XVII.

Sommerfrischen und Reisen.

[228] Bis die Eisenbahnbrücken über Weichsel und Nogat fertig wurden, waren für die meisten Königsberger Familien, die sich eine Sommerfrische erlauben durften, die Kosten weiterer Ausflüge unerschwinglich. Noch zu Anfang dieses Jahrhunderts war dort ein solcher Luxus überhaupt unbekannt. Seebäder zu nehmen, verbot schon der Umstand, dass die ganze Bernsteinküste fiskalisch war und nicht vom Publikum betreten werden durfte. Auf alten Karten finden sich an verschiedenen Stellen noch die Galgen für Bernsteindiebe angezeichnet. Erst in den dreissiger Jahren wurde der Strand zugänglicher, und nun quartierten sich im Juli und August Königsberger Familien in den Fischerdörfern der Nordküste des Samlandes ein, anfangs mit den allerprimitivsten Badeeinrichtungen vorlieb nehmend.

Am meisten besucht waren Cranz und Neu-Kuhren. Als sich hier schon jährlich eine grössere Gesellschaft zusammenfand, Promenaden angelegt, städtische Wohnungen hergerichtet, Hotels erbaut und feste Badebuden aufgestellt wurden, war's einigen Familien, namentlich der Universitätsprofessoren, Lehrer und höheren Beamten, da nicht mehr still und »gemütlich« genug, und sie zogen deshalb weiter nach Westen. In Sassau wurde Ferdinand Gregorovius ständiger[229] Sommergast; eine halbe Stunde davon entfernt in dem lieblichen Rauschen aber schlugen die Reuschs, Hilberts, Hagens pp. ihr Zeltlager auf. Von einem solchen konnte ganz wörtlich gesprochen werden, denn die Wohnungen in den kleinen und niedrigen Fischerhäuschen wurden meist nur als Schlaf- und Aufbewahrungsräume benutzt, während das Zelt unter dem »Kruschkeboom« (Kruschken sind kleine Holzbirnen) Alt und Jung zu allen Mahlzeiten und zu geselligem Verkehr versammelte. Der Wirt hatte die Verpflichtung, am Strand eine Bude von Strauch oder Stroh mit einem Holzbänkchen innen, aber ohne schliessbare Thür, aufzurichten; bei irgend gutem Wetter zogen sich die Herren im Freien aus. Sie wussten auch nichts von Bademänteln und Schwimmhosen, selbst das Handtuch wurde von einigen verschmäht, und Wannen zum Abspülen der Füsse waren überhaupt unbekannt; man watete solange durch den warmen Sand, bis die Füsse trocken wurden, oder ging barfuss über die Haide nachhause.

Ungefähr so, wenn auch schon ein klein wenig kultivierter, habe ich, nachdem ich mit meiner Familie einen Sommer in dem hübschen Seebade Kahlberg auf der frischen Nehrung unweit von Elbing, einen andern in Neu-Kuhren zugebracht hatte, Rauschen vorgefunden, wo ich dann siebzehn Mal immer in demselben Fischerhäuschen hoch oben einkehrte und in dem kleinen Gärtchen mein Zelt aufschlug. An diese genussreichen Sommeraufenthalte von vier bis fünf Wochen werde ich nicht aufhören mit Sehnsucht zurückzudenken.

Das Dorf Rauschen liegt eine knappe Viertelstunde von der See entfernt in einem lieblichen Thal, das von einem hier zum Mühlenteich aufgestauten Flüsschen durchzogen ist. Die Häuser, meist noch mit Stroh gedeckt, steigen in drei oder vier Staffeln an der gegen den Seewind geschützten Wand auf und sind von Obstgärten umgeben, die obersten auch von prächtigen alten Eichen beschattet. Die Hügel drüben sind bewaldet bis in die sogenannten Katzengründe[230] hinein, die ihren Namen von den weissen, in die Birken- und Eichenpläne eingelagerten Sandschollen erhalten haben sollen. An der einen Schmalseite des Teichs stehen auf dem Mühlendamm uralte Linden, die ihre Zweige bis in's Wasser senken. Zwischen dem Dorf und dem etwa 150 Fuss hohen, zerklüfteten Seeufer zieht sich die Haide hin, deren Sandkuppen spärlich mit Birkenstrauch, üppig mit Wachholder (in Ostpreussen Kaddick genannt), Haidekraut und kleinen blauen Glockenblumen besetzt sind; unregelmässige Sandpfade führen zwischen ihnen durch und über sie hin. So war's wenigstens damals zu Anfang meiner Bekanntschaft noch. Denn jetzt sind auch dort einige Villen gebaut und auf der Haide Anpflanzungen gemacht, durch die ein breiter schnurgerader und von Bäumen eingefasster Weg zur Strandtreppe führt. Auch zieht man sich jetzt schon ganz gesittet zum Baden in Holzbuden aus und findet sogar Bretter über den Sand gelegt. Die Idylle hat dadurch aber doch nur wenig verkümmert werden können, und den verwöhnten Badegästen von heute wird sie vielleicht so erst geniessbar.

Anfangs Juli zogen die Wirte aus ihren Wohnräumen aus in die leere Scheune oder den Stall (meist mit der Wohnung unter einem Dach). Haus und Stuben wurden dann mit Kalk geweisst. Man fand nur das allergeringste Mobiliar vor. Deshalb musste alles sonst unumgänglich Erforderliche an Möbeln, Betten und Küchengerät mitgenommen werden. Damit wurde ein langer Kremser beladen, dessen vordere Sitze für die auswandernde Familie freiblieben. Erst in den letzten Jahren habe ich mir einen zweiten Wagen gestattet, der uns schneller zum Ziel brachte. Wenn die weissen Seeberge sichtbar wurden, spannte sich schon die Aufmerksamkeit der Kinder, und sobald sich aus der Einsenkung der blaue Wasserstreifen hob, brach jubelnd der Kanon los: »Ich seh' die See – ich seh' die See« – und endlos wiederholt: »ich seh' die See.« Und dann wurden die Zeltstangen mit grauer Leinwand bekleidet, wobei der Wirt für einen ExtraThaler[231] zur Begrüssung zu helfen das Recht hatte, die niedrigen Stuben (ich stiess mit dem Kopf an die Balkendecke) möbliert, die Verhältnisse in der mit den Wirten gemeinsamen Küche, eigentlich nur einem Heerde unter dem zwischen zwei Thüren liegenden Schornstein, geordnet. Man versuchte Plattdeutsch zu sprechen, und ich habe sogar Spasses halber in samländischem Dialekt gedichtet.

An schönen Spaziergängen fehlte es nicht. Im Wäldchen drüben oder am Teich entlang zu den Teichwiesen, oder den Weg aufwärts an einigen Hünengräbern vorüber nach der romantischen Gausupp-Schlucht und dem Waldhäuschen, in dem so köstliche Schaumflinsen gebacken wurden, oder am entgegengesetzten Thaleinschnitt hinauf nach Sassau, Lappönen und dem durch seine einsame Tanne weithin sichtbaren Tikrenen, dessen Spezialität eine herrliche »Schmand mit Glumse« (Sahne mit Quark) war. Auf einem Bauerwägelchen war leicht die Oberförsterei Warnicken mit der tiefen auf die See auslaufenden Wolfsschlucht, das reizend auf der Höhe gelegene Fischerdorf Klein-Kuhren und der Wachbudenberg, Gross-Kuhren mit dem merkwürdigen Zipfelberg zu erreichen. Wie oft habe ich unter den Rieseneschen des Warnicker hohen Strandparks die Glutscheibe der Sonne majestätisch in die See tauchen sehen!

Vorüber, vorüber! Im Sommer 1895 frischten wir noch einmal die alten schönen Erinnerungen auf, als wir in Rauschen unsere Kinder, Professor Richard Garbe und Frau Anna, und die drei Enkelchen besuchten. –

Schon zuletzt in Königsberg und mehr noch in Berlin wurden Badereisen Bedürfnis. Ich bin zweimal in Kissingen, zweimal in Tarasp, dreimal in Gastein und wiederholt im Württembergischen Wildbad gewesen, meine Gesundheit zu kräftigen, oder mehr noch kräftig zu erhalten. Denn im Ganzen konnte ich mit ihr, besonders nach dem, was ich ihr zumutete, wohl zufrieden sein.

Die erste weitere Reise unternahm ich mit meiner Frau[232] 1867, als ich mir vier- oder fünfhundert Thaler erspart hatte, nach der Schweiz. Wir reisten aber dahin, um möglichst viel für unser Geld zu sehen, über Köln, rheinauf bis Mainz und weiter mit Aufenthalten in Frankfurt, Baden-Baden und Freiburg, wo mich der Dom anzog. In der Schweiz hatten wir auf dem Rigi keine Aussicht und wanderten auch bei Nebelwetter zu Fuss durch das Berner Oberland. Besser gelang ein Abstecher nach dem Walensee und hinauf bis Stachelberg unter dem Tödi. Ich bin später noch oft in dem schönen Lande, am Vierwaldstätter-, Thuner- und Genfer-See, im Oberengadin und in Chamounix gewesen, so auch in Tirol und im Salzkammergut, und habe im allgemeinen mein Wetterglück rühmen dürfen. – Dass ich 1872 über Wien nach Italien reiste, erzählte ich schon. Unser Weg führte über Triest, Venedig, Bologna, Florenz. Dort hatte ich eigentlich umkehren wollen und deshalb das Rundreisebillet nur bis dahin genommen. Es war aber doch zu verlockend, Rom wenigstens obenhin zu sehen. Wir fuhren dahin und haben die vier Tage, die wir der ewigen Stadt widmen konnten, trefflich ausgenutzt. Da die Pfingstfeiertage inzwischen fielen und die Museen doch unzugänglich waren, entschlossen wir uns schnell, auch noch Neapel, Pompeji, Capri und Sorrent einen flüchtigen Besuch abzustatten und haben diesen Extraausflug nicht bereut, da wir nun eigentlich erst das Italien unserer Träume sahen. Den Rückweg nahmen wir über Pisa, Spezia, Genua (teilweise zu Schiff bei heftigem Sturm), Turin, die oberitalienischen Seeen und Verona. Wir haben dann Italien mehr als zwanzig Jahre später noch zweimal mit mehr Musse gesehen. Zuerst nach einem entzückenden Aufenthalt am Gardasee (in einer Villa unweit Riva) hinab bis Siena, diesem hochinteressanten Stadtbaurest aus dem 14. Jahrhundert; dann kürzlich (1898) bei längerem Verweilen in Stresa, im Albanergebirge, Neapel und Capri, Amalfi, Salerno und Paestum, endlich in Rom, wo wir mit dem uns längst enge befreundeten Ehepaar Girndt die Pension Pecori[233] auf dem Quirinal teilten. – In Paris brachten wir 1880 unangefochten und sogar recht höflich behandelt zehn Tage zu und durchreisten dann Belgien und Holland, um uns an ihren Kunstschätzen zu erfreuen. – Auch in Kopenhagen und Umgegend haben wir uns umgeschaut und einem schwedischen Seestädtchen von Helsingör aus unsern Besuch abgestattet. Auf mehreren dieser Reisen begleiteten uns unsere Töchter.

Die allbekannten Orte zu schildern und kleine Reiseerlebnisse mitzuteilen, wie sie vielen Touristen passieren, darf ich mir ersparen.

Dass mir diese Reisen viel schriftstellerischen Stoff zugeführt hätten, kann ich nicht behaupten; nur meine Skizzenbücher und Handzeichnungen sind voll von Erinnerungen. Aber sie haben ganz buchstäblich meinen Horizont erweitert und sind mir immer die beste Ableitung von aller Gedankenarbeit, somit die wirksamste Erfrischung gewesen. Man hat geglaubt, dass meine dichterischen Erzeugnisse hauptsächlich in den Ferien entstanden seien. Nichts ist unrichtiger. Nur bei längeren Aufenthalten an demselben Ort habe ich ein paar Stunden des Tages dazu verwendet, mit Bleifeder in ein Büchelchen einzutragen, was mir einfiel. Gerade das zeitweilige Brachliegen war meiner Produktion nützlich.

Quelle:
Wichert, Ernst: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis, Berlin und Leipzig 1899, S. 228-234.
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