|
[446] In unsern vorstehenden Plaudereien haben wir gesehen, daß die ganze Geselligkeit auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruht. Sie besteht aus einem fortgesetzten Geben und Nehmen.
Wir wollen uns nur noch kurz mit den Forderungen des guten Geschmackes befassen, die das Geben und Nehmen im engeren Sinne begleiten.
»Geschenke erhalten die Freundschaft!«, sagt ein Sprichwort. Aber bedenke, lieber Leser, wenn du etwas schenkst, ob die Gabe deinen Verhältnissen und denen des Empfängers entspricht. Daß du seinen Geschmack und nicht etwa deinen eigenen bei der Wahl das entscheidende Wort sprechen läßt, weiß ich von dir. Großartige Geschenke, auch wenn sie gut gemeint sind, verletzen das Zartgefühl des Empfängers; der Gedanke drückt ihn: »Wie werde ich das je erwidern können!« Sie können somit in Wahrheit oft freundschaftliche Beziehungen gefährden, anstatt befestigen.
Auch besinne dich, ehe du dem andern zu Weihnachten oder zum Geburtstage etwas verehrst, ob es[446] ihm wohl auch recht ist, mit dir in Geschenkaustausch zu treten. Vielleicht ist es ihm mehr wie lästig, sogar drückend, und du verwandelst ihm indirekt die reine Freude, die du ihm zudachtest, in Unbehagen. Kleine Aufmerksamkeiten werden meist weniger verpflichtend empfunden, und sie berühren, mit Takt dargebracht, oft angenehmer als eine kostbare Gabe. Hat ein junges Mädchen oder ein junger Herr in einem gastlichen Hause verkehrt und kommt nun am schlau erkundeten Geburtstag der Hausfrau gratulieren, so wird diese wirkliches Interesse bezeigende Aufmerksamkeit auf das angenehmste berühren. Hat man einen besseren Platz im Theater oder im Konzert erhalten, so beeilt man sich, ihn der zu ehrenden Person anzubieten; verreist dieselbe, so findet man sich am abfahrenden Zuge ein; kehrt sie aus der Sommerfrische zurück, so leuchtet der Heimkehrenden ein Blumengruß, von unserer Hand gespendet, entgegen. Ist jemand in der Familie krank, so ziehen wir persönlich oder durch unsere Dienstboten regelmäßige Erkundigungen ein. Das sind kleine, nur wenig Mühe verursachende und doch so lohnende Aufmerksamkeiten. Besonders unsere jungen Herren könnten sich das Gesagte ein wenig zu Herzen nehmen. Wer in einem Hause verkehrt und dort eingeladen wird, sollte auch für die gastfreie Familie etwas Interesse bekunden und nicht nur im Herbst die sogenannte Saisonvisite machen. Er wird seine kleinen Aufmerksamkeiten nicht zu bereuen haben. Es zeugt aber von sehr wenig »Kinderstube«, wenn man die Familie nur als Mittel zum Zweck benutzt, dort Gastrollen giebt und sich hinterher[447] auf der Straße, in der Oeffentlichkeit nicht mehr um sie kümmert.
Geschenke zu machen, darf sich ein junger Herr Damen gegenüber nur in Ausnahmefällen erlauben. Ausgenommen sind Blumen (modern sind Bouquets aus Stielblumen, ohne Draht gebunden) und, ist man befreundet, Bonbonnieren in schöner Form. Eine Dame beschenkt natürlich ebensowenig einen Herrn. Die einzige Ausnahme, wo dies stattfindet, ist bei Gelegenheit des Vielliebchenessens.
Ein Vielliebchen zu essen, bietet nur der Herr an. Die Dame kann es abschlagen mit der Motivierung: »Ich esse grundsätzlich keine Vielliebchen,« muß dann aber auch wenigstens für die laufende Saison auf diesem Prinzip beharren. Nimmt sie es dagegen an, so ißt jede der beiden Parteien eine Zwillingsmandel. Man macht vorher aus, ob man das Vielliebchen essen will auf: »J'y pense!« (die Betreffenden haben sich, wenn sie sich etwas reichen, geben oder nehmen, Ich denke daran! oder »J'y pense!« zu sagen), auf, »Guten Morgen, Vielliebchen!« (wer dies Wort beim nächsten Begegnen zuerst ruft, gewinnt), oder auf »ein grünes Blatt« (beide Parteien tragen ein grünes Blatt am Anzug, im Knopfloch, oft wochenlang, bis der eine vom andern ohne dieses Abzeichen getroffen wird). Es giebt natürlich noch Variationen z.B. auf. »Sie«, wenn man sich sonst duzt, auf verwechselte Vornamen etc., jedoch sind die zuerst erwähnten Formen die in der Gesellschaft gebräuchlichsten. Der Verlierende hat das Recht, der Gegenpartei etwas schenken zu dürfen. Ein Herr,[448] wählt Blumen, Bonbons in besonders schöner Verpackung, nähere Bekannte ein paar gediegene Nippfiguren, ein Buch, Bilder, Bronzen oder dergleichen, nicht aber Schmuck oder Gebrauchs- resp. Toilettengegenstände.
Die Dame schenkt eine kleine selbstgefertigte Arbeit. Es sei aber nur eine Kleinigkeit, an deren Herstellung sie mit ein paar Pinselstrichen, mit dem Brennstift, der Punze oder der Nadel beteiligt war, nicht aber eine mühevolle Stickerei oder etwas, was aussehen könnte, als habe sie sich besonders angestrengt, und dem Herrn den Gedanken nahe legen könnte, er sei ihr nicht gleichgültig.
Meistens wird der Herr so galant sein und das Vielliebchen gewinnen lassen. Ein eingegangenes Vielliebchen zu vergessen, wäre für einen Herrn unverzeihlich.
Eine andere Form des Gebens und Nehmens sind Wetten. Dieselben sind fast nur in der Herrenwelt im Schwange. Man wettet um eine Summe Geldes, um ein Frühstück, ein paar Flaschen Sekt, so und so viel Glas Cognac oder dergl. Jeder präzisiert genau seine Ansicht, reicht dem Gegenpart die rechte Hand, ein Unparteiischer schlägt durch die Hände, und nun ist es an diesem zu entscheiden, wer recht hat, eventuell Erkundigungen einzuziehen. Der Austrag einer Wette kann auf Verabredung hinausgeschoben werden, z.B. soll das gewonnene Frühstück erst dann und dann verzehrt werden. Im allgemeinen gilt bei allen kleinen wie großen Schulden der Grundsatz: Sofort berichtigen! Man vermeidet es, hohe Wetten zu proponieren, wenn[449] man die Verhältnisse des Gegenparts als nicht besonders glänzende kennt.
Noch eine andere Form des Gebens und Nehmens verlangt hier eine Beleuchtung. Wann darf und wann soll ich für andere etwas bezahlen?
Der Herr, der eine Dame begleitet, darf für dieselbe das Pferdebahngeld bezahlen. Dies nimmt die Dame ohne weiteres an, ebenso das Eintrittsgeld zu einer Ausstellung, zu einem Gartenkonzert, in dem sie erwartet wird, und zu dem sie der Herr etwa im Auftrag der Bekannten abgeholt oder hingeleitet hat. Was sie dagegen dort verzehrt, bezahlt sie selbst oder erlaubt es einer bekannten Familie, nie aber einem jungen Herrn, es für sie auszulegen. Taktlos würde es z.B. sein, wenn ein junger Herr, sei es auch in der besten Absicht, Bahngeld und eine Rechnung für einen Imbiß, den er in Begleitung eines jungen Ehepaares genossen, für dasselbe bezahlen wollte. Dagegen kann er von dem Ehepaar die Bezahlung seines Parts annehmen, vorausgesetzt, daß er in näheren gesellschaftlichen Beziehungen zu der Familie steht. Für Hausbesuch bezahlt selbstverständlich der Wirt alles.
Geld von jemandem zu borgen, ist etwas durchaus Unpassendes, obgleich manche Herren es für erlaubt halten. Der Angesprochene wagt es oft nicht, die Bitte abzuschlagen, gerät dadurch selbst in Unannehmlichkeiten, und der Bruch der guten Beziehungen ist da. Etwas anderes ist es natürlich, wenn z.B. eine Dame um den Nickel für die Bahnsteigkarte oder dergl. in Verlegenheit ist und einen Bekannten darum anspricht. Eine[450] sofortige Rückerstattung mache man sich aber bei allem, was man zu entleihen genötigt war, zur Pflicht.
»Eine Empfehlung von Frau Rat, und unser Einkochkessel wäre schadhaft; ob wohl Frau Major den ihrigen leihen wollte.« Es wird Herbst, es wird Weihnachten, ehe der Kessel seine Eigentümerin wiedersieht. Wer hat nicht in seiner Häuslichkeit Aehnliches erlebt, wer kennt das gedanken- und gewissenlose Borgen mancher Frauen nicht, die »gerade heute kein Oel im Hause haben«, morgen das »Suppenkraut vergessen« haben und nun mit einer Bitte, die man unmöglich abschlagen zu können vermeint, vor die Thür getreuer Nachbarn treten? Andere bemächtigen sich der Zeit, der Arbeitskraft ihrer Freunde. »Sie malen so hübsch! Nicht wahr, Sie korrigieren mir dies Bild ein wenig?«
Aber es giebt noch eine schlimmere Spezies von Borgern. Das sind die Büchermarder, Leute, die an keiner Bibliothek, an keinem Bücherbrett vorbeigehen können ohne eine Frage wie: »Sie haben Dahn? Liebste, Beste, Sie müssen mir den ›Kampf um Rom‹ leihen.«
Wer weiß, wann der Band seinen Weg zurückfindet, und ob er nicht gewissenlos von seinem derzeitigen Leser weiterverliehen wird und nie wieder zurückkehrt! Pünktlichkeit im Wiedergeben zeugt von guter Erziehung, von guten Manieren. Aber nicht nur pünktlich sollst du zurückgeben, nein, auch in demselben Zustande, wie du es empfangen. Ist der Einband eines Buches unsauber geworden, hat die Schüssel einen noch so kleinen Sprung, kurz, ist irgend ein geliehener Gegenstand[451] auch nur im geringsten beschädigt, so hat man ihn durch ein möglichst gleiches Stück unauffällig zu ersetzen. Daß man geliehene Sachen in reines, ganzes Papier gewickelt zurückgiebt, ist bekannt. Kleidungsstücke legt man in ein reines, weißes Tuch. Geld überreicht man in Papier gewickelt und alsdann in ein Couvert gesteckt. Daß ein zurückfolgendes Körbchen, mit Blumen oder Konfekt gefüllt, hübscher aussieht und den Dank besser versinnbildlicht als ein leeres, ist sicher. Ein bißchen Sinnigkeit, ein wenig Phantasie vermögen das Wiedergeben zur Freude für beide Teile zu gestalten.
Nur der verwöhnte oder anspruchsvolle Mensch ist in der Inanspruchnahme der Dienste anderer maßlos. Eine feinfühlige Natur bemüht ungern andere, besinnt sich, ehe sie eines andern Zeit und Arbeitskraft für sich gebraucht. Wer sich nicht enthalten kann, jeden um eine Gefälligkeit anzusprechen, gerät leicht in gesellschaftlichen Verruf.
Taktlos ist es, wenn der Empfänger einer Gefälligkeit gleich bei ihrer Entgegennahme von Gegendiensten redet. Er kann daran denken, soll es aber nicht aussprechen. Hauptmann M. und Major B. sind mit ihren Frauen beim Oberst zum Diner gewesen. M.'s haben einen Wagen, B.'s nicht. M.'s bieten selbstverständlich, da sie denselben Weg wie B.'s haben, diesen die Plätze in ihrem Wagen an. B.'s nehmen an, aber statt eines freundlichen Dankes erfolgen von ihrer Seite nur die Worte: »Wir hoffen uns demnächst revanchieren zu können!«[452]
Sieht das nicht wie eine in Aussicht gestellte Bezahlung aus? Annehmen, ohne sofort mit einem Gegengeschenk aufzuwarten, eine Gefälligkeit als solche anerkennen und sich bei Gelegenheit erkenntlich zeigen, das ist das wirklich vornehme, verbindliche, das richtige Nehmen.
Wer giebt, anbietet, schenkt, thue es mit Anmut, Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit. Wer eine Aufforderung in kaltem Ton, ohne freundlichen Blick ausspricht, schreckt den andern von der Annahme zurück. Wer giebt mit der Gnade eines Fürsten, verletzt, wer schenkt mit dem Zusatze: »Ich kann ja selbst nichts damit anfangen!« kränkt.
Viele Menschen suchen sich für die Freundlichkeit, welche die Eltern ihnen erzeigen, durch Geschenke an die Kinder zu revanchieren. Sie werden ihren Zweck fast immer erreichen, denn welche Eltern freuten sich nicht über Liebesbeweise, die man ihren Kindern giebt!
Wer für Kinder Geschenke aussucht, vergewissere sich ihres Alters, denn ein Schaukelpferd für einen zweijährigen Knaben und eine Laterna magica für ein einjähriges Mädchen wären Gaben, die den Stempel der Lächerlichkeit an sich tragen. Man kaufe nie Zurückgesetztes, etwa ein wenig minderwertig gewordene Ware, oder überreiche gar das Geschenk mit dem darauf verzeichneten Preise.
Es erübrigt nur noch, auf das richtige Schenken von Photographien aufmerksam zu machen. Man sei äußerst vorsichtig mit der Spende des eigenen Konterfeis. Eigentlich soll man dasselbe nur auf eine ausgesprochene Bitte hin verschenken.[453]
Es giebt Menschen, die das schönste Geschenk auszuteilen glauben, wenn sie an Weihnachten den Kreis ihrer Bekannten und Verwandten mit ihrem oder ihrer lieben Kinder Bildnis beglücken. Ganz abgesehen davon, daß dies sehr oft als Selbstüberschätzung belächelt und bespöttelt wird, sammeln sich bei den Beschenkten ganze Serien von Photographien an. Hieraus ergiebt sich wiederum gar oft eine Nachlässigkeit gegen diese Bilder, die von den unangenehmsten Folgen sein kann. So ließ eine Dame das Bild eines bekannten Herrn achtlos offen daliegen. Das Dienstmädchen benutzte die Gelegenheit, das Bild zu entwenden und als dasjenige seines Bräutigams auszugeben und damit zu prahlen. Andere Dienstboten wiederum erkannten den Herrn, und die schönste Klatschgeschichte, welche die ganze »Welt« des Städtchens in Atem hielt, war fertig.
Auch Aufmerksamkeiten zu Neujahr gehören in den Rahmen dieses Kapitels. In Frankreich spielen bekanntlich les étrennes, die Neujahrsgaben, eine Rolle. In Deutschland schenkt man höchstens Blumen oder an Freunde einen hübschen Kalender. Allgemein verbreitet ist dagegen die Sitte, sich durch Besuche oder Karten Glück zu wünschen. Vorgesetzten und hochgestellten Personen gratuliert man persönlich während der ortsüblichen Besuchszeit. Inwieweit sich die Gattin und die Töchter des Betreffenden bei diesen offiziellen Besuchen anschließen, bestimmt der Brauch in der betreffenden Berufsklasse. Damen tragen Besuchstoilette, Herren desgleichen, Offiziere Waffenrock, Epauletts, Helm und[454] Orden. Karten mit gedrucktem oder geschriebenem Glückwunsch sendet man an Gleichstehende und unter uns Stehende. Auf der Postkarte zu gratulieren, ist nicht passend. Bunte Karten bleiben als Spielerei der Jugend überlassen. Anonyme Neujahrsgratulationen, seien sie noch so witzig ausgedacht und abgefaßt, sind in guten Kreisen durchaus verpönt und bieten außerdem an sich so oft Anlaß zu Mißverständnissen, falschem Verdacht und dergl., daß jeder Gebildete schon aus Klugheit darauf verzichten sollte.
Die in dem letzten Jahrzehnt in Aufnahme gekommene Ablösung von Neujahrswünschen zu Gunsten der Armen ist aus bester Absicht hervorgegangen. Jedoch wird jeder, der in der Gesellschaft verkehrt, noch außerdem Neujahrsbesuche abzustatten haben, die unerläßlich sind. Herren, die viel in einem Hause verkehren, werden gut thun, dort am Neujahrstage glückwünschend vorzusprechen. An Dienstboten bekannter Familien giebt man an vielen Orten bei der Gelegenheit ein Trinkgeld, das uns von der Verpflichtung des üblichen Obolus an jedem Abend, den wir gemütlich im Hause verleben, enthebt.
Ueber Gratulationsbesuche bei feierlichen Gelegenheiten haben wir bei dem betreffenden Abschnitt gesprochen. Besuche zur Beglückwünschung an Geburtstagen müssen immer angenommen werden, da man wohl verlangen kann, daß das Geburtstagskind sichtbar ist.
Es wird jedem Gratulant von der Dienerschaft ein Glas Frühstückswein oder derartiges angeboten, ebenso Geburtstagstorte. Letztere kann man ablehnen;[455] den Wein auszuschlagen, wäre dagegen beleidigend, da er zum Anstoßen bestimmt ist und auf das Wohl des Geburtstagskindes geleert werden soll.
Wir glauben dieses Kapitel und damit das ganze Buch nicht besser schließen zu können als mit dem Wunsch und der Bitte an die Leser:
Nimm freundlich auf, was wir an Rat und Erfahrung gern gegeben haben.[456]
Buchempfehlung
Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.
230 Seiten, 9.60 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro