VIII. Greifswald
Ostern 1876 bis August 1883
Und in Greifswald, da wehnt der Wind so kalt.

[176] Das alte Studentenlied hat recht. Auch mir ist es wie vielen Zuzüglern gegangen, daß ich mich erst durch eine chronische Halzentzündung an den Wind gewöhnen konnte. Die reizlose Gegend lockte nicht zum Spazierengehen; der Wald von Eldena war weit, der Bodden, wirklich kein Meer, erst durch kurze Dampfschiffahrt zu erreichen, so daß das Baden Stunden kostete. Rügen ließ sich nicht in einem Tage besuchen. Die Osterferien über blieb man ohne Frühling wohl oder übel zu Hause, aber mit dem Schlusse des Sommersemesters mußte man fort. Gleich im ersten Jahre ging es für den Calpurnius nach Italien, 1877 zu meiner ersten (bis 1921 einzigen) Philologenversammlung nach Wiesbaden, um einen Vortrag zu halten und Usener zu huldigen. Ostern 1878 schickte mich der Arzt nach Rom; ich verlobte mich mit Mommsens ältester Tochter, heiratete im Herbst, und ein neues besseres Leben begann, das aber für die letzten anderthalb Jahre durch eine sehr schwere Erkrankung meiner Frau getrübt ward, die ein besonders rauher April niederwarf; erst die Übersiedelung nach Göttingen hat ihr allmählich die Gesundheit wiedergegeben, und schwerlich wäre es so gut abgegangen, wenn wir nicht immer eine Zuflucht bei meinem Bruder in Markowitz und Kobelnik gefunden hätten, um so heimischer, da unsere Frauen sich befreundeten. Gerade 1882 war der Herbst besonders schön und wir wohnten ganz weltabgeschieden mit den Kindern allein in Kobelnik. Wie ich in der Heimat die erste Broschüre und das erste Buch geschrieben hatte, arbeitete ich jetzt zum ersten Male die Metrik sämtlicher Chorlieder des griechischen Dramas nur von den Texten heraus, was sich noch mehrfach wiederholen sollte, bis ich mich getraute, meine griechische Verskunst zu schreiben, die vorläufig nicht gelesen wird. Wenn ich ein System aus allgemeinen Prinzipien aufgebaut hätte, würde es anders sein; der Weg über Textkritik und Interpretation ist unbequem. Aber ich erkenne an, daß ich alles noch einmal hätte umschreiben sollen. In der verzweifelten Stimmung gleich nach dem Untergange meines Vaterlandes glaubte ich auch meinen[177] Tod nahe und wollte doch die Ergebnisse von vierzig Jahren noch irgendwie zusammenfassen.

Wenn ich so in Greifswald nicht heimisch geworden bin, ist es begreiflich, daß die Berliner Beziehungen namentlich zuerst stark nachwirkten. Kaibel kam von Berlin, später, als er über Breslau (von dem Platze, den ich ausgeschlagen hatte) nach Rostock gegangen war, von dort und ist immer unser liebster Gast gewesen. Seine Kritik förderte meine erste Ausgabe des Kallimachos. Griechische Postkarten in Prosa und Versen flogen hin und her. Ich habe noch die Übersetzung der Vorrede von Lessings Laokoon mit seinen Korrekturen. Ich hatte dem Seminar diese Aufgabe gestellt, natürlich nur denen, die es wagen wollten; so etwas konnte man damals noch versuchen. Auch ein Stück aus Schillers naiver und sentimentaler Dichtkunst nahm ich vor, das meine Hochachtung vor seiner Prosa stark herabstimmte. Aber Cicero (Tusculanen V und namentlich die Vorrede de optimo genere oratorum) zu übersetzen, ist mir immer so leicht und so erfreulich gewesen, wie es Cobet von sich bekannt hat. Auch die Studenten waren gern dabei und haben gewiß für beide Sprachen daran gelernt. Die philosophischen und rhetorischen griechischen Termini muß man ihnen angeben, dann würdigen sie auch den Römer, der es erreicht, sie in der eigenen Sprache wiederzugeben, ohne diese zu vergewaltigen.

Robert, der sich nun in Berlin habilitierte, kam auch mit seiner vortrefflichen Frau, sogar mit dem ältesten Kinde, und diese Freundschaft zu vieren ward eifrig gepflegt. Es war sein Unglück, daß seine Frau erkrankte und nach langen Leiden viel zu früh für den Gatten und die Kinder starb. Er hatte durch sein feuriges Lehrtalent sofort einen vollen Erfolg, und Mommsen verschaffte ihm ein persönliches Ordinariat, als er einen Ruf nach auswärts erhielt. So segensreich seine Lehrtätigkeit sich auch weiter in Berlin gestaltete, war es für ihn schwerlich ein Segen. Es ward niemals in mancher Hinsicht eine volle Stellung und genügte auch sonst seinen Ansprüchen nicht. So ist er nach Halle gegangen, als Kekule neben der Direktorstelle am Museum auch eine Professur erhalten sollte, und damit war eine Fortsetzung der Lehrtätigkeit in dem gleichen Stile für beide unmöglich. Robert ist daher immer mehr zu einer umfassenden literarischen Produktion übergegangen, zum Teil rein philologischen Problemen zugewandt. Am glücklichsten hat ihn wohl die Inszenierung Menanders und der sophokleischen Ichneuten gemacht, in ihrer Art glänzende Versuche. Menander würde freilich gegen das Umsetzen in das Burleske protestiert haben.[178]

Auch Leo kam, von einer neuen Reise in den Süden heimgekehrt, bevor er sich in Bonn habilitierte; mit den Tragödien des Seneca tat er einen großen Wurf, und ich las die Druckbogen. Mommsen trug ihm den Venantius Fortunatus auf: so lohnte er, wenn er einem Anfänger etwas zutraute.

Diels war wenigstens in Berlin nähergerückt, wo ihn Zeller, noch als er Gymnasiallehrer war, in die Akademie brachte. Mit den Doxographen trat Diels völlig ausgereift in die Reihe der vornehmsten Philologen, wie sich gebührte, uns anderen voran. Mommsen ist er niemals näher getreten. Zeller, den ich so glücklich gewesen war, einige Male in angeregter Gesellschaft seinen treffenden, manchmal gar nicht schonenden Witz und seine ungewollte Überlegenheit zeigen zu sehen, hatte in Diels sofort nicht nur den Gelehrten, sondern eine ihm in vielem verwandte Natur erkannt und es sich verdient, daß Diels ihm über den Tod die wärmste Verehrung bewiesen hat.

Mommsens sechzigster Geburtstag (30. Nov. 1877) sollte eine große Feier werden. Kießling und ich fuhren hinüber, denn er war philosophischer Ehrendoktor von Greifswald1. Der Abend in seinem Hause ist wohl das ungetrübteste Fest seines Lebens gewesen, denn die herzlichste Verehrung leuchtete in allen Augen. Treitschke hielt mit seinem Feuer und der mächtigen Stimme, die durch drei Stockwerke tönte, die Rede nicht nur auf den Forscher, sondern noch mehr auf den Patrioten, vom Dänenkriege 1848 (in dem Mommsen Kriegskorrespondent gewesen war) und der Absetzung durch die sächische Reaktion her. Andern Tages sprach im kleinen Kreise Scherer, der eben nach Berlin gekommen war, in seiner feinen Weise. Ich versuchte an Niebuhr, Nachfolge und innere Gegnerschaft, zu erinnern und brauchte den Ausdruck Jubelgreis in einem Sinne, der dem jugendkräftigen Manne nicht zuwider war. Die Commentationes Mommsenianae enthielten auch Beiträge von Ausländern, und für die unvertretenen Länder war es kein Ruhm. Zum Teil mag es an den Redaktoren gelegen haben, Studemund und Hübner, bei denen ich mit Mühe durchgesetzt hatte, daß Kaibel und Robert aufgefordert waren, die doch Mommsen näherstanden als viele, die nur wegen ihrer Stellung Aufnahme fanden. Im ganzen beweist auch dieser Band, daß solche Gelegenheitsschriften vom Übel sind. Ich habe nur noch einmal einen Beitrag geliefert, als es H. Weil galt, der zum Franzosen geworden war, weil ihm in Deutschland der verdiente Lehrstuhl unerreichbar war. Später habe ich gegen den Unfug der Fest schriften immer ebenso energisch wie vergeblich protestiert. Bernays nannte den unförmlichen Band[179] der Commentationes Mommsenianae einen Kyklopen, dem selbst sein eines Auge, der Index, fehlte. Hübner, der das Buch überreichte, war der Redaktion nicht gewachsen; er war es auch beim Hermes nicht, so daß Mommsen, da Diels ablehnte, Kaibel und Robert an seine Stelle setzte. Damit war Hübner von dem fallen gelassen, der ihn hochgebracht hatte, und war zugestanden, daß es ein Mißgriff gewesen war. Es läßt sich schwer vermeiden, ist aber immer nicht nur der Sache, sondern auch dem Betreffenden selbst schließlich zum Schaden, wenn ein brauchbarer Assistent in eine Stellung gehoben wird, die er nicht ausfüllen kann. In den großen medizinischen und naturwissenschaftlichen Instituten dürfte es besser geordnet sein.

Keine zwei Jahre darauf erfolgte der unselige Brand in Mommsens Hause, der mit seiner Bibliothek einige entliehene Handschriften verzehrte. Schon dies war eine schwere Erschütterung für ihn. Seine politische Schwenkung zu den Freisinnigen, die er 1867 abgeschüttelt hatte, kam hinzu; der Bismarckprozeß hat ihn stark angegriffen. Ein künftiger Biograph wird hier eine neue Periode beginnen müssen. Er konnte nicht verkennen, daß viele Freunde, darunter Treitschke, sich abwandten, und auch von denen, die treu blieben, seine politische Haltung mißbilligt ward, wofür das geflissentliche Lob einer gewissen Presse schlecht entschädigte2. Er hat sich in seiner politischen Haltung, zumal nach außen hin, immer mehr versteift, aber dem alten Kaiser hat er in der Akademie einen Nachruf gehalten, der nicht vergessen werden darf. Vom Lehramt trat er bald zurück und berief Otto Hirschfeld, das deutliche Zeichen der seelischen Depression. Die Fortsetzung der Römischen Geschichte war schon früher aufgegeben; ich habe es oft mit ihm besprochen und ihn in dem Entschlusse bestärkt3. Dafür war das Staatsrecht in den Hauptteilen schon da und an den Römischen Forschungen hatte er große[180] Freude gehabt. Eine Auswahl seiner juristischen Schriften war in Aussicht genommen; ich habe einen Probedruck, wenn nicht einen Bogen in Händen gehabt4. Das zerstörte der Brand. Den Jordanes zu vollenden mußte ihm eine Pein sein, das Monumentum Ancyranum ein Trost. Arbeit machten die Inschriften und die Sorge für die auctores antiquissimi auch genug, für die er später den Cassiodor in fabelhafter Schnelligkeit und die Riesenarbeit der Chronica minora fertigstellte. Aber um diese schwere Editionsarbeit zu leisten, mußte er etwas suchen, das ihm Freude machte und das Gefühl der ungebrochenen Schaffenskraft zurückgab. Plötzlich schickte er mir nach Göttingen den Entwurf zu den drei ersten Kapiteln des fünften Bandes der Geschichte, ich sollte sagen, ob sie den Druck verdienten und die Fortsetzung sich lohnte. Der Zustand war noch skizzenhaft; es scheint mir auch heute, daß sich aus den Monumenten über die Zustände und die Kultur der Provence und Galliens mehr hätte sagen lassen; was über die spanischen Schriftsteller gesagt ist, sind wenige befremdend ungerechte Worte, und ein Verehrer des Werkes wird diese Teile schwerlich besonders hervorheben. Dennoch trat ich warm für die Fortsetzung ein und sie in den Bogen, teilweise auch mitarbeitend im Manuskripte zu verfolgen war ein Hochgenuß5. So entstand ein Werk, der Römischen Geschichte ebenbürtig, gerade auch darin, daß es eine gewaltige Aufgabe nicht sowohl löste als die Grundlinien zog, auf denen einmal eine Kulturgeschichte der Kaiserzeit aufgebaut werden muß, die sowohl die geistige Reichseinheit wie das Sonderleben der Provinzen schildern muß, allerdings auch auf die Zukunft weisend die Orientalisierung der Welt; von Philosophie und Religion hat Mommsen mit Bedacht geschwiegen. Wenn er auch mit der Aufnahme durch das Publikum nicht zufrieden war, hatte er doch Kraft und Lust zu schaffen wiedergefunden und vollendete das Staatsrecht in wunderbar kurzer Zeit. Ich habe auch von diesem die Bogen mitgelesen.[181]

Ich mußte vorgreifen, um das Zusammengehörige nicht zu zerreißen, das für Mommsens Biographie wichtig ist. Persönliches, wie daß er seine silberne Hochzeit in meinem Hause gefeiert hat, besitzt keine solche Bedeutung.

Mit Berlin verband mich auch das Militär. Nach den damaligen Bestimmungen war ein Institutsdirektor im Kriegsfalle unabkömmlich, daher mußte ich zur Landwehr übertreten, da aber eine kurze Übung machen. Ich ward einer Kompanie zugewiesen, vor deren Hauptmann die Kameraden warnten, weil er den meisten Dienst ansetzte und seine Offiziere streng herannahm. Hauptmann von Krosigk war zur Auszeichnung wegen seiner Haltung im Kriege von den Lübbener Jägern in die Garde versetzt; mittellos, wie er war, ward es ihm sehr schwer, mit der Familie in Berlin auszukommen. Er hat es mir erzählt, denn wir wurden bald gute Freunde. Der Dienst war freilich schwer, aber der Hauptmann nahm ihn für sich am schwersten, und ich tat ihn gern, denn gleich am ersten Tage hatte er mir das Beispiel vom preußischen Militarismus gegeben, das öffentlich zu erzählen, wie ich mündlich oft getan habe, mir eine willkommene Pflicht ist. Am ersten Abend waren zwei Landwehrleute betrunken verspätet in die Kaserne gekommen. Am andern Morgen versammelte Krosigk die Kompanie, schimpfte mit den derbsten Ausdrücken auf die Schuldigen und bestrafte sie so schwer, wie in seiner Kompetenz lag. Es schien grausam. Da änderte er die Stimme. »Kerls, wir sind alle im Krieg gewesen, sind alle keine Jungens mehr, und ich denke, ihr seid ordentliche Preußen. Es schickt sich nicht, daß so einer auf die Latten kommt, und ich mag nicht, daß in meiner Kompanie so was vorkommt. Ich will euch was sagen: wenn in den zwölf Tagen nichts weiter passiert, dann ist auch gestern nichts passiert. Habt ihr verstanden?« »Zu Befehl Herr Hauptmann.« Nach zwölf Tagen trat die Kompanie wieder zusammen. Da dankte er mit gerührter Stimme in schlichten Worten, die den Leuten zu Herzen gingen. Sie hatten wie ich einem solchen Hauptmann zuliebe den schwersten Dienst willig getan; sie waren eben ordentliche Preußen. Im Kriegsfall würde ich reklamiert worden sein, aber vor der Beförderung zum Premierleutnant war eine Übung von 8 Wochen unvermeidlich und verkürzte das Semester empfindlich. In mehr als 50 Jahren habe ich niemals so lange ausgesetzt. Dafür machte ich ein verregnetes Manöver in der Neumark mit, aber den Stern habe ich auf die Epaulettes nicht gesetzt, denn bei der Übersiedlung nach Göttingen nahm ich den Abschied.

Soviel auch nach außen zog und eine Neigung, in Greifswald festzuwurzeln, nicht aufkommen ließ, fürs erste galt es dort zu leben, und die Begründung des eigenen Hausstandes, die Geburt der ersten Kinder ist doch ein starkes[182] Band der Erinnerung. Greifswald war eine Kleinstadt, die in den drei alten stattlichen Kirchen und ein paar Giebelhäusern Zeugen einer glänzenderen Vergangenheit bewahrte, da ein reicher Bürger die Universität gründen konnte. Ihr Rektormantel ist das Original, nach dem der Berliner gearbeitet ist, eine Herzogin von Pommern hat ihr einen kostbaren Teppich gestickt, der in gewissen Jahren feierlich ausgestellt wird. Nun war Stadt und Universität klein geworden, nur wenige Schiffe Greifswalder Reeder schwammen auf dem Meere. Die Stadt lebte von Universität, Oberlandesgericht und den Großgrundbesitzern der Umgegend; die Bauern waren unter der Schwedenherrschaft ausgekauft; aus dieser hatte sich auch noch die Geltung des gemeinen, römischen Rechtes erhalten. Kein geringer Teil des Kreises gehörte der Universität, die also Patron der Kirchen war, so daß die Bewerber um erledigte Stellen bei allen Professoren um ihre Stimmen warben. Beziehungen außerhalb des Universitätskreise haben sich für mich nicht ergeben; aber oft ging unter meinen Fenstern die nun nicht mehr jugendschöne, höchst resolute Dame vorüber, die Spielhagen in den Problematischen Naturen eingeführt hat; es hefteten sich lustig derbe Geschichten an ihre Eheerlebnisse, die ich nicht erzähle. Spielhagen aber durfte sich in Greifswald nicht sehen lassen, weil er sie und andere bekannte Personen und Verhältnisse aus dem Leben takt- und rücksichtslos übernommen hatte, so auch noch zuletzt in der »Sturmflut«. Dieses verheerende Naturereignis hatte noch Spuren hinterlassen; bei dauerndem Ostwind trat der Ryk über die Ufer in die Gräben der Stadt, recht empfindlich; Kanalisation fehlte. Im täglichen Leben und Verkehr herrschte manches, was sich jetzt die meisten gar nicht denken können. Geheizt ward mit Holz, das man sich für den Winter am Hafen von den Schiffern selbst einkaufte, soweit Kohle verwandt ward, kam sie aus England. Wenn die Heringsfischer mit einem guten Fang heimkamen, trugen sie die Fische herum, und wer soviel verbrauchen konnte, bekam einen Eimer (Wall) voll für wenige Groschen. Andere Fische gingen sämtlich nach Berlin. Die Gänsemast mit dem verbotenen, aber allgemein geübten Stopfen ward von den Bürgern viel geübt; das Einschlachten gehörte sich für jeden Hausstand, und die Dienstmädchen erwarteten im Winter eine Gans als ständigen Sonntagsbraten. Bei ihnen war die Moral sowie sie heute von den Anhängern der neuen Zeit gepredigt wird. Ein Handwerker empfahl uns ein Mädchen für den Oktober »jetzt ist sie nur gerade in's Klinik«. Wir haben sie nicht genommen, aber zwei andere aus solchem Anlaß gehen lassen, haben aber auch sehr gute Dienstboten gefunden. Eine Freude war es, daß die niederdeutsche Sprache noch fast allgemein herrschte; die Leute wurden erst vertraulich,[183] wenn sie sie sprechen durften, und manche Wendung drang in die allgemeine Unterhaltung. Die Kenner hatten an Reuters mecklenburgischem Platt manches auszusetzen, andere erklärten, nur in Wolgast spräche man noch ganz unverfälschtes. Es fiel auf, daß eine katholische Kirche erbaut war, obgleich Katholiken nur unter den Studenten waren, nicht wenige Polen, und das Urteil unserer Wäscherin gab zu denken: »der katholische Pfarrer geht mit jeder Leiche auf den Kirchhof; unsere tun es nur, wenn man ihnen einen Wagen bezahlt.« Dabei hörte man die mir schon aus dem Kriege bekannte Redensart »das ist zum Katholisch werden«. Jetzt soll die Propaganda manchen Erfolg gehabt haben.

Meine Hauptaufgabe war, in dem neuen Lehramte festen Fuß zu fassen und mich als Glied des Lehrkörpers in die Universität einzufügen. Das erstere ging leicht; für das andere mußte der Anfänger viel lernen, und die Verhältnisse lagen in Greifswald nicht ganz einfach. Der Gegensatz zu Bonn und Berlin war stark; die Universität war von ihrer Gründung her mit Grundbesitz reich ausgestattet und hatte sich lange selbst erhalten, viel zu lange, denn für die Anforderungen der Gegenwart reichten die Mittel längst nicht mehr. Seit einer Reihe von Jahren hatte der Staat eingegriffen, namentlich für die medizinischen Bauten gesorgt, so daß diese Fakultät die bestbesetzte und besuchteste war. Aber um die Naturwissenschaften stand es kläglich. Ein ordentliches Laboratorium hatte nur die Chemie; das hatten die Mediziner durchgesetzt. Die juristische Fakultät hatte so wenige Zuhörer, daß der Klapphornvers entstand:


Es trafen sich zwei Juristen,

die eigentlich lesen müßten.

Beim ersten hörte keiner,

dem andern schwänzte seiner.


Auch unter den Professoren gab es noch Vertreter der alten Zeit. So war der Kurator noch einer der Professoren (der Nationalökonom Baumstark, zugleich Vertreter im Herrenhause), was ganz ungehörig ist, schon weil er als Fakultätsmitglied den Verhandlungen beiwohnt, also namentlich bei Berufungen dem Ministerium über Dinge berichten kann, die im Schoße der Kollegen bleiben müssen. Dazu hatte er in dem Verwalter des Universitätsvermögens einen zweiten Kurator neben sich, Hänisch, Onkel, soviel ich weiß, eines auf einen Abweg geratenen Neffen, der ihn auf den Sessel des Ministers für Wissenschaft und Kunst führen sollte, weil er nichts von ihnen verstand. Bei dem Professor Hünefeld habe ich selbst noch Besuch gemacht, der einst wohl ziemlich die ganze Naturwissenschaft vertreten hatte, nun auf[184] Mineralogie (im allerweitesten Sinne) beschränkt war. Er klagte mir über den Verfall der Zeiten, seit es so viele Studenten gäbe, wären die Aale zu teuer geworden, auch ganz klein. »Ja früher, da bekam man so dicke« und er zeigte auf seinen Arm. Über jene Zeiten berichtete der vortreffliche Chemiker Limpricht, der noch in den fünfziger Jahren nach Greifswald gekommen war, unter anderem, wie er bei einem alten Professor Besuch gemacht hätte, der noch aus der Schwedenzeit stammte. Der stellte zuerst die Frage »was haben Sie studiert?« »Ich bin Chemiker.« »Und haben auch Chemie studiert? Wie die jungen Leute es jetzt bequem haben. Ich hatte doch Theologie studiert und bin Astronom (ohne Sternwarte). Da hat Ihnen die Ernennung wohl auch gar nichts gekostet. Ich habe dem Kammerdiener des Fürsten von Putbus (damals Kurator) einen guten Batzen Geld zahlen müssen.« Ein Jurist Pütter war verstorben, aber unvergessen, daß er dem Könige Friedrich Wilhelm IV. auf die Frage »sind Sie mit dem berühmten Pütter verwandt?« geantwortet hatte »entschuldigen Majestät, der bin ich selbst«. Schließlich Münter (in der Stadt natürlich Münting genannt), der Zoologie und Botanik vertrat und sich um die Verschönerung der Stadt durch Anpflanzungen entschiedene Verdienste erworben hat. Man konnte dem gutmütigen und lustigen alten Herrn nicht gram sein, erzählte aber unzählige Schwänke von ihm. Nur einen setze ich her6. Er hatte die Pariser Weltausstellung von 1869 besucht und soll erzählt haben: »Da fahre ich im Omnibus, will aussteigen und fasse eine Schnur, die da herabhing, dachte, es wäre eine Klingelschnur. Es war aber der Zopf eines Chinesen. Der fing fürchterlich an zu zetern, der Schaffner ließ uns beide aussteigen, der Kerl wird zudringlich, ich entschuldige mich und reiche ihm meine Karte«. Sowie er die liest, verbeugt er sich tief und sagt »Professor Münter aus Greifswald? große Ehre«. Es gab noch mehr Originale wie den Orientalisten Ahlwardt, den Kunsthistoriker Pyl, der sich ein Haus gebaut und möglichst klassizistisch eingerichtet hatte, aber ganz im Verborgenen lebte, nur die Antrittsvisiten in Empfang nahm; sonst merkte man von seiner Existenz nichts.

Es bestand natürlich ein Kreis namentlich jüngerer Männer, eine Opposition, die aber noch in der Minorität war. Allmählich wurden neue Stellen geschaffen, traten frische Kräfte ein, wenn sich einer der Alten zur Ruhe setzte oder starb. Wenn nur in Berlin den Wünschen der Fakultäten mehr Rechnung getragen wäre, aber da fiel die Entscheidung nicht selten nach anderen Rücksichten. Der Minister Falk und sein Referent Göppert scheuten[185] sich durchaus nicht vor dem Oktroyieren und mächtige Männer, die sie bestimmten, auch nicht. Virchow hatte Assistenten unterzubringen; Mommsen sprach es ganz offen aus, als ich in einem solchen Falle mich beklagte: »wir konnten ihn nicht brauchen.« Für Greifswald sollte er gut genug sein. Wir, die unter diesem Regimente zu leiden hatten, nannten es Berlinokratie; in mir hat sich dadurch die Forderung der Selbstverwaltung auch im Staate als ein Hauptsatz der inneren Politik festgesetzt, die von dem radikalen Liberalismus zwar im Munde geführt, aber in der Tat rücksichtslos verleugnet wird. Ein Fall stehe für alle. Unser Germanist W. Wilmanns, der als Gelehrter und als Mann wohl der tüchtigste und nach allen Seiten wirksamste der Dozenten war, ging nach Bonn und schlug neben Schönbach den ganz jungen Erich Schmidt vor. In Berlin entschied man sich für Alexander Reifferscheid, dessen Verdienst in irgendwelchen persönlichen Beziehungen zu Falk bestand. Die Studenten waren die ersten, bei denen er es verschüttete. Daß an einer so kleinen Universität der Wechsel der Lehrer häufig ist, also die Jugend überwiegt, gibt ihr ein besonderes Gepräge, ebenso wie an den größten Universitäten das Alter der meisten Dozenten. Das ist für das Ganze recht und gut, aber sehr bedauerlich, wenn einer darum kleben bleibt, weil er nie hätte berufen werden sollen.

Die Opposition schloß sich natürlich zusammen und hatte an älteren und erfahrenen zwei vortreffliche Führer, den klugen Gynäkologen Pernice7 mit seinem selten verletzenden Witze und den Chemiker Limpricht, Direktoren neuer hinreichender Institute, also befriedigt in ihren Stellungen und vergeblicher Opposition abgeneigt. Dann waren mehrere junge Juristen, Alfred Pernice, der bald nach Berlin ging, Hölder, Bierling, der Historiker H. Ulmann, der Philologe Kießling, dieser an Jahren vielen voraus, aber ein angriffslustiger Heißsporn, von den Theologen Wellhausen. Die meisten lasen auch eine Weile gemeinsam lateinische Schriftsteller, Lukrez, Petron, wobei die gesellige Vereinigung das beste war, zumal die Frauen, wo es deren gab, teilnahmen, unter denen Frau Pernice, Mutter einer blühenden Kinderschar, meiner Frau eine mütterliche Freundin ward.

Der größte Gewinn, den mir Greifswald gebracht hat, war die allmählich erwachsende Freundschaft mit Julius Wellhausen, die sich bald auf unsere Frauen erstreckte und für das ganze Leben vorgehalten hat. Er war als Sohn[186] eines Pfarrers, aber aus einer bäuerlich zu nennenden Umgebung nach Göttingen gekommen, um Theologe zu werden, Ewald hatte ihm durch die Forderung streng grammatischer Schulung den Weg zur Wissenschaft gewiesen. Aber er hatte sein Arbeitsfeld in engen Grenzen gehalten, hat auch nie das Bedürfnis gefühlt, den Horizont seiner Interessen zu erweitern; für bildende Kunst z.B. war er ganz unempfänglich. Zu seiner sofort durchschlagenden Untersuchung über Pharisäer und Sadduzäer war er ohne weitere historische Studien gekommen. »Ich habe nur den Josephus gelesen, sagte er; das tun die Theologen nicht.« So kam er aus dem Göttinger Stift nach Greifswald als ein naives weltunerfahrenes fröhliches und friedsames Menschenkind. Er trat in eine Fakultät, in der sich Orthodoxie und Liberalismus schlecht vertrugen8, und die erstere bekam durch das Eingreifen des Staates immer mehr die Oberhand. Baier, der behauptete, Schleiermacher allein verstanden zu haben, war schon in die philosophische Fakultät abgeschoben, wie das öfter geschehen ist, und sollte den Philosophen spielen. Wellhausen kam mit allen gut aus, hielt sich aber zu unserem Kreise und hatte am Petron helle Freude. Er saß an der Bearbeitung von Bleeks Einleitung in das Alte Testament und steckte mir verstohlen die Druckbogen zu dem Anhange »Rückwälzung der Textgeschichte« in den Briefkasten. Ich war entzückt, und nun entwickelte sich ein reger Austausch der Ansichten, zunächst über die Methode der Textkritik. Was ich über Lachmanns recensio und emendatio hinaus gefordert habe, die Textgeschichte, war von Wellhausen mit der Tat schon vorbildlich verfolgt. Ich las dann auch die Bogen seines Hauptwerkes, der Prolegomena zur Geschichte Israels9, und es blieb nicht aus, daß wir auch auf religiöse Fragen eingingen, einander gerade durch manche Unterschiede in ernstem Glauben und freiem Denken bekräftigend. Mommsen hatte gerade die Odi barbare von Carducci aus Italien mitgebracht, auf den ich dort schon aufmerksam geworden war. Wir versuchten uns an Übersetzungen und er ließ zu Weihnachten einige drucken. Ich gab Wellhausen ein Exemplar und sprach in einem Begleitgedichte aus, was für mich entscheidend aus unserem Verkehre erwachsen war.
[187]

Als Christgeschenk legt unter den Tannenbaum,

den zäher Väterglaube dem Wodan weiht,

der Hellenist die Heidenverse

nieder dem Theologieprofessor.


Verdammt wir alle. Rabbi und Pontifex,

Daduch, Druide, Bischof und Kirchenrat,

Erbpächter sie der Heileswahrheit,

werfen den Stein auf uns Atheisten.


Wir Atheisten? Monotheismus nur

ist Atheismus. Einzige Wahrheit ist

hier einzig Lüge. Fromm und gläubig

lieben wir alle die weiland Götter.


Nur nicht den Stickstoff, nur den Gorilla nicht,

nur nicht des Urnichts Parthenogennesis,

Bildungsphilister, Bildungsjuden

Gleichet dem Stoffe, den ihr begreifet,


berauscht euch an magnetischem Hexentrank,

verlognem Wahrheitsfusel, getretnem Quark

der liberalen Bettelsuppen

oder dem Opiumsaft Nirvanas.


Kein Gott lebt ewig. Christus und Antichrist

bringt Götterdämmrung, Typhon und Fenriswolf.

Der große Pan ist tot, erklingt die

plötzliche Kunde vom Fels zum Meere.


Doch ewig leben Götter im Element,

im Menschenbusen, sehnend nach Schön und Gut,

lebt ewig Gott. Am farb'gen Abglanz

haben, sein Ebenbild, wir das Leben.


Wellhausen ist immer Christ geblieben, hat nicht aufgehört, bei jedem Mittagsmahle den Herrn Jesus zu Gaste zu bitten. Wie er empfand, steht in den schönen Worten seiner israelitischen Geschichte zu lesen. Er ist auch Theologe geblieben; daraus erklärt sich die ganze Haltung seiner Geschichte. Es widerstrebte ihm, sich, wie er doch hätte tun müssen, in das Assyrische und Babylonische hineinzuarbeiten. Daher hat er nur noch einiges übersetzt, mehr als die kleinen Propheten, die leider allein erschienen sind. Dafür wandte er sich den Arabern10 zu, an denen ihn die Sprache, die[188] primitiv semitische Kultur und die eigentümliche Überlieferung der Geschichte anzog: hier ist er auch Historiker gewesen. Eben die Interpretation, die das Aramäische heranziehen muß, lockte ihn zu den Synoptikern und führte ihn weiter zu analytischen Arbeiten im Neuen Testamente. Da ist er schließlich in eine destruktive Kritik geraten, die sogar seine Auffassung Jesu beeinträchtigen mußte. Das kann ich nicht billigen und halte dafür, daß die schwere Krankheit, an der er seine letzten Jahre litt, ihre Schatten auch auf seinen Geist geworfen hat, wie sie seine Stimmung verdüsterte. So laut und herzlich er lachen konnte, so viel er von der Kindlichkeit seiner Seele lange bewahrte, leicht und glücklich ist sein Leben nicht gewesen, und er hat es niemals leicht genommen. Wenige haben ihn recht verstanden.

Schwere, entscheidende Jahre hat er in Greifswald durchlebt, in denen ein Freund ihn wohl kennenlernen konnte. Seine junge Frau geriet schon im ersten Jahre der Ehe in ein Leiden, das sie auf Jahre ganz niederwarf und, in den Folgen niemals überwunden, auch auf ihre Gemütsverfassung wirkte. Die Kinderlosigkeit haben beide Gatten nicht verwunden. Noch im Kriege empfand er fast als einen Vorwurf, daß er dem Vaterlande keinen Sohn opfern konnte. Während er um das Leben seiner Frau bangte, erhoben die Zionswächter ein Zetergeschrei über die frevelhafte Zerstörung der heiligen Bücher, d.h. der auf jüdische und christliche Dogmatik zurechtgeschnittenen Deutung. Wohl war der Erfolg in den Kreisen der Wissenschaft durchschlagend, er verstand sich auch gut mit Robertson Smith in Schottland und Kuenen in Holland, die er besuchte, aber selbst aus England kam eigens ein Reverend, sich den teuflischen Kritiker anzusehen. Wellhausen führte ihn auf einen Kirchturm und ließ ihn die Reize der pommerschen Landschaft bewundern, ließ sich aber auf die brenzligen Fragen gar nicht ein. Befremdet hat der Besucher berichtet, dieser Bösewicht sähe aus wie ein farmerlike boy. In der protestantischen Kirche rumorte es gewaltig, auch in der eigenen Fakultät hielt der Friede nur äußerlich. Wellhausen sah ein, daß er als Ketzer verfolgt werden würde und kam dem zuvor, legte die Stelle nieder und ging nach Halle, um sich als Privatdozent durchzuschlagen; unsere philosophische Fakultät machte ihn zum Ehrendoktor. Einen solchen Mann ließ der Staat ganz fallen und berief ihn später als Semitisten nach Marburg nur unter der Bedingung, nicht über das Alte Testament zu lesen. Erst in Göttingen als Nachfolger Lagardes war er frei. Mittlerweile hatte sich die protestantische Orthodoxie besonnen und ihr Dogma zurechtgeflickt, so daß »vorläufig« Wellhausens Schichten der hebräischen Religionsgeschichte anerkannt werden durften.[189]

Es war natürlich, daß ich mich zunächst an den Fachkollegen Adolf Kießling anschloß. Wenn ich als Dozent selbst Bescheid wußte, waren mir doch die Fakultätsgeschäfte neu und ich folgte, auch wenn Kießlings Ungestüm fehlging, mit unbedachter Heftigkeit. Leider fehlte bald ein ehrlicher Mahner wie der treffliche Wilmanns, der mich mit einem unverblümten »machen Sie keine solche Dummheiten« zurechtwies. Bald ward ich von selbst durch Schaden klug.

Kießling, eine männlich schöne Erscheinung von gewinnendem Wesen, reichbegabt, weit interessiert, war doch über Gebühr leichtsinnig, um die Folgen seiner Worte und Handlungen zu wenig besorgt, unfähig bei einer Sache auszudauern; so hat er sein Leben nicht zu dem gelangen lassen, was seine Freunde hoffen durften. Das übersah ich erst allmählich; zunächst freute ich mich seiner Gesellschaft, empfing manche Anregung; bald folgte er mir im Wissenschaftlichen mehr. Seinen Horaz würde er ohne mich schwerlich fertiggemacht haben; von den Oden ist wohl keine, die wir nicht durchgesprochen hätten. Den Gedanken der Philologischen Untersuchungen griff er lebhaft auf, aber getan hat er für sie nichts als seinen kleinen Beitrag geliefert. Weder an der Korrektur noch an der Annahme der Beiträge hat er sich beteiligt. Aber ich habe seinen Namen auf dem Titel immer mitgeführt in Erinnerung an die 71/2 Jahre treuer Kameradschaft; Kaibel erbte sie von mir und fand sich mit ihm auch in der Musik zusammen; er hoffte ihn durch die Berufung nach Straßburg neu aufzurichten, aber es war zu spät.

Die Philologen hatten rasch gewechselt, Usener, Bücheler, Schöll, Ed. Hiller; eine Tradition bestand nicht. Als Archäologe war Preuner als sein Nachfolger von Michaelis hinberufen, was man schwer begriff. Er fiel für den Unterricht ganz aus. Der alte Schoemann lebte noch im Ruhestand; von wissenschaftlichen Dingen hat er mir nie gesprochen, aber als ich mich verlobt hatte, tadelnd gesagt: »ich hatte mir für Sie das hübscheste Mädchen ausgesucht, die und die«, was einiges Wohlwollen für mich und stärkeres Interesse für die hübschen Greifswalder Mädchen verriet. Und dann war der Kollege Susemihl, der vom Seminar ausgeschlossen, aber bei den Studenten keineswegs wirkungslos war. Ich fand ihn und Preuner mit Kießling zerfallen, habe aber die Vermittelung wenigstens mit Susemihl gleich erfolgreich angepackt und durchgeführt. Mit diesem in dem besten kollegialen Einvernehmen zu leben, ist mir nicht schwer gefallen, und er hat es mir auch gedankt. Wohl hatte er Eigenheiten genug, über die man lachen mochte; das wird sich mit den Jahren gesteigert haben, so daß viele Schnurren im[190] Umlauf sind. Manches könnte ich auch erzählen, aber ich stelle ihm lieber das Zeugnis aus, daß er ein redlicher, pflichttreuer Mann war und mit hingebendem Fleiße der Wissenschaft gedient hat. Wieviel an seinen Ausgaben der Politik und der Ethiken des Aristoteles auch auszusetzen ist, die erste hat ohne Frage die Sache nicht wenig gefördert und von den beiden geringeren Ethiken würden wir ohne ihn noch heute keinen handlichen Text haben. So ungefüge seine Literaturgeschichte der Alexandrinerzeit auch ist, ihr reiches Material wird von Unzähligen ohne Dank benutzt. Daß ihm Knaack und Wellmann zu helfen bereit waren, zeugt doch auch für den Menschen und den Lehrer.

Bei meinem Eintritt blieb mir nicht erspart, die Vorlesung zu übernehmen, welche Hiller angekündigt hatte, griechische Staatsaltertümer, so ungern ich mich vor den Studenten mit Dingen einführte, die ich zum Teil erst lernen mußte, und mit einem Thema, das schon im Titel einer Sorte von Zitatengelehrsamkeit angehörte, die besser in die Zeiten des alten Meursius als in die Mommsens paßte. Nun kann man ja unter einen Titel ziemlich alles bringen, was man will, aber zuerst wußte ich noch nicht, was ich wollte, bis ich an Athen und die Inschriften kam und da ernsthaft an bestimmten faßbaren Problemen anpacken konnte. Es sind auch gleich mehrere brauchbare Schülerarbeiten entstanden, da ich epigraphische Übungen folgen ließ.

Vor dem größeren Publikum, auch den Kollegen stellte sich dem Herkommen gemäß ein neuer Professor in einer Rede zu Kaisers Geburtstag vor. Ich gewann meine Stellung sofort mit der Rede »Von des attischen Reiches Herrlichkeit«11. Sie trug mir seltsamerweise von dem beim Diner neben mir sitzenden Landrat die Aufforderung ein, für die konservative Partei bei den Landtagswahlen zu kandidieren, und die Nationalliberalen, zu denen ich mich hielt, kamen mit demselben Antrag. Ich konnte über die Zumutung nur[191] lachen. Als Bismarck sich zum Schutzzoll wandte, schwenkte der größere Teil der Nationalliberalen links, wir anderen rauchten die Straßburger Regiezigarren, die für das Tabaksmonopol Stimmung machen sollten, aber so schauderhaft schmeckten, daß diese voreilige und schlecht vorbereitete Maßregel den richtigen Gedanken des Monopols auch bei seinen Freunden hoffnungslos diskreditierte. Die Freikonservativen gewannen Boden, und als ich nach Göttingen kam, wo jeder, der zum Reiche hielt, nationalliberal sein mußte, merkte ich, wie sehr die Parteibezeichnungen täuschen. Die Hannoveraner waren im Grunde stark konservativ, Anhänger des Alten, zumal ihrer alten Gewohnheiten, während die Freikonservativen sich von einem Alten gelöst hatten und willens waren, fortzuschreiten. Aber sie blieben ein Häuflein von Offizieren ohne Armee.

Studenten der Philologie gab es zahlreich, und Kießling und ich setzten alle Kraft ein, den Unterricht intensiv zu betreiben. Neben dem Seminar, für das Bonn uns beiden Vorbild war, bestand ein Proseminar, das überhaupt erst unsere Generation durchgesetzt hat. Nur einige Semester half uns dabei der Privatdozent Lütjohann, sonst mußte es einer von uns neben dem Seminar übernehmen, was nicht wenige Korrekturen brachte. Zwei vierstündige Vorlesungen oder statt einer ein Publikum habe ich immer gehalten. Der philologische Verein gestaltete sich neu, und wir Dozenten, auch Susemihl, besuchten ihn häufig. Der Verkehr mit den Studenten war sehr vertraulich, sie verlangten, daß man auch beim Biere seinen Mann stand und sich zu Weihnachten und am Stiftungsfeste des Vereins auch recht kräftige Anzapfungen gefallen ließ. Alles erfreulich, der Sache dienlich, aber recht zeitraubend. Zuerst waren die Studenten fast ausschließlich Pommern, aber keineswegs schwerfällig, sondern sie fingen bald Feuer, und ich habe sie wissenschaftlicher Arbeit geneigter gefunden als die Niedersachsen. Die Zahl der Dissertationen stieg rasch, die Qualität war nicht niedrig. Später kam Zuzug aus der Ferne. H.v. Arnim, Bruno Keil, Wilhelm Schulze haben sogar in Greifswald promoviert. E. Schwartz, L. Traube gaben wenigstens eine Gastrolle12,[192] Fr. Spiro, B. Graef haben ihre Greifswalder Zeit nicht verleugnet. Ein Schwede, der herüberkam, war kein guter Vertreter seines Volkes. Was die Lehrtätigkeit anging, war mir sicher, daß ich bei jedem Wechsel der Universität zunächst verlieren mußte. Ich habe die ersten zwei Jahre noch von Göttingen mit vielen Greifswalder Schülern korrespondiert.

Das Doktorexamen hatte noch seinen alten Stil. Es fand im Hause des Dekans statt, anwesend waren außer ihm die vier Examinatoren, aber sie hörten auch zu. Wein stand auf dem Tische, daneben zwei Torten, zunächst für die Anwesenden, was dem Ganzen einen vertraulichen Charakter gab, wenn sich der Prüfling in den Zwischenpausen stärkte. Den Rest der Torten bekamen die Examinatoren für ihre Frauen und Kinder mit. Das Urteil ward wirklich in gemeinsamer Beratung gefunden. Von der Dissertation lag es der Fakultät, praktisch dem ersten Referenten ob, eine kurze Charakteristik für das Diplom zu formulieren, auf die hoher Wert gelegt ward. Als ich promovierte, galt das auch noch in Berlin, schade, daß es abgekommen ist. Die Dissertation zirkulierte bei der ganzen Fakultät, meist pro forma, aber es kam vor, daß einer Ernst mit der Nachprüfung machte und den ersten Antrag verwarf. So kontrollierten wir regelmäßig den Vertreter des Französischen (Romanisch konnte man es nicht nennen), der kaum die Bildung eines Lektors hatte, und manchmal führte es zur Abweisung. Die öffentliche Disputation war nicht nur erhalten, sondern war eine wahre Feierlichkeit; oft opponierte einer von uns aus der Korona und konnte die Gratulation wirkungsvoll abtönen. Ebenso war es in Bonn und Berlin; es machte großen Eindruck, als H. von Sybel seinen Sohn Ludwig selbst promovierte und ihm nicht nur ornamental den in dem schönen Formular vorgeschriebenen Kollegenkuß gab. In Bonn hat sich die Sitte noch länger als in Berlin gehalten; in Göttingen hat sie vielleicht nie bestanden. Die schmachvolle Promotion in absentia war dort erst kürzlich beseitigt, als Mommsen in einem scharfen Artikel »Die deutschen Pseudodoktoren« den mehrfach geduldeten Unfug öffentlich an den Pranger gestellt hatte. Die juristische Fakultät forderte freilich immer noch nicht den Druck der Dissertation, bis es der Minister ihr aufzwang13. Es war an dem philosophischen Doktorexamen noch einiges zu bessern, aber es ward doch vor einem Ausschuß der Fakultät abgelegt, der ebenso wie alle Examinatoren dauernd zuhörte und in einer wirklichen Beratung das[193] Ergebnis feststellte14, freilich ohne die Arbeit besonders zu charakterisieren.

Das Staatsexamen ward in Greifswald so gehandhabt, daß die Prüfungskommission und nicht der einzelne Examinator entschied. Nach Abschluß der einzelnen Prüfungen trat die ganze Kommission zusammen und stellte oft nach eingehender Debatte die einzelnen Resultate fest. Dabei ließ sich der ganze Mensch, den seine Lehrer gut kannten, abschätzen, was oft in besonderen Bemerkungen dem Zeugnis beigefügt ward. Die Schulbureaukratie hat das abgeschafft und schematische Prädikate an die Stelle gesetzt. Die Pädagogik spielte noch keine Rolle. Sie hat erreicht, daß der unpraktische Professor, den die Fliegenden Blätter verspotteten, ausgestorben ist, aber es stünde besser um die Schule, wenn sie noch so unpädagogische Idealisten besäße wie meinen guten Steinhart oder wie sie Hans Hofmann in seinen Novellen »Das Gymnasium in Stolpenburg« nach dem Leben schildert.

Einige Semester habe ich in Greifswald auch in alter Geschichte geprüft, weil O. Seeck in Berlin die venia legendi nur für die römische Geschichte erhalten hatte. Auch in Göttingen bin ich kurze Zeit als Ersatzmann eingetreten. Dabei habe ich mich von der schauerlichen Unwissenheit der Historiker überzeugt, welche mittlere und neuere Geschichte studiert hatten. Sie können in der Tat nicht die alte Geschichte daneben hinreichend verstehen, halten sie für unwichtig und haben erreicht, daß sie auf dem Gymnasium in sinnloser Weise verkürzt ist. Es muß vielmehr immer ein Philologe da sein, der zugleich Historiker ist, dann wird gerade dieser Unterricht zu allgemein geschichtlichem Urteil verhelfen.

Schon diese Prüfungsarbeit war keine leichte Last und es kam noch hinzu, daß die Arbeiten des Abiturientenexamens aus der ganzen Provinz den Mitgliedern der Kommission zur Begutachtung vorgelegt wurden, ein Rest der Kontrolle, die ehedem den Universitätsprofessoren über die Schulen zufiel. Das war mit Recht beseitigt, aber die Überprüfung der Arbeiten hätte recht nützlich sein können, wenn die Schulräte sich darum gekümmert hätten15, aber ihnen war jede Einmischung der Professoren unbequem. In Göttingen[194] kamen die Abiturientenarbeiten nur noch gelegentlich in unsere Hände; dann unterblieb es ganz. Eine Verbindung von Universität und Schule, wie sie in Baden schöne Früchte bringt, besteht nicht mehr. Wohl aber streben die Gymnasialpädagogen, die sich den Namen Philologen anmaßen, eine Kontrolle der Universitäten an, und wer weiß, ob sie es nicht erreichen und die unbequeme Wissenschaft niederzwingen. Ehedem sollte das Gymnasium auf die Universität vorbereiten, jetzt wird uns zugemutet, unsere Studenten auf den Unterricht nach den Richtungslinien vorzubereiten.

Die Philologischen Untersuchungen, eine Frucht meiner Zusammenarbeit mit Kiessling, sollten nicht Anfängerarbeiten von Schülern aufnehmen, und haben das erst zuletzt in einigen besonders gearteten Fällen getan. Aber eine Serie von Büchern war zuerst auch nicht beabsichtigt, wohl aber die Vertretung der Wissenschaft, wie sie von den befreundeten Verfassern aufgefaßt ward. Der Fortschritt der Forschung vollzieht sich ganz besonders durch Einzeluntersuchungen, die das Maß von Zeitschriftartikeln überschreiten und als Buch eine zu geringe Zahl von Käufern finden. Da wird einer vornehmen Buchhandlung, wie es die Weidmannsche zur Ehre Deutschlands immer war und ist, das Opfer durch Aufnahme in eine Serie etwas erleichtert. Jetzt hilft die segensreiche Notgemeinschaft, aber auch sie kann nicht überall einspringen. An solche Erwägungen dachte ich noch nicht, aber mit dem Spruche: »Alles für die Wissenschaft, für die Wissenschaft aber auch alles« war es mir heiliger Ernst, und wenn ich durch rücksichtslose Form berechtigten Anstoß erregte: den Schlendrian des beschönigenden Rezensionswesens und die Flut des Nichtigen, die wissenschaftlichen Wiederkäuer und Windmacher kann ich heute nur noch weniger vertragen als damals. Wer wird noch behaupten, daß Cauers Delectus meine Kritik nicht verdient hätte, zu der mich meine Vorlesung über griechische Dialekte trieb. Es ist jetzt einerlei, was damals wider mich geschrieben und noch mehr geredet worden ist, aber dazu zu schweigen kostete Überwindung. Zum Glück überwand ich mich und ließ nicht drucken, was ich schrieb, so etwas wie »verschieben wir doch unsern Streit um hundert Jahre. Ich werde zur Stelle sein, sorgen Sie dafür, meine Herren Kritiker, daß Sie es auch sind«. Schließlich war die Antwort an wohlwollende Mahner auch am Platze, wenn sie auch unklug war:


Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr,

ich bitte, laßt mich in Ruh,

es ist mein Kind, es bleibt mein Kind,

ihr gebt mir ja nichts dazu.
[195]

Im Frühjahr 1883 fragte Sauppe bei mir an, ob ich an die Stelle von E.v. Leutsch nach Göttingen kommen wollte. Der offizielle Ruf ließ bis Ende Juli auf sich warten, dann beschied mich Althoff nach Berlin, die Fakultät, die mir vertraute, legte es in meine Hand, wenn möglich, einen Nachfolger zu besorgen. Althoff, mit dem ich mich leicht verständigte, war kein Pedant, sondern mit dem ungewöhnlichen Wege ganz einverstanden, telegraphierte mit Rückantwort an Kaibel, und nach 24 Stunden kehrte ich zurück, alles war abgemacht. Ich habe noch Althoffs Brief, in dem er mich bat, den Kurator zu verständigen und ihm seine Entschuldigung auszusprechen. Er hatte diese Instanz ganz vergessen.

1

Jetzt machten wir Humann zum Ehrendoktor, was Mommsen verdroß; so etwas dürfte Berlin nicht vorweggenommen werden.

2

Sein Eintreten gegen den Antisemitismus war von abstrakten liberalen Theorien wohl weniger getragen als von der Rücksicht auf vortreffliche Freunde jüdischen Blutes, Kollegen, aber auch auf einen Mann wie Bamberger, der gewiß ein so treuer Patriot wie Mommsen selbst war. Die soziale Seite des schweren Problems übersah er so sehr, daß er in meinem Hause sagen konnte »was wollt ihr; bei uns in Holstein durfte im Dorfe immer nur ein Jude wohnen, und es ging vortrefflich«. Mit diesem Zustande würden sich vielleicht die wilden Antisemiten zufrieden gegeben haben, deren Treiben freilich widerwärtig genug war, um jeden Protest zu rechtfertigen.

3

Die Begründung dieser Ansicht habe ich an anderen Orten gegeben. Wer den Aufbau des dritten Bandes und seinen künstlerisch effektvollen Abschluß zu würdigen weiß, muß zugeben, daß die drei Bände ein Ganzes sind, dem sich nichts anstücken läßt. Daß er in seinen allerletzten Jahren mit dem Gedanken an eine Fortsetzung gespielt hat, ist eine Altersschwäche, mit der man nicht rechnen darf.

4

Ich kann versichern, daß er damals und noch zehn Jahre später nicht beabsichtigt hat, seine sämtlichen kleinen Schriften zu sammeln, wie es nachher geschehen ist, weil die juristischen in vollständigen Exemplaren gesammelt bei ihm lagen. Mit Recht hielt er vieles für ephemer, also erledigt. Notorisch finden solche Gesamtausgaben wenige Käufer und schaden geradezu der Verbreitung des dauernd Wertvollen.

5

Wie er arbeitete, mag man danach beurteilen, daß im Kapitel Germanien zuerst Spott ausgegossen war über alle, welche den Ort der Varusschlacht bestimmen wollten. Mittlerweile war er auf die Münzfunde bei Barenau aufmerksam geworden und ging nun selbst unter die verspotteten Entdecker. Das großartige Kapitel über die Juden hat er niemandem vor der Veröffentlichung gezeigt; es mag die Fanatiker beider Parteien nicht befriedigen, eben darum gereicht es ihm zur Ehre.

6

Die famose Geschichte von einem hermaphroditischen Hering, den er entdeckt haben sollte, wird Erfindung sein, so daß ich sie unterdrücke.

7

Pernice entschied, »nun wählen wir jeden der Reihe nach unbesehen zum Rektor«, als ein Jurist gewählt war, dem man nachsagte, daß er in der Kritik eines Strafgesetz, buches getadelt hätte, es wäre im Falle eines Duells mit tödlichem Ausgange immer nur von der Bestrafung des Überlebenden die Rede.

8

Zöckler, starrgläubig trotz naturwissenschaftlichen Interessen, ist einmal von Hanne, dem Liberalen, auf einem Rektordiner, wo sich die Gegner berührten, gefragt, mit welcher Schnelligkeit Christus gen Himmel gefahren sei, und wo der Himmel läge. Er wußte die Antwort, noch jenseits des Sirius, und so schnell wie eine Kanonenkugel könnte es wohl gegangen sein. »Dann fliegt er noch«, war die treffende Antwort.

9

Er hatte in Georg Reimer einen Verleger, der das Buch mitlas und ihm am Ende das Honorar verdoppelte, nicht nur weil er den Erfolg des Buches voraussah, sondern weil er seinen Wert zu schätzen wußte.

10

Über Muhammed habe ich schon in Greifswald ein Kolleg bei ihm gehört.

11

Die Rede steht in den älteren Auflagen meiner »Reden und Vorträge«. Jetzt habe ich sie fortgelassen, weil sie die Erneuerung nicht mehr verdient. Aber die Beurteilung des attischen Reiches (so habe ich es genannt, weil die Athener es taten. Wer Seebund sagt, möge versuchen, das griechisch auszudrücken), die jetzt von jungen Historikern beliebt wird, ist viel unhistorischer als mein übertriebenes Lob. Jede Herrschaft muß zunächst an sich denken; aber Perikles hatte nicht das Interesse der athenischen Philister im Auge, die er nach Kräften in die Kleruchieen abschob, sonst hätte er nicht die Tribute wiederholt herabgesetzt und den Parthenon gebaut, was ihm auch als unproduktiv verdacht worden ist. Wenn der Makedone Philippos unser Lob findet, weil er die Griechen zur Einheit unter seiner Herrschaft zwang, so war das auch bei den Athenern keine brutale Selbstsucht. Und sie haben die geistige Einigung der Nation trotz der durch die Demagogen verschuldeten Niederlage erreicht. Wäre es zu ihr etwa ohne ihre ἀρχή gekommen?

12

Traube ward durch einen von Berlin importierten Antisemitismus vertrieben, der zwei brave Jungen in seine Netze zog, die von der Universität weichen mußten, denn wir und die maßgebenden Kreise der Studentenschaft wollten von der Verhetzung nichts wissen. Eigentümlich war es, daß zwei Professoren sich aus Greifswald fortmachen mußten, weil sie die Achtung der Kollegen und nicht nur dieser verscherzt hatten. Eine kleine Universität in einer kleinen Stadt hat diese Macht, gut, wenn sie sie gebraucht. Ich will die schmutzige Wäsche nicht vorlegen, aber ich weiß Bescheid. Beide waren Juden, aber das spielte nicht entfernt mit; wir hatten ja hochgeachtete Kollegen gleicher Herkunft, deren Urteil über die beiden sicherlich nicht milder war.

13

Ein Jurist beklagte sich bitter über die Änderung, weil sie ihm die Ausstattung seiner zweiten Tochter nähme. So einträglich war es, wenn die Kontrolle durch den Druck der Arbeit fehlte.

14

Freilich ließ sich nichts machen, wenn der Examinator sich für befriedigt erklärte, wie es einmal ein Philosoph mit den Worten tat: »ich habe mich nicht überzeugt, daß der Kandidat versagt haben würde, wenn ich ihm andere Fragen gestellt hätte.«

15

Kiessling wies einmal nach, daß die Abiturienten das Thema der lateinischen Übersetzung gekannt hatten, weil sie eine Zahl in einem Diktat aus Justin abweichend nach einer älteren Ausgabe eingesetzt hatten. Aber ihm ward verwiesen, daß er einen verdienten Schulmann angegriffen hätte.

Quelle:
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Erinnerungen 1848–1914. Leipzig 1928, S. 176-196.
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