[Lebensabrisse der Geschwister.]

[74] Ich verweise auf das was mein Vater in seiner Lebensbeschreibung sagt auf dieselbe; in Betracht seiner Vermählung, seiner ersten u. zweiten Gattin, meiner Mutter, durch welche wir fast mit allen ersten Bürgerlichen in Verwantschaft kamen so wie mit manchen der Adelichen durch Heirathen derselben von Töchtern der ersten.


Mein ältester Bruder Christian Friederich Michaelis war, da er anno 1754 geb. ward den 13. Mai, um vieles aelter wie ich; denn wie er 76 von Strasburg als Doctor zurück kam sah ich ihn schon als einen Mann, u. fürchtete ihn villeicht mehr wie ich ihn liebte. Ich hatte damals die Pocken; obgleich geimpft war ich doch sehr krank, u. ward so wie man vorher mich immer als ein hübsches Kind berif, was besonders ein Herr v. Ramdohr [der] ein Freund meines Bruders u. Verehrer meiner Schwester Caroline war, u. später sich einen berühmten Namen machte, that, mich oft mit Zuckerplätzchen fütterte wenn ich an der Hand eines schönen jungen Dinstmädgens aus der Strickschule kam, mehr wegen dieser wie meiner blauen Augen that. Indessen reizte es meine kleine Eitelkeit, die nachdem ich die Pocken gehabt hatte, sehr durch den Ausspruch gekränkt ward: »Wie ist das Kind häslich geworden« – was mich doch so kränkte das ich es nicht vergessen habe, u. es mir oft in Sinn kam, wenn mir später gehuldigt ward.

Die Widerkunft meines Bruders gab zu manchen Freuden Anlaß, zu Bällen die im Hause waren, da mein Vater damals nicht litt daß meine Schwestern öffentliche besuchen durften u. so mein Bruder einen Piquenik anordente, wo besonders die Familien Böhmer, Schlözer, Feder, Gräzel, Ayrer u. so beitrugen u. auch besonders ausgezeichente Studenten wie Rahmdor. Allein der Söhne Böhmer gab es auch 3, die mit den Bruder befreundet waren, u. später der Arzt, meiner Schwester Caroline Mann. Diese Familie war auch der tägliche Umgang u. alle Glider fanden darin ihre Gesellschaft, an gleich gesinnten u. an Alter; dazu waren unsere Gärten neben einander, u. der Stündliche Verkehr ununterbrochen.[75]

Darauf reiste mein Bruder nach Londen um sich als Arzt auszubilden. Hier erhielt er erst den Antrag von Lord Shesterfielt1 seinen Sohn auf Reisen zu begleiten. Allein er zog vor mit den damals in Eng.[lischen] Sold genommen. Hessen als Staabsmedicus mit Eng. Sold den Feldzug mit zu machen, u. nach Amerika zu gehn, eine in der Zeit fast so abentheurliche Reise wie in den Mond. Da verblieb er den ganzen Feldzug u. kam mit den Truppen zurück wo er in Cassel als Leibarzt von den damaligen Landgrafen angestellt ward, später aber von dessen Nachfolger nach Marburg als Professor mit dem Titel eines Oberhofrath versetzt ward, u. sich als Arzt u. Chirurg einen Nahmen gemacht hat bis er Anno 1814 ein Opfer eines Nervenfiebers ward, da er die Kranken der preusch. wie franz. Hospitäler besorgte.

Nachdem mein Bruder zurück kam – ich ward eben 14 Jahre alt – verheirathete sich meine Schwester Caroline mit den Sohn des Geheimejustitsrath Böhmer, der Bergarzt in Clausthal ward. Mein Bruder vermählte sich erst später mit einer Frau von Malzburg, welche ihm keine Kinder mehr gab, u. da durch die Kriegsunruhen u. den Wechsel der Landesherrn er in seinen Einnahmen oft bedrängt ward, hat seine sehr geachtete Wittwe von der Pension welche sie noch aus den Güttern der Famille ihres [ersten] Mannes zog, dazu verwendet nun alles ins gleiche zu bringen. Nach dem Tode meines zweiten Bruders 1811 hatte er die zweite Tochter Sophie zu sich genommen. Allein die Tante brachte sie wieder zu der Mutter, da ihr jezt andere Pflichten oblagen. Ein sonderbarer Fall brachte meinen Bruder in große Krankheit, u. Momentane Geistesabwesenheit. Er war in Winter bei einen Krankenbesuch von Pferde auf den Hinterkopf gefallen. Er genaß nachdem man schon daran dachte ihn zu trepaniren. Aber er hat Lebenslang eine ungewöhnlich große Handschrift behalten. – Mit seinen Hinscheiden überlebte ich Alle die Meinen. – Er war ein schöner Mann eben wie Geistreich, aber auch heftig wie kräftig, hatte viel Liebe zu den Seinen, die ins romantische ging zu seiner Schwester Caroline.

Quelle:
Wiedemann, Luise: Erinnerungen von Luise Wiedemann, geborene Michaelis, der Schwester Carolinens. Nebst Lebensabrissen ihrer Geschwister und Briefen Schellings und anderer, zum ersten Mal herausgegeben von Julius Steinberger, Göttingen 1929, S. 74-76.
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