3. Mensch unter Menschen

[10] Wir hören Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahren sagen:

»Der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste und sollte ihn vielleicht ganz allein interessieren.«

Wenn wir uns vornehmen, in diesem Ausspruch eine Richtschnur für unser Denken zu sehen, so taucht wohl die Frage auf, ob sich der Mensch mehr für das eigene Ich oder mehr für andre Menschen interessieren soll. – Mit einem Wort ist die Antwort nicht zu geben. Interessiert sich aber der einzelne Mensch für seine eigenen Mängel, Fehler und Schwächen, um sie zu erkennen und abzulegen und interessiert er sich für die guten Seiten und Vorzüge, die ihm gegenüber andre Menschen haben, um sie zu erwerben, so leistet er damit gewiß ein tüchtiges Stück Erziehungsarbeit an sich selbst. Diese Erziehungsarbeit, die reiche Früchte verspricht, setzt indes eins voraus: unnachsichtliche und klare Selbsterkenntnis. Das aber ist eins der schwierigsten Probleme, vor die uns das menschliche Leben überhaupt stellt.

So sehen nämlich die Dinge in der Tat aus: wir würden uns krank lachen, wenn wir uns mal so sähen, wie die[10] andern uns sehen, aber die andern würden sich wahrscheinlich totlachen, wenn sie uns mal so sähen, wie wir uns selbst sehen. Ein humorvoller Philosoph hat einmal gesagt: »Könnte man doch die Menschen zu einem Wert einkaufen, den sie tatsächlich haben und sie zu dem Wert verkaufen, den sie sich einbilden, zu haben – da könnte man schnell Millionär werden.« – Ja, so liegen nun einmal die Dinge.

Nun muß uns doch zu denken geben, daß so unendlich viele unsrer Zeitgenossen alle Menschen grundsätzlich für schlecht halten. So hörten wir schon Schopenhauer in einer Stunde bitterer Enttäuschung sarkastisch sagen, man möge ihn nach seinem Tode bei seinen Hunden begraben, denn sie seien die einzigen Geschöpfe gewesen, auf deren Treue er zu Lebzeiten hätte bauen können.

Menschen urteilen also über sich selbst, denn jeder einzelne Mensch ist doch ein Teil der Menschheit. Oder sollte ein Einzelner den fragwürdigen Mut aufzubringen wagen, zu behaupten, die ganze Menschheit außer ihm sei schlecht? – Nein, das möchten wir nicht annehmen.

Wir alle sollten es uns also zur Regel machen, jeden Tag wenigstens einige Minuten darüber Betrachtungen anzustellen, wie weit wir selbst an der Schlechtheit der Menschen, an der Unordnung und Bosheit in der Welt mitschuldig sind. Damit wäre schon viel gewonnen. Wenn die Menschheit gebessert werden soll, dann sollte der einzelne nicht nur auf die andern, sondern zunächst auf sich selbst blicken, sich erkennen, um sich zu erziehen und sich zu bessern. Man darf diese Forderung nicht mit dem Bemerken abtun: was nützt es schon, daß ich mich wirklich bessere, wenn doch die andern schlecht bleiben? – Das scheint wohl der Kardinalfehler des ganzen Problems zu sein.

Immer bleibt der Mensch auf andre Menschen angewiesen. »Der Mensch ein gesellicht Tier« überschreibt schon Friedrich von Logau 1650 eins seiner Epigramme. – In neuerer Zeit hat Dr. Ritter einmal den Versuch unternommen, sich von der Menschheit hermetisch abzuschließen. Er siedelte sich mit einer Frau auf einer völlig unbewohnten Insel im Indischen Ozean an und schnitt damals jeden Faden ab, der die beiden mit der übrigen Menschheit vorher verbunden hatte. Die Erfahrungen, die der Misanthrop mit[11] diesem Robinsonleben gemacht hat, reizen nicht gerade zu einer Nachahmung dieses höchst fragwürdigen Experiments.

Es ist schon richtiger, sich mit der Menschheit abzufinden und sie zu bessern, indem man bei sich selbst anfängt. Man schadet sich nur selbst, wenn man die andern grundsätzlich für schlecht hält. Goethe sagt: »Der Mensch ist gut!« Jeder Mensch hat gute und schlechte Seiten. Man sollte sich im Verkehr mit Menschen einmal bemühen, im andern nicht nur das Schlechte zu sehen und immer das Gute gegen das Schlechte aufzuwiegen. Wir sollten mehr bestrebt sein, die Motive des angeblich Schlechten zu ergründen, um zu einem objektiven Urteil zu kommen und daran zu denken, daß gar nicht so selten der Zweck die Mittel heiligt. Streng gegen uns selbst müssen wir werden, die Schwächen des andern zu verstehen und damit zu verzeihen.

Leider gibt es zahllose Menschen, die dem andern zunächst einmal grundsätzlich mißtrauen, ihn für einen Lumpen halten, bis dieser einmal Gelegenheit gehabt hat, die Vornehmheit seines Denkens und seine Charakterstärke unter Beweis zu stellen. Sie erblicken in diesem Rezept eine Lebensweisheit und behaupten, damit immer am besten gefahren zu sein. Das ist ein grober Fehler. Anständigkeit des Denkens und Urteilens andern gegenüber besteht darin, den Nächsten so lange für einen ehrenhaften Menschen zu halten, solange er nicht das Gegenteil beweist.

Allerdings, wir möchten nicht mißverstanden sein. Wenn wir darauf hingewiesen haben, daß man niemandem ohne Grund mißtrauen soll, möchten wir andrerseits davor warnen, jemandem, den wir nicht genau kennen, allzuviel Vertrauen entgegenzubringen. Wer aber beurteilen will, ob einem andern gegenüber Vertrauen oder Mißtrauen am Platze ist, muß eine gute Menschenkenntnis besitzen.

Shakespeare und auch deutsche Dichter haben uns von der Schwäche großer Männer erzählt, Menschen zu beurteilen, obgleich diese glaubten, hervorragende Menschenkenntnis zu besitzen, die dann aber von einem Schurken, dem sie blind vertrauten, ins Verderben gestürzt wurden. Ein charakteristischer Fall ist Wallenstein, der als besonders guter Menschenkenner galt. Er schenkte dem alten Piccolomini,[12] einem niederträchtigen Gauner, volles Vertrauen, das dieser in elendester Weise mißbrauchte und ihn durch den rachsüchtigen Buttler umbringen ließ. –

Nicht minder lehrreich ist das Verhältnis zwischen Othello und seinem »treu ergebenen Vertrauten« Jago, den Othello selbst brav und wacker nennt. Er weiß den Funken der Eifersucht in Othellos Seele zu verzehrendem Feuer und einer unwiderstehlichen Leidenschaft anzufachen, die den Geist des betörten Mohren umnachtet und ihn endlich bis zur Erdrosselung seiner schuldlosen Gattin hinreißt.

Wer in seinem angeblichen Freunde einen Lumpen entdeckt, soll ihn selbstverständlich energisch abschütteln. Wie man's machen soll, lehrt uns eine Äußerung Friedrichs des Großen, der an einen seiner Pastoren, der ihm geraten hatte, alle seine Mitmenschen zu lieben, schrieb: »Wer mir beißt, den beiß ich wieder.«

Trotz aller Enttäuschungen, die wohl keinem Sterblichen erspart bleiben, soll man nie den Glauben an die Menschen einem Reinfall, der uns vielleicht bis aufs tiefste erschüttert hat, opfern. In jedem Falle ist in dem Verkehr mit Menschen der Weisheit letzter Schluß, für Vertrauen und Mißtrauen immer den richtigen Maßstab zu finden.

Im übrigen sollen wir immer daran denken, unser Leben nicht nur für uns, sondern auch für die andern zu leben.

Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 10-13.
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