschehen kann. Bei Schwaribach hört alle Vegetation auf, und selbst die schöne Alpenrose wird nicht mehr gefunden. Der Weg erhebt sich bis zum Daubensee nochmals sehr steil, führt dann an diesem, der zur Hälfte mit Eis bedeckt war, eine halbe Stunde durch ein ödes Tal hin, in welchem Grabesstille herrschte, zur letzten Steigung, die, weil sie über Eis-und Schneefelder führt, die beschwerlichste von allen ist. Oben angekommen, war uns leider nur ein einziger Blick in den sich zu unsern Füßen öffnenden Abgrund vergönnt; denn eine Minute später umhüllte uns ein Nebel, der kaum einige Schritte weit sehen ließ. Ganz unwillkürlich fiel uns das Goethesche »Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg? Im Nebel zieht das Maultier seinen Weg« ein. Wir mußten nun blindlings dem Packpferde und dessen Führer folgen und uns ganz aneinander schließen. Der Weg führt unerhört steil zwischen Felsenklüften, ja einige Male zwischen senkrechten Felsenwänden hinab, in die ein schmaler Pfad gesprengt ist. Da, wo er sich wendet, hängt der Hals des Pferdes über dem Abgrunde, und der Führer muß es an einem an der Ladung befestigten Strick oder gar am Schwanze mit aller Kraft halten, damit das Übergewicht es nicht hinabstürze. Hier ist der Blick in die Tiefe, die uns der dichte Nebel verhüllte, so schwindelerregend, daß viele Kranke, die zum Leukerbad wollen, nicht den Mut haben hinunterzusteigen und vorziehen, nachdem sie schon das Ziel ihrer Reise im Auge haben, noch einen ungeheuren Umweg von vielleicht zwanzig Meilen über Bern, Freiburg, Lausanne und durch das Wallistal zu machen.
Nachdem wir länger als eine Stunde bergab gestiegen waren und noch keine andere Vegetation gefunden hatten als dann und wann ein in Felsspalten aufblühendes Veilchen, kamen wir plötzlich in eine Region, wo der Nebel aufhörte und uns nun ein überraschender Blick tief unter uns auf das Leukerbad vergönnt war. Hier rasteten wir einen Augenblick, um uns von der höchst ermüdenden Anstrengung des so steilen Hinabsteigens ein wenig zu erholen. Doch bedurfte es noch vieler solcher Ruhepunkte, ehe wir das Bad um elf Uhr erreichten. Die Kinder allein waren nicht ermüdet und uns immer voraus.
Während wir uns in dem großen und gut eingerichteten Wirtshause erquickten, ließ ich andre Pferde holen, und neu belebt setzten wir um zwei Uhr unsre Reise fort, Dorette und die Kinder reitend, Eduard und ich gehend. Das Leukerbad hat eine Schwefelquelle, die aus dem Wirtshause kochend heiß aus der Erde sprudelt und für Gichtkranke sehr heilsam ist. Es wird sehr besucht und würde noch mehr besucht werden,[240] wenn der Weg dahin für Kranke nicht gar so beschwerlich wäre. Diese müssen sich von Trägern über den Berg tragen lassen. Viele sind aber oben auf der Dauber schon umgekehrt, weil sie die fürchterlichen Abgründe vor sich sahen, und haben den andern, weniger beschwerlichen Weg durch das Wallis genommen. – Wir fanden den Weg vom Bad bis Leuk aber auch noch sehr wild, und es möchte sehr schwer halten, eine Fahrstraße hier anzulegen. Von der letzten Höhe vor Leuk hat man eine ausgezeichnete Aussicht in das untere Wallistal; man kann den Lauf der Rhone bis in die weiteste Ferne verfolgen. – Da in Leuk für den Augenblick durchaus keine Pferde zu bekommen waren, so mußten wir uns wohl entschließen, in dem schlechten Wirtshaus zu übernachten. Am Dienstag, d. 4., setzten wir auf 2 Rietwägeli unsere Reise fort. Wir hatten Pferde bis Brig genommen, wo wir am Mittag ankamen. Das Wallistal ist sehr schmal und wenig angebaut. Man sieht viele sumpfige Wiesen und nur wenige Mais- und Kartoffelfelder. In Brig beginnt Napoleons berühmte Simplonstraße, ein Riesenwerk, das nicht genug bewundert werden kann! Hier nahmen wir ein zweispänniges Fuhrwerk bis Domodossola. Die Straße ist in den Bergschluchten so künstlich hin und her geführt, daß sie sich nie mehr als fünf Zoll auf die Klafter erhebt, und daß schwer beladene Wagen, ohne zu hemmen, hinabfahren können. Besonders merkwürdig sind mehrere kolossale Brücken, die über tiefe Täler und Felsenklüfte führen, sowie die Strecken des Weges, die durch den Felsen gesprengt sind und unterirdischen Gewölben gleichen. Einige davon sind so lang, daß sie das von beiden Seiten einfallende Licht nicht vollständig zu erleuchten vermag. Alle Stunde findet man ein Haus, in welches man sich bei plötzlich eintretendem ungestümen Wetter flüchten kann. Im dritten dieser Häuser ist die Post, im sechsten das Zollhaus, wo wir einige Laubtaler für Wegegeld bezahlen mußten. So ansehnlich diese Abgabe auch ist, so reicht sie doch nicht aus, um die Straße in gutem Stande zu erhalten, und man fürchtet, daß sie nach und nach verfallen werde. Was man schon jetzt im Auslande von diesem Verfall er zählt, ist jedoch ungegründet; denn wir fanden sie, einige von Lawinen weggerissene und noch nicht wieder hergestellte Barrieren abgerechnet, in bestem Zustande. Auf der höchsten Höhe hat man den Bau eines kolossalen Hauses begonnen, in dem viertausend Mann Truppen würden übernachten können, wenn es vollendet wäre. Der Bau ist aber seit Napoleons Sturz liegen geblieben und wird nun bald in Trümmer zerfallen. Weit unten liegt das alte Hospiz, wo arme Reisende unentgeltlich verpflegt werden. Der Simplonpaß ist zwar nicht so hoch wie der über die[241] Gemmi, doch hört auch hier alle Vegetation auf, und selbst im Dorfe Simpeln, wo wir übernachteten, nachdem wir eine Meile bergab gefahren waren, fanden wir es noch sehr winterlich.
Mittwoch, der 5. September 1816, war der glückliche Tag, wo mein seit der frühesten Kindheit gehegter Wunsch, das Land zu sehen, »wo die Zitronen blühen«, endlich in Erfüllung gehen sollte! Nachdem wir noch zwei Stunden bergab gefahren waren, kamen wir an die lombardische Grenze und fanden uns bald mitten in den Süden versetzt. Nun sahen wir Wälder von süßen Kastanien und in den Gärten Feigen, Mandeln und prächtige Festons von Weinreben, die von einem Baum zum andern gezogen waren und voll der herrlichsten Trauben hingen. Mit jedem Schritte bergab nahm die Wärme zu; anfangs wohltuend, doch bald recht lästig. Um Mittag kamen wir nach Domodossola, einer kleinen, aber hübschen Stadt. Hier wurden wir im Hotel des Capello verde zum ersten Male auf gut italienisch geprellt und an die Vorsicht gemahnt, mit dem Wirte im voraus über den Preis für die Bewirtung übereinzukommen. Nachmittags fuhren wir noch bis Baveno, welches dicht am Ufer des herrlichen Lago maggiore, den berühmten Inseln gegenüber liegt. Hier hatten wir zwar den Preis für unser Nachtlager im voraus bedungen, mußten aber doch, wie wir später erfuhren, die Hälfte zuviel bezahlen. Am 6. früh besuchten wir die so oft und enthusiastisch geschilderten Borromäischen Inseln, Isola Madre und Isola Bella. Es ging uns aber damit wie mit andern von exaltierten Reisenden gepriesenen Orten, sie befriedigten unsre überspannten Erwartungen nicht. Am besten gefiel es uns noch auf Isola Madre, wo wir zum ersten Male die kräftige südliche Vegetation an uralten, majestätischen Lorbeer-, Zitronen-, Pomeranzen- und Feigenbäumen sowie an andern südlichen Gewächsen bewundern konnten. Freilich müssen diese Gewächse hier noch, so gut wie bei uns, im Winter bedeckt werden, um sie gegen den Frost zu schützen; ihr Wuchs ist aber doch viel kräftiger und die Früchte sind viel saftiger und größer als die unsrer Gewächshäuser. Auf Isola Bella befindet sich ein großer, nicht ganz vollendeter und jetzt schon im Verfall begriffener Palast, der einige schöne Säle und in diesen mehrere vorzügliche Gemälde enthält. Den übrigen Raum der Insel nimmt die berühmte Gartenanlage ein, die sich vom Ufer des Sees in zehn Terrassen erhebt. Das Innere wird durch Mauerwerk gestützt, das sich von Terrasse zu Terrasse in immer höhern Bogen wölbt. Die Anlage ist kolossal, aber in schlechtem, altfranzösischem Stile. Besonders abstoßend und das Auge beleidigend sind die vielen schlechten Statuen auf den Gängen und an den Treppen. Die Terrassen sind mit[242] Blumenbeeten und vielen noch südlichern Gewächsen geschmückt, die in den Gewölben überwintert werden. Alles stand im herrlichsten Flor und hauchte uns unbekannte Wohlgerüche aus. Von der Höhe der Anlage hat man eine weite, entzückende Aussicht nach den jenseitigen Ufern des Sees, nach Palanza, Intra, Laveno und den schön geformten Bergen, welche die Aussicht begrenzen. Soweit das Auge reichte, war alles mit dem reinsten und dunkelsten Blau überwölbet und so hell erleuchtet, daß man die entferntesten Gegenstände deutlich erkennen konnte. Dies und die milde balsamische Luft gaben uns hauptsächlich das Gefühl, ein südlicheres Klima betreten zu haben. Bevor wir die Insel verließen, führte uns der Gärtner noch zu einer historischen Merkwürdigkeit, zu dem Namenszuge Napoleons, den er als Konsul kurz vor der Schlacht bei Marengo in einen Lorbeerbaum eingeschnitten hatte.
Dasselbe Boot, das uns zu den Inseln brachte, führte uns noch sechs Stunden weiter zu dem am Ende des Sees gelegenen kleinen Städtchen Sesto Calende. Auf dieser Fahrt hatten wir noch manche Ansicht der reizenden Ufer. Besonders gut nahmen sich Belgirate, Arona und die kolossale Statue von St. Carlo Borromeo aus. In Sesto Calende fanden wir schon ganz den italienischen Schmutz und die einem deutschen Gaumen so widrige ölkocherei. Am 7. machten wir dann mit einem mailändischen Kutscher die letzte Tagereise bis Mailand durch flache uninteressante Gegenden und traten in einer Pensione Suizzera ab, die uns wegen der deutschen Reinlichkeit empfohlen worden war.
Mailand, den 9. September [1816]
Das erste, was wir gestern von Mailands Merkwürdigkeiten besahen, war der Dom. Dieses prächtige Gebäude, an welchem nun beinahe fünfhundert Jahre fast ununterbrochen gearbeitet wird und welches doch immer noch nicht vollendet ist, kommt im Stile und der Architektur dem Straßburger Münster am nächsten, ist in der Form aber doch sehr verschieden von jenem. Es hat die Gestalt eines länglichen Kreuzes; da, wo die beiden Linien zusammenlaufen, steht der Hochaltar, und über ihm wölbt sich eine majestätische Kuppel, auf welcher der zierliche Turm in Form einer Pyramide erbauet ist, die auf ihrer Spitze eine kolossale bronzene Statue der hl. Jungfrau trägt. Unzählige andre, gotisch durchbrochene und mit Nischen und Statuen verzierte Pyramiden ruhen teils auf den Pfeilern der äußeren Mauern, teils auf dem mit Marmorplatten belegten Dache und erheben sich immer mehr, je mehr sie sich dem Turme nähern. Auf der Spitze einer jeden derselben[243] prangt die Statue eines Heiligen. Der ganze Bau, vom Grunde an bis zur höchsten Spitze, ist von weißem polierten Marmor, welcher bei Baveno am Lago maggiore gebrochen und auf dem Ticinokanal hierher gebracht wird. Während Napoleons Regierung ist mit großem Eifer gearbeitet worden und nicht nur die Fassade des Haupteinganges (die nur bis zur Höhe der Tür geführt war), sondern auch alle Pyramiden der äußern Mauer vollendet worden. Auf den ersten Blick und von unten gesehen scheint das Gebäude jetzt vollendet; steigt man aber auf das Dach und den Turm, so sieht man, wieviel noch fehlt. Wäre Napoleon an der Regierung geblieben, so wäre alles binnen zwei Jahren vollendet gewesen; jetzt wird zwar auch noch gearbeitet, aber nicht mehr mit dem Leben.
Die Pfeiler und Nischen sind im gotischen, die Türen und Fenster im römischen Stile und die Statuen griechisch bekleidet. Alle Bildhauerarbeiten, deren es an großen und kleinen Statuen, an Haut- und Basreliefs, an Arabesken und andern Verzierungen eine ungeheure Menge an diesem prachtvollen Bau gibt, sind von berühmten Meistern, und es scheint mir, daß die neuen Arbeiten die alten noch an Schönheit und Korrektheit übertreffen. Das Innere der Kirche ist wegen der gemalten Fenster etwas finster, aber deswegen und bei der imposanten Größe und Höhe nur um so mehr zur Erregung religiöser Gefühle geeignet. Unter den vielen im Innern der Kirche befindlichen Statuen wird die von Carl Borromeo am meisten geschätzt. Sie soll dadurch einen großen Kunstwert besitzen, daß an ihr alle Muskeln, Sehnen, Adern und hervorstechenden Knochen zu sehen sind. Ob Carl Borromeo bei seinen Lebzeiten so skelettartig wie ein anatomisches Präparat ausgesehen hat, steht billig zu bezweifeln. Die Gläubigen wallfahrten fleißig zu ihr, um durch Berührung ihre kranken und krüppelhaften Glieder zu kurieren. Ob es hilft, weiß ich nicht. Von der Galerie des Turmes hat man eine weite Aussicht, gegen Norden von den Schweizer Alpen und gegen Süden von den Apenninen begrenzt.
Heute gegen Abend besuchten wir den Giardino Publico, wo sich uns ein ähnliches Schauspiel darbot wie an einem Sonntage im Prater. In der Mitte der großen Hauptallee eine doppelte Reihe von z.T. sehr prächtigen Equipagen mit ihrem geputzten Inhalt, zu beiden Seiten ein Gedränge von Fußgängern. Hier hatte man Gelegenheit sich zu überzeugen, daß Mailand nicht nur eine große, sondern auch eine reiche Stadt ist. Auf dem Rückwege traten wir in eines der schön verzierten Kaffeehäuser, deren es in dieser Gegend der Stadt eine ungeheure Menge gibt, und erfrischten uns mit Eis, welches hier wie in ganz Italien[244] sehr gut und sehr wohlfeil ist (das Glas 5 Soldi, etwa 18 Pfennig sächs.).
Abends besuchten wir das Theater della Scala, wo man »la statua di bronzo«, eine Oper semiseria von Soliva, einem jungen Komponisten, Eleven des hiesigen Konservatoriums, gab. Die Größe und Schönheit des Hauses überraschte uns bei unserm Eintritte. Es ist nach dem St. Carlo-Theater in Neapel das größte in Italien und hat ein großes Parterre und sechs Reihen Logen übereinander, faßt aber doch nur, weil man sehr verschwenderisch mit dem Platze umgegangen ist, etwas über 3000 Menschen. Der Eintrittspreis ist auf allen Plätzen derselbe: nämlich zwei Lire di Milano. Das Orchester ist sehr stark besetzt, vierundzwanzig Violinen, acht Contrebässe, ebenso viele Violoncells, alle gewöhnlichen Blasinstrumente, Posaunen, Baßhorn, türkische Musik usw. und für das große Lokal doch kaum stark genug. Die Ausführung übertraf sehr meine Erwartung; sie war rein, kräftig, präzis und dabei sehr ruhig. Herr Rolla, ein durch seine Kompositionen auch im Auslande bekannter Künstler, dirigierte bei der ersten Geige. Außer ihm ist weiter keine Direktion, weder am Piano noch mit dem Taktierstabe, sondern bloß noch ein Souffleur mit der Partitur, der den Sängern den Text souffliert und den Choristen nötigenfalls den Takt gibt. – Die Komposition der Oper ist mehr im deutschen als im italienischen Geschmacke, und man hörte sehr deutlich, daß der junge Komponist sich mehr unsre deutschen Tonsetzer, besonders Mozart, zum Vorbilde genommen hat wie seine Landsleute. Die Orchesterpartie ist nicht so untergeordnet wie gewöhnlich in italienischen Opern, sondern recht hervorstechend gearbeitet; zuweilen ist sie es sogar zu sehr und deckt den Gesang. Es ist daher zu verwundern, daß die Oper so sehr gefallen hat, indem man diesen Genre noch immer nicht sehr liebt.
Freilich haben die gut gearbeiteten Ensemblestücke und Finale das Glück der Oper nicht gemacht, sondern einige kleine unbedeutende Kantabiles, die von den Sängern gut vorgetragen wurden. Diese waren es auch heute allein, was mit Aufmerksamkeit angehört wurde. Während der kräftigen Ouvertüre, mehreren sehr ausdrucksvoll akkompagnierten Rezitativen und allen Ensemblestücken war ein Lärm, daß man kaum etwas von der Musik hörte. In den meisten Logen wurde in Karten gespielt und im ganzen Hause überlaut gesprochen. Es läßt sich für einen Fremden, der gern aufmerksam zuhören möchte, nichts Unausstehlicheres denken als dieser infame Lärm. Indessen ist von Leuten, die dieselbe Oper vielleicht dreißig- bis vierzigmal sehen, und die das Theater nur der Gesellschaft wegen besuchen, keine Aufmerksamkeit[245] zu erwarten, und es ist schon viel, daß sie nur einige Nummern ruhig anhören. Zugleich kenne ich aber auch nichts Undankbareres, als für ein solches Publikum zu schreiben, und ich wundre mich, daß sich gute Komponisten noch dazu hergeben. Nach dem ersten Akte der Oper wurde ein großes ernstes Ballett gegeben, welches durch Kunstfertigkeit mehrerer Tänzer und Tänzerinnen und durch die Pracht der Dekorationen und Kostüme sich ebenfalls zu einem imposanten Schauspiel erhob. Beinahe eine Stunde dauerte es, so daß man die erste Hälfte der Oper ganz vergessen hatte. Nach dem zweiten Akte der Oper wurde noch ein komisches, nicht viel kürzeres Ballett gegeben, so daß die ganze Vorstellung von acht bis zwölf Uhr dauerte. Welche Arbeit für die armen Musiker!
den 14. September [1816]
Gestern Abend besuchten wir ein Konzert, welches ein Professore di Oboa, Ferlendis aus Venedig, gab. Zuerst wurde eine Ouvertüre von Rossini gemacht, die früher hier viel Glück gemacht haben soll, einem deutschen Ohre aber nicht gefallen kann, wenn sie auch besser exekutiert würde, als es hier von einem größtenteils aus Dilettanten bestehenden Orchester geschah. Ein Herr Diego Sommariva sang darauf eine Arie von Nicolini mit schwacher, aber angenehmer Stimme und sehr geläufiger Kehle. Er machte alle Koloraturen sehr deutlich und rein, tat des Guten aber zu viel. Merkwürdig ist sein Umfang von C bis e". Nun trat der Konzertgeber mit einem Konzerte von eigener Arbeit auf. Komposition und Spiel waren gleich erbärmlich. Man kann sich keinen schlechtern Ton und keine größere Geschmacklosigkeit im Vortrage der Passagen und des Gesanges denken, als dieser Professore di Oboa besitzt. In Deutschland wäre er sicher ausgepfiffen worden; hier wurde er von den Freibilletts notdürftig beklatscht. Im zweiten Teil des Konzerts blies Luigi Belloli ein Hornkonzert von eigener Komposition. Diese erhob sich zwar nicht über das Mittelmäßige, die Ausführung aber war sehr vorzüglich. Er besitzt einen wunderschönen Ton, viel Fertigkeit und einen gebildeten Geschmack. Um uns von der abscheulichen Oboe den guten Eindruck nicht verwischen zu lassen, warteten wir das Übrige des Konzertes nicht ab. Das Lokale, der Redoutensaal im Theater della Scala, war sehr schön und vorteilhaft für Musik, aber trotz seiner geringen Größe nicht gefüllt.
den 16. September [1816]
Bei dem fortdauernd schönen Wetter machen wir fast täglich einen Spaziergang durch die Stadt; da drängen sich uns denn mancherlei Bemerkungen[246] auf. An der großen, fast unausstehlichen Hitze, die seit unsrer Ankunft hier herrscht, und die weder durch die Nächte, die fast ebenso heiß wie die Mittage sind, noch durch ein starkes Gewitter, welches wir vor ein paar Tagen hatten, gemildert worden ist, merken wir zuerst, daß wir bis jetzt noch nicht so weit südlich waren. Dann sehen wir es aber auch an den herrlichen Früchten, die in großer Menge und zu sehr wohlfeilen Preisen zum Verkauf angeboten werden; Trauben von einer Süßigkeit und Größe, wie wir sie früher nie gegessen haben, Pfirsiche, Feigen, Birn, Äpfel, Pflaumen usw. Auch sieht man es an dem echt südlichen Müßiggange fast aller Stände. Während sich die vornehme Welt von einem Kaffeehause zum andern schleppt, um Erfrischungen zu genießen, oder auf den weich gepolsterten Bänken im Opernhause lang hingestreckt räkelt, ziehn die niedern Klassen besonders am Abend zu 20–30 durch die Straßen und singen aus vollem Halse Lieder, Chöre und Sachen aus Opern oft vierstimmig, was dann, bei der Stille der Nacht von weitem gehört, gar nicht übel klingt. Daß die Italiener überhaupt eine sehr musikalische Nation sind, sieht man auch noch daran, daß ihre Bettler immer singend oder spielend Almosen erbitten. Da sind Gesellschaften von vier bis fünf solcher Musiker, die des Abends vor den Kaffeehäusern eine gar nicht so üble Musik machen, gewöhnlich von einer prächtig geputzten Sängerin begleitet, die auch nachher einsammelt; oder es sind drei Sänger, die mit Begleitung einer Guitarre dreistimmige Sachen und kleine Kanons recht gut singen; oder auch solche, die einzeln ihr Heil versuchen, blinde Geiger oder Flötenbläser, oder Sänger, die entweder gar kein Akkompagnement haben oder sich mit dem Tambourin begleiten; sogar alle, die etwas zum Verkaufe herumtragen, bieten ihre Waren singend aus. – Gestern stieß uns noch ein närrisches Subjekt der erstern Art auf. Er hatte sich von einem Peitschenstiel, von dessem einen Ende zum andern er eine Saite gezogen hatte, ein merkwürdiges Instrument gemacht. Oben war die Saite durch eine Kugel von Pappe gezogen, aus deren Öffnung ein großes Bouquet gemachter Blumen als Verzierung des Ganzen hervorragte. In der rechten Hand hatte er einen Violinbogen, mit welchem er den einzigen Ton, den sein Instrument hat, hervorbrachte. Das bewundernswürdige Talent dieses Künstlers bestand darin, daß er in einer sich immer wiederholenden Melodie, zu deren Grundton sein Instrument die Quinte gab, und die folglich nie in der Tonika, sondern immer in der Dominante schloß, allen Vorübergehenden oder vor der Tür Sitzenden die artigsten Komplimente improvisierte, wofür ihm dann die Geschmeichelten selten ein Geschenk versagten, die er in seinem[247] Hute einsammelte, ohne jedoch den Gesang zu unterbrechen. In diesem rezitativähnlichen Gesänge, bei welchem sein Instrument die Stelle des Orchesters vertrat, lobte er bald die Gestalt, bald den Anzug der Vorübergehenden, und an dem wohlgefälligen Lächeln der Gelobten und an ihrer Freigebigkeit sah man, daß er ihre schwache Seite recht gut zu treffen wußte. Es müßte für einen philosophischen Menschenbeobachter interessant sein, diesem Menschen einmal einen ganzen Tag auf seinen Wanderungen zu folgen! –
Heute Mittag haben wir wieder einem Konzerte beigewohnt, welches die Società del Giardino gab. Es wurde da mancherlei gesungen, aber außer zwei Ouvertüren von Mayr weiter keine Instrumentalmusik gemacht. Die Ouvertüren zeichneten sich durch nichts aus, wurden aber eben nicht zum Besten exekutiert. Ich rede also bloß vom Gesange. Zuerst sang Sig. Remorini eine Aria buffa von Guglielmi. Er ist ein braver Bassist aus dem Theater della Scala, hatte aber in einer komischen Arie für ein Konzert eine unglückliche Wahl getroffen und konnte daher seine Kunstfertigkeit nicht sehr entfalten. Nach ihm sangen die beiden Damen Marcolini und Fabré ein Duett von Rossini. Erstere ist eine in Italien berühmte Altistin, die eine schöne Stimme und viel Geläufigkeit besitzt; sie singt aber immer etwas zu tief, wodurch mir ihr Gesang sehr verleidet wurde. Signora Fabré ist die Primadonna vom großen Theater, die eine besonders schöne Höhe und einen gebildeten Vortrag hat. Obgleich beide Sängerinnen hinsichtlich der Stimme und der Kunstfertigkeit auf gleicher Höhe stehen, so trug der Sopran doch auch hier den Sieg über den Alt davon (wie eine Viola nie neben einer Violine gefallen kann). Den ersten Teil beschloß ein Herr Tramezzani mit einer Cavatina von Mayr, die er mit etwas schwacher Stimme, aber gebildetem Vortrag und vieler Geläufigkeit vortrug.
Im zweiten Teile wurde noch ein Duett von Pacini, eine Kavatine von Bonfichi und ein Rondo von Paër gesungen. Alles wurde auf dieselbe Art und mit den schon tausendmal gehörten Verzierungen verbrämt vorgetragen, es mochte komisch oder ernst sein. Die Kompositionen waren fast durchgehends fade und ohne innern Zusammenhang und der Gesang oft durch nichtssagende Figuren in den Instrumenten gestört und verdeckt.
den 17. September [1816]
Soeben haben wir die hiesige Mosaikfabrik gesehen. Die bedeutendste Arbeit, an der schon zwölf Jahre unaufhörlich gearbeitet wird, ist Leonardo da Vincis Abendmahl, welches in derselben Größe wie das[248] Original (die Figuren in Lebensgröße) in Mosaik kopiert wird. Man hat es in zwölf Stücke geteilt, wovon ein jedes etwa drei Ellen in der Länge und ebensoviel in der Breite hat. Sämtliche Stücke sind nun vollendet, aber erst einige poliert; diese (aber nur vom Plafond) hatten viel Glanz; die mit den Figuren waren etwas matt in den Farben, wenigstens gegen die gute Kopie des Gemäldes, nach welcher man gearbeitet hatte; vielleicht gewinnen sie aber noch an Leben, wenn erst die Politur vollendet sein wird. Buonaparte hatte dieses Werk bestellt, welches nun auf Kosten des österreichischen Kaisers vollendet wird. Da täglich acht Dukaten an die Arbeiter gezahlt werden, so kostet es bis jetzt schon an Arbeitslohn 34960 Dukaten. – Außer dieser kolossalen Arbeit sahen wir im Magazin viele kleine Mosaiken von ausgezeichneter Arbeit zum Verkauf ausgestellt.
den 18. September [1816]
Heute vormittag wohnten wir der Hauptprobe zu dem morgenden Prüfungskonzert der Schüler des Konservatoriums bei. Da morgen bei der Preisverteilung, die vom Gouverneur, Grafen Saurau, selbst geschieht, alle höhern Behörden gegenwärtig sein werden, so ist es unmöglich, daß alsdann alle Musikfreunde Platz finden sollten. Deswegen hatte man zur Generalprobe Billette ausgeteilt. Wirklich war auch der ziemlich große Saal ganz gefüllt. – Zum Anfang wurde eine Ouvertüre von Soliva, demselben jungen Komponisten, von dem auch die Oper: La testa di bronzo ist, gegeben. Sie hatte schöne Sachen, war aber hin und wieder etwas gesucht und gefiel mir nicht so sehr wie die aus der Oper, die, ohne fade und gemein zu sein, einen sehr natürlichen Fluß hatte. Nr. 2 Terzetto nell'opera: I due litiganti, eseguito dall'alumno di Gregori e delli alunni esteri Gussoni e Zuccoli. Die Komposition von Fioravanti, wahrscheinlich aus einer Opera buffa, war höchst fade. Die Sänger, 2 Bassisten und 1 Altist, hatten schöne Stimmen, sangen aber noch etwas unbeholfen. Nr. 3 Divertimento per il violino eseguito dall'allievo gratuito Buccinelli. Die Komposition von Rolla war besser, als es gewöhnlich die italienischen Instrumentalkompositionen sind, es war doch Zusammenhang darin. Der junge Geiger, etwa 14 bis 15 Jahre alt, zeigte schöne Anlagen. Er intonierte sehr rein, zog schon einen recht guten Ton aus dem Instrument und entwickelte ziemlich viel Fertigkeit und Sicherheit. Nr. 4 Scena e cavatina nell'opera: L'Issipile eseguita dall'alumna estera Secchi. Der Komponist dieser Szene, Minoja, ist erster Gesanglehrer am Konservatorium und dirigierte heute die Gesangstücke. Er wurde mir als guter Gesanglehrer und vorzüglicher[249] Komponist gerühmt. Die Musikstücke von ihm, die heute gemacht wurden, widersprachen diesem Urteil gerade nicht. Besonders war diese Szene gut und wurde auch einfach und gut gesungen. Nr. 5 Scena e finale nell'opera: La vestale eseguito dall'alumna gratuita Bonini e dall'alumno estero Zuccoli; i cori dal restante degli alunni ed alunne del conservatorio. Wurde gut gegeben und machte daher auch hier, wo man zum erstenmal etwas von Spontini sang, recht viel Wirkung. Von der Sängerin, die die Julia sang, werde ich nachher reden.
Zweiter Teil.
Nr. 6 Recitativo ed aria nel: Sogno di Scipione eseguita dall'alumna gratuita Napollon. Die Komposition von Minoja. Die junge Sängerin hatte eine volle, starke, etwas hohle Stimme und sang rein und einfach. Nr. 7 Divertimento per violoncello eseguito dall'allievo Merighi. Die Komposition von Storioni, dem Lehrer des Violoncells am Konservatorium, war dankbar für die Hauptstimme, zeichnete sich übrigens aber durch nichts aus. Storioni soll ein sehr vorzüglicher Violoncellist sein. Sein Schüler spielte sein Solo auf einem herrlichen Instrument von Stradivari (deren vier hier in Mailand sind) mit sehr reiner Intonation und einer sichern und kräftigen Bogenführung. Zu tadeln war das zu langsame Herüberziehen von einem Tone zum andern. Dieser junge Mensch spielt auch fertig prima vista und hat mir neulich bei Hr. Carli meine Quintetten sehr gut akkompagniert. Nr. 8 Scena ed aria nell'opera: Amore e Psiche eseguita dall'alumna gratuita Bonini. Komposition von Minoja. Diese junge Sängerin, etwa 18 Jahre alt, ist jetzt die vorzüglichste Sängerin im Konservatorium und wird im Karneval zum erstenmal auf dem Teatro Re als Opernsängerin auftreten. Sie hat eine herrliche, volle, kräftige Stimme, gute Schule und viel Gefühl, macht wenig Rouladen, aber diese sehr rein und deutlich. Ihr Umfang ist von h bis a". Sie soll überdies viel Musik haben, alles prima vista singen und sogar schon mit Erfolg Versuche in der Komposition gemacht haben. Nr. 9 Sestetto per oboe, flauto, clarinetto, fagotto e corni di caccia eseguito dagli allievi Yvon, Rabboni, Carulli, Savinelli, Schirolli e Belloli. Die sehr brillant und gut erfundene Komposition war von Belloli, Lehrer des Horns am Konservatorium, und rein und gut exekutiert. Die Hornisten und der Oboist zeichneten sich aus. Der Fagottist war der schlechteste. Nr. 10 Coro finale nelle quattro stagioni di Haydn eseguito dagli alunni ed alunne del conservatorio. Wurde kräftig und gut gegeben. Die Fuge aber nahm der Direktor zu schnell, wodurch sie an Würde verlor.
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den 19. September 1816
Heute wohnten wir dem Konzerte im Conservatorio bei, zu welchem uns der Graf Saurau Billetten gegeben hatte. Es wurde die gestrige Musik in derselben Folge, wegen größerer Befangenheit der jungen Leute aber nicht so gut exekutiert. Zum Schluß verteilte der Gouverneur Gr. Saurau die Preise, welche in Musikalien, elegant gebunden, bestanden. Vom Gesange bekamen die Emilia Bonini, Elisabetta Napollon und Adelaide Secchi; Violine Giacomo Buccinelli; Horn Giuseppe Schirolli.
Was ich von der innern Einrichtung des Konservatoriums habe erfahren können, ist folgendes: Die Professoren, deren vier für den Gesang, einer für Violine, einer für Violoncell, einer für Kontrabaß und noch einige andere für die Blasinstrumente angestellt sind, beziehen ihren Gehalt von der Regierung. Diese zahlt auch Wohnung und Kost für zwölf Eleven, sechs Knaben und sechs Mädchen. Alle übrigen, von denen einige im Konservatorium wohnen, andere aber nur die Lehrstunden besuchen, müssen für alles bezahlen. Die Mailänder sollen der Anstalt sehr entgegen sein; sie hat in diesem Augenblick auch kaum dreißig Eleven. Man klagt sehr über die Feuchtigkeit des Lokales, die nachteilig auf die Stimmen und die Gesundheit der Eleven einwirken soll. Man denkt jetzt daran, ein anderes Lokale für die Anstalt aufzufinden.
den 22. September 1816
Ich besuchte heute auf einen Augenblick eine Art von Übungskonzert, wo die hiesigen Dilettanten unter Rollas Direktion Sinfonien, besonders von deutschen Meistern, exekutieren. Die Saiteninstrumente sind größtenteils mit Dilettanten besetzt, die Blasinstrumente aus dem Theater della Scala. Man hatte bereits die alte Sinfonie aus D von Mozart und einige Ouvertüren von italienischen Meistern gemacht und war eben beschäftigt, eine von den großen Haydnschen Symphonien (B #) zu exekutieren. Man gab sie zwar ziemlich genau, aber ohne piano und forte und überhaupt etwas roh. Indessen ist die Anstalt, die überdies in ganz Italien die einzige ist, sehr zu loben, weil durch sie die hiesigen Musikfreunde doch Gelegenheit finden, mit unsern herrlichen Instrumentalkompositionen bekannt zu werden. Wenn ich nicht irre, so findet dieses wöchentliche Übungskonzert im Hause eines Herrn Mollo statt, der auch eine schöne Sammlung vorzüglicher Violinen besitzen soll. Überhaupt existieren hier viele vorzügliche Instrumente. Ein Herr Caroli besitzt zwei sehr schöne Stradivari, Rolla ebenfalls eine von großer Schönheit; ein Graf Cozio di Salabue hat in seiner[251] zahlreichen Sammlung von vorzüglichen Geigen unter vielen andern von Amati, Guarneri und Guadagnini auch vier Stradivari, auf denen noch gar nicht gespielt ist und die, obgleich sehr alt, aussehen, als ob sie eben erst fertig geworden wären. Zwei von diesen Geigen sind aus dem letzten Lebensjahre des Künstlers, von 1737, wo er ein Greis von dreiundneunzig Jahren war. Man sieht es den Geigen aber auch gleich an, daß sie ein zitternder Greis mit unsichern Händen geschnitzt hat. Die beiden andern sind aber aus der besten Zeit des Künstlers, von 1743 und 1744, und von großer Schönheit. Der Ton ist voll und stark, aber doch noch neu und hölzern, und sie müssen wenigstens, um vorzüglich zu werden, zehn Jahre gespielt werden. – Auch existieren hier vier vortreffliche Violoncells von Stradivari.
den 28. September [1816]
Gestern Abend fand unser Konzert im Theater della Scala statt. Das Orchester blieb auf seinem gewöhnlichen Platze; die Sängerin aber, Dorette und ich nahmen bei unsern Produktionen den Platz unter dem Proszenium ein, zwischen der Gardine, die herabgelassen blieb, und dem Orchester. Das Haus, obgleich vorteilhaft für Musik, verlangt doch bei seiner gewaltigen Größe einen sehr kräftigen Ton und ein großes, einfaches Spiel. Auch ist es schwer, mit einem Geigenton da zu genügen, wo man immer nur Stimmen und fast nur vorzügliche Stimmen zu hören gewohnt ist. Diese Betrachtung und die Ungewißheit, ob die Art meines Spieles und meine Komposition auch den Italienern gefallen würde, machte mich bei diesem ersten Debüt in einem Lande, wo man mich noch nicht kennt, etwas furchtsam; da ich indessen schon nach den ersten Takten bemerkte, daß mein Spiel Eingang fand, so schwand diese Furcht bald und ich spielte nun völlig unbefangen. Auch hatte ich die Freude zu sehen, daß ich in dem neuen, in der Schweiz geschriebenen Konzerte, welches die Form einer Gesangsszene hat, den Geschmack der Italiener sehr glücklich getroffen habe, und daß besonders alle Gesangstellen mit großem Enthusiasmus aufgenommen wurden. Dieser lärmende Beifall, so erfreulich und aufmunternd er auch für den Solospieler ist, bleibt doch für den Komponisten ein gewaltiges Ärgernis. Es wird dadurch aller Zusammenhang gestört, die fleißig gearbeiteten Tutti bleiben völlig unbeachtet, und man hört den Solospieler in einem fremden Tone wieder anfangen, ohne daß man weiß, wie das Orchester dahin moduliert hat. – Außer dem Konzerte spielte ich mit Dorette den neuen Potpourri für Piano und Violine und einen zweiten mit Begleitung des Orchesters. Letztern mußte ich auf allgemeines Verlangen[252] wiederholen. Das Orchester, dasselbe wie in der Oper, akkompagnierte mir mit vieler Aufmerksamkeit und Teilnahme. Besonders aber gab sich Rolla große Mühe. Meine Ouvertüre aus »Alruna« wurde zu Anfang des zweiten Teiles zwar kräftig, aber nicht ohne Fehler exekutiert. Das Orchester ist an zu viele Proben gewöhnt, als daß es etwas nach einer einzigen ganz fehlerfrei ausführen könnte. Madame Castiglioni, Contrealtistin, für den nächsten Karneval als Supplement nach Venedig engagiert, sang im zweiten Teil eine Arie mit schöner Stimme und guter Schule und wurde mit allgemeinem Beifalle belohnt. Es hatte mir unendliche Mühe gemacht, diese beiden Gesangstücke zu bekommen, weil die Sänger vom großen Theater, von denen einige gern gesungen hätten, die Erlaubnis dazu von dem Impresario nicht bekommen konnten und alle übrigen Sänger von Bedeutung, die sich hier aufhalten, entweder auch schon Skripturen gemacht haben oder es nicht wagen wollen, auf der Scala aufzutreten. Auch verlangten die Impresarien anfangs den fünften Teil der Einnahme für die Bewilligung des Theaters; durch Vermittelung des Gouverners, Grafen Saurau, wurde er mir aber erlassen.
Nach dem Konzerte wurde ich allgemein aufgefordert, ein zweites zu geben; da aber nächsten Freitag, dem einzigen freien Tag in jeder Woche, des Kaisers Namenstag ist, an welchem der Gouverneur eine große Festivität gibt, und wir nicht Lust haben, unsern Aufenthalt noch um vierzehn Tage zu verlängern, so will ich dieses zweite Konzert lieber bis zu meiner Rückkehr versparen und jetzt gleich nach Venedig gehen. Das erste hat mir übrigens nicht viel mehr als die Konzertunkosten, die sich auf fünfzig Dukaten belaufen, eingetragen.
Vor einigen Tagen besahen wir die Bildergalerie in der Brera; das Lokal ist das schönste, was wir je sahen. Es besteht aus drei großen Salons, die das Licht von oben erhalten, einer langen Galerie und zwei Kabinetten. In der Galerie befinden sich Gemälde al fresco, die man in den Kirchen zu Mailand gesammelt, mit der Wand herausgenommen und hier in die Mauer wieder eingesetzt hat. Es sind darunter einige von hohem Kunstwerte, von denen man auch schon Kopien und Kupferstiche besitzt. In den Sälen hat man die Gemälde nach ihrer Zeitfolge geordnet und unter einem jeden den Meister angegeben. In dem ersten befinden sich die aus der ältesten, in dem mittleren die aus der spätern und in dem dritten Saale die aus der neuesten Zeit. Doch sind, soviel ich weiß, keine Werke noch lebender Künstler aufgehängt. In den Kabinetten hat man die kleineren Gemälde ausgestellt. Vor allen verdient[253] ein Raffael, zwar aus seiner frühern Zeit, als er noch im Stil seines Meisters arbeitete, der aber doch von unendlicher Schönheit ist, den ersten Preis. Es ist dies die Verlobung der hl. Jungfrau mit Joseph. In der Mitte steht der Rabbi in ernster, würdevoller Stellung, der sie einsegnet, ihm zur Linken Joseph, eine männliche Figur mit dunkelem Haar und Bart, mit Freundlichkeit der Jungfrau den Ring an den Finger schiebend, und zur Rechten die Holdselige, in jungfräulicher Scham sanft errötend. Unter den andern Figuren zeichnet sich noch ein Jüngling aus, der vor dem Knie einen Stab zerbricht. Die Zeichner bewundern die Verkürzung der gebückten Stellung. Anfangs fallen die scharfen Umrisse der Figuren unangenehm auf; sowie man sich aber durch längeres Anschauen ein wenig daran gewöhnt hat, wird man von dem hohen Ausdruck in Gesicht und Stellung unwiderstehlich hingerissen. Von besonderer Schönheit sind auf diesem wie auf allen Raffaelschen Gemälden Hände und Füße.
In demselben Gebäude besahn wir auch noch eine Sammlung von Gipsabgüssen der berühmtesten Statuen, die wir nun bald in Rom und Florenz im Original sehen werden. Auch waren in mehreren Sälen die Arbeiten der jungen Akademisten aufgehängt und aufgestellt, die den Preis und das accessit erhalten haben. Diese bestanden in Zeichnungen und Büsten und Gemälden, architektonischer Verzierungen und ganzer Gebäude, in Basreliefs und Statuen aus Ton geformt, in Kupferstichen in allen Manieren und endlich in historischen und Landschaftsgemälden in Wahl. Über jeder Arbeit war der Name des jungen Künstlers und das Jahr der Ausstellung angezeigt. Interessant war es zu vergleichen, wie dasselbe historische Sujet von verschiedenen Künstlern verschieden gedacht und ausgeführt war, in Zeichnungen, Gemälden und Basrelief. Fast alle Arbeiten waren von großer Schönheit, besonders mehrere der Ölgemälde.
Venedig, den 5. Oktober [1816]
Montag, am 30. September, traten wir in Gesellschaft von zwei liebenswürdigen polnischen Grafen, deren Bekanntschaft wir in Mailand gemacht hatten, und eines Malers, der von einer Reise nach Sizilien eben zurückkam, unsere Reise hieher an. Ich hatte für mich und meine Familie einen Vetturino bis Padua für 7 Louisdor gedungen, für welchen Preis er auch Abendessen und Nachtlager bezahlen mußte. Die Fremden tun wohl, immer das letztere mit einzubedingen, um von den Wirten nicht so arg geprellt werden zu können. – Da wir mittags erst abgereist waren, so kamen wir am ersten Tage nur bis Cavernago. Der Weg bis dahin sowie auf der ganzen Reise bis hieher bietet wenig[254] Abwechslung dar. Man sieht zu beiden Seiten der herrlichen Chausseen nur Maisfelder mit Maulbeerbäumen eingefaßt und auf letzteren Bestand von Weinreben. Einen so schönen Anblick dies auch gewährt, besonders in der jetzigen Jahreszeit, wo die Reben voll der schönsten Trauben hängen und die Weinblätter in den mannigfachsten Abstufungen von rot, grün und gelb prangen, so sehnt man sich doch bald danach, einmal wieder etwas Neues zu sehen, und vermißt sehr unsere deutschen Eichen-, Buchen-und Tannenwälder. Cavernago ist eine sehr reinliche Stadt, in der wir ein gutes Nachtlager fanden. Der Weg von da bis Brescia bietet ebensowenig Abwechslung dar wie der am ersten Tage.
Brescia ist eine alte Stadt, in der nicht viel Sehenswertes ist; sie liegt aber in einer reizenden Gegend am Abhange eines mit Landhäusern und Weingärten bedeckten Berges. Wir machten einen Spaziergang durch die Stadt, in der uns nichts Merkwürdiges aufstieß als ein Weinstock, der die Fassaden von fünf Häusern bis unter das Dach bedeckte und allenthalben voll der schönsten Trauben hing. Einer der Polen, Graf Grzymala, hatte unter der Zeit einen Besuch bei Signora Malanotte abgestattet, einer der vorzüglichsten jetzt lebenden Contrealtistinnen, deren Bekanntschaft er in Florenz, wo sie vor einigen Monaten sang, gemacht hatte. Sie ruht jetzt einige Zeit bei ihrem Cavaliere servente, einem Grafen Secchi, der ein herrliches Haus in Brescia und ein noch schöneres Landgut in der Gegend besitzt, von den Beschwerden der letzten Monate aus und wird während des Karnevals hier in Venedig für ein Honorar von 10000 Franken und ein Benefize wieder von neuem auftreten. Ihr Anbeter, ein Mann von großem Vermögen und vielen Kenntnissen, hat sein ganzes Leben dem Dienste seiner Donna gewidmet, während seine beiden ältern Brüder sich als Generale in französischen Diensten großen Ruhm erworben haben. Er begleitet sie seit zehn Jahren allenthalben hin, wo sie singt, besorgt ihre Geschäfte und huldigt allen ihren Launen. Seine einzige etwas ernstere Beschäftigung ist, ihre Geschichte zu schreiben, d.h. ihre Triumphe über andere Sängerinnen und ihre Liebesaventüren. Einmal im Jahre liefert sie ihm die schriftlichen Daten zu letzteren, das sind die Originale der erhaltenen Liebesbriefe, und obgleich er sehr eifersüchtig ist, so bringt sie dennoch den guten Narren dahin, daß er diese Briefe selbst kopiert und mit den gehörigen Erläuterungen in ihre Geschichte einträgt. Sie hat auch einen Mann und von ihm zwei Kinder, die sie sehr lieben soll. Dieser Mann spielt nun vollends eine erbärmliche Figur; er hält sich immer in einer gewissen Entfernung[255] und harret mit gespannter Aufmerksamkeit der Winke seiner Gebieterin. Graf Secchi hat bis diesen Augenblick weder Rom noch Neapel gesehen, weil seine Dame dort noch nicht gesungen hat und ihm schwerlich die Erlaubnis erteilen würde, ohne sie dorthin zu reisen. Zwischen Brescia und Verona führt der Weg einige Stunden am Gardasee her, dessen schön bewachsene, mit Landhäusern reich besetzte und von Bergen eingeschlossene Ufer die schönsten Ansichten darbieten, welche uns für die Einförmigkeit der vorigen Tagereisen reichlich entschädigten. Am äußersten Ende des Sees, noch halb im Wasser, liegt Peschiera, eine kleine unansehnliche Stadt von einigen Häusern, aber mit großen, weit ausgedehnten Festungswerken. Von da bis Verona ist der Weg wieder sehr einförmig. Bei unsrer Ankunft erfuhren wir, daß eine Harfen- und Klaviervirtuosin aus Neapel im Theater Konzert geben würde, und nahmen uns vor, dieses zu besuchen. Durch die Langsamkeit der Aufwärter, die unser Abendessen eine Stunde später brachten, als wir es bestellt hatten, wurden wir aber daran verhindert. Abends um elf Uhr beim herrlichen Mondenschein besuchten wir noch die Arena, von allen Denkmalen ehemaliger römischer Größe das am besten erhaltene. Es ist dies der Zirkus, wo die Wettrennen, das Scheibenwerfen, die Wettkämpfe der Gladiatoren und andere gymnastische Spiele stattfanden. Vom inneren Zirkus, der schon bedeutend groß ist, gehen 42 von Quadersteinen gemauerte Sitze amphitheatralisch rund um den ganzen Kreis bis zu den Logen, die ehemals das Ganze einschlossen, von denen jetzt aber nur noch einige Überreste sind. Die Sitze waren auch schon zum Teil eingefallen, sind aber von den Franzosen wieder hergestellt worden. Das Innere besteht aus mehreren Gängen, aus denen Marmortreppen auf die Sitze und Logen führen. Wir stiegen bis zum höchsten Sitze, der in der Höhe schon den größesten Gebäuden in der Stadt gleichkommt, und hatten da einen herrlichen Überblick über das ganze kolossale Werk. Wir dachten uns die gewaltige Steinmasse mit den alten Römern besetzt, wie sie den Siegern unten Beifall zujauchzten, und verloren uns in Betrachtungen über die Hinfälligkeit aller Erdengröße und in Vergleichungen zwischen dem ehemaligen kräftigen Volke und den jetzigen Bewohnern dieses herrlichen Landes. An der einen Seite des Ovals sieht man noch die Gefängnisse, wo die Verbrecher aufbewahrt wurden, die man den wilden Tieren vorwarf. Auch existiert noch die Vorrichtung, durch welche binnen wenig Minuten der Zirkus unter Wasser gesetzt werden kann, um Kämpfe und Wettrennen in Böten zu halten. Bei der Anwesenheit des österreichischen Kaisers hat man dem Volke das Schauspiel eines[256] Wettrennens zu Fuß und zu Pferd erneuert. Auch haben wir etwas Ähnliches in Mailand gesehen, von dem ich zu reden vergessen habe. Napoleon hat nämlich auf dem Forum Buonaparte einen Zirkus auf römische Art bauen lassen, dessen äußere Wand auch aus einer Mauer mit mehreren Aufgängen besteht; die Sitze im Inneren sind aber nur von Rasen; es sind deren etwa zwölf, und doch haben 25–30000 Menschen Platz. An der einen breiten Seite steht ein schönes Gebäude mit einer prächtigen Kolonnade nach dem Inneren zugekehrt, von wo in der Breite des Gebäudes steinerne Sitze bis zum Zirkus hinablaufen. In dieser modernen Arena, die auch unter Wasser gesetzt werden kann, wurden dem Volke zur Zeit der Krönung Napoleons zum Könige von Italien bei freiem Eintritte die ehemaligen römischen Spiele aufgewärmt. Eine dritte, aber verminderte Auflage für Geld fand an dem Tage vor unsrer Abreise statt. Zuerst traten achtzehn Wettläufer in römischem Kostüm auf, die auf ein gegebenes Trompetenzeichen ziemlich schwerfällig nach dem Ziele liefen. Der Sieger erhielt eine Fahne, an der oben ein Lorbeerkranz hing. Den beiden, die nach ihm zuerst angekommen waren, wurden ebenfalls Siegeszeichen zuerkannt. Dann versuchten zwölf Reiter ihr Heil. Mehrere fielen schon beim ersten Choc von den Pferden und alle ritten so erbärmlich, daß sie nur Gelächter und Mitleiden erregten. Nachdem die Sieger ebenfalls beschenkt waren, kamen die Kurse zu Wagen, die aber ein neues interessantes Schauspiel darboten. Die sechs Wagenführer hatten kleine zweirädrige römische Wagen, wie man sie auf alten Münzen abgebildet sieht, bestiegen und jagten mit ihren Pferden, deren zwei vor jeden Wagen gespannt waren, auf ein gegebenes Zeichen im gestreckten Galopp davon; am Ende der Bahn beim Umkehren überstürzte sich einer mitsamt den Pferden ein paarmal, doch ohne Schaden zu nehmen. Die andern umkreisten die Bahn dreimal und die Sieger erhielten ebenfalls ihre Ehrenzeichen. Nun begann der große Triumphzug. Dreißig bis vierzig Oboisten in römischem Kostüm mit türkischer Musik, einen Marsch aus der Oper »Johann von Paris« blasend, eröffneten ihn. Dann kamen die Wettläufer mit Lanzen in den Händen und endlich ein großer, mit vier Ochsen bespannter römischer Triumphwagen mit sämtlichen Siegern. Man hatte die schön geputzten Ochsen auf römische Art nebeneinander gespannt; die guten Tiere waren aber nicht daran gewöhnt und wollten nicht vom Fleck; endlich sah man sich genötigt, sie so zu spannen, wie sie es vor ihrem Mistwagen gewohnt waren, und nun ging es herrlich. Hinter ihnen kamen die unglücklichen Reiter und Wagenlenker, die den Zug beschlossen. Das Kostüm aller dieser Leute und Tiere war gut[257] gewählt, und wenn man nicht rund im Zirkel die moderne Beau monde und zwischen den Wettrennern dann und wann einen dreieckigen Hut, der ihre Spiele anordnete, gesehen und die türkische Musik mit dem Marsch aus der »Aline« gehört hätte, so konnte man wohl Augenblicke lang sich einbilden, da unten die alten Römer zu sehen. So sorgten aber diese verkleideten Soldaten und Fiaker mit ihren erbärmlichen Pferden schon ohne das durch ihre Ungeschicklichkeit dafür, daß eine solche Täuschung nicht stattfinden konnte.
Am 3. früh mußten wir uns von unseren lieben Reisegefährten trennen, die nun auf einer andern Straße durch Tirol nach München ihre Reise fortsetzten. Wir übernachteten in Vicenza, einem abscheulich schmutzigen Neste; unsre Fenster gingen auf eine einsame Straße, die von jedermann als Abtritt gebraucht wurde; hohe Haufen von Unrat verpesteten die Luft so, daß es kaum auszuhalten war. Dergleichen Sauereien trifft man übrigens auch in den größesten Städten und auf den prächtigsten Plätzen. Bei hellem Tage sieht man oft ganze Haufen von Gesindel da ungescheut ihre Notdurft verrichten. Besteigt man eine einsame Treppe, oft von schönstem Marmor in den größesten Palästen, so muß man sich ja genau in der Mitte halten, weil man sich sonst sicher beschmutzen würde, und selbst dem Mailänder Dom kann man sich auf verschiedenen Seiten gar nicht nähern, weil hohe Haufen von Unrat es verhindern. Diese Schweinerei, in der die Italiener fast allen anderen Nationen den Rang streitig machen, herrscht auch in den meisten Zimmern und Küchen. Ein Holländer müßte, dächt' ich, hier verzweifeln.
Am 4. mittags kamen wir nach dem alten, unansehnlichen Padua, wo wir bis abends acht Uhr verweilten. Dann setzten wir unsre Reise auf der Diligence zu Wasser fort. Beim Einsteigen in die Barke tat ich, vom unsichern Mondlichte getäuscht, einen Fehltritt und fiel ins Wasser; im Fallen ergriff ich aber glücklicherweise den Bord der Barke und wurde sogleich wieder herausgezogen. Den Schrecken und die Mühe des Umkleidens abgerechnet, war dieser Fall von weiter keinen übeln Folgen. Die Barke ist für vierundzwanzig bis dreißig Personen sehr bequem eingerichtet und geht, von einem Pferde im stärksten Trabe gezogen, sehr schnell. Da man aber bei vier Schleusen Aufenthalt machen muß und der Kanal viele Krümmungen macht, so braucht man demungeachtet bis Venedig 8 bis 9 Stunden. Die letzte Hälfte des Kanales ist auf beiden Seiten mit den prächtigsten Landhäusern und Gärten wie übersäet, die jetzt von den reichen Venezianern bewohnt werden. Besonders zeichnet sich der Palast des ehemaligen Vizekönigs aus, in dem der Gouverneur Graf Goëß während der schönsten Jahreszeit wohnt.[258] Wir bedauerten sehr, diese reiche Gegend in der Nacht passieren zu müssen; aber selbst beim Mondenscheine gewährt sie schon einen herrlichen Anblick. Früh um fünf Uhr, wie noch alles tot in Venedig war, kamen wir an und traten in der Albergo della Scala ab.
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