|
[48] In diesen Jahren gelang es mir zum ersten Male, einen längeren Erholungsurlaub im Hochsommer zu erhalten. Ich war bis dahin, wenn es gerade die Gesundheit Meyers erlaubte, auf einige Wochen zu meinen Eltern und Verwandten gegangen. Einmal hatte ich mir selbst eine Badekur in Scheveningen verordnet. Ich hatte mir mit Hilfe von Victor de Stuers eine Wohnung im Haag genommen, fuhr täglich ganz früh zum Strand von Scheveningen hinaus, blieb eine Viertelstunde[48] im Wasser und gelangte dann direkt mit der Tram zum Bahnhof im Haag, um einen der gegen 9 Uhr nach verschiedenen Richtungen abgehenden Züge zu erreichen, mit denen ich nach der einen oder anderen holländischen Stadt einen Ausflug machte, gelegentlich, ohne den Tag über irgend etwas zu genießen. Dadurch habe ich die Kunstschätze Hollands freilich gut kennengelernt, aber daß ich nervöser zurückkam, als ich fortgegangen war, darüber wunderte nur ich mich allein.
Im Sommer 1887 verlangte unser Hausarzt wegen meiner häufigen Flimmermigräne und meines nervösen Asthmas eine gründliche Ausspannung in den Bergen. Durch Bekannte wurde ich beredet, in das Oberengadin zu gehen; ich habe diesen Aufenthalt bis zum Jahre 1894, zwei Jahre ausgenommen, regelmäßig wiederholt. Er ist mir außerordentlich genußreich geworden, sowohl durch die Freude an der Natur wie durch den angenehmen geselligen Verkehr, meist mit Berliner Bekannten, die regelmäßig mit mir im Hotel Saratz in Pontresina zusammen waren.
Ich war in den Bergen aufgewachsen, war als Junge schon ein ausgezeichneter Kletterer. Diese Lust an der Bergnatur und am Bergsport erwachte gleich am ersten Tage, als ich Ende Juli 1887 bei herrlichem Wetter in Pontresina ankam. Ich war am nächsten Morgen früh auf; beim Frühstück fand ich einen Berliner Bergfex, der mir sagte, eine gute erste Tour für einen Morgenspaziergang seien die »Schwestern« unmittelbar über Pontresina. Ohne weiter orientiert zu sein, machte ich mich also in Morgenschuhen auf, stieg die Muotas hinauf und kletterte von einer der »Schwestern« zur andern bis auf die dritte oberste. Als Anfängertour in Morgenschuhen kam mir die Sache doch recht anstrengend und gefährlich vor, was ich beim zweiten Frühstück im Hotel der Gesellschaft von Bekannten, die ich zusammen traf, offen gestand. Als herauskam, daß ich, statt auf dem ersten der Felsen zu bleiben, sie sämtlich erklettert hatte, was nur mit Führer und am Seile geschehen soll, erhob sich ein großes Hallo, und da einige Herren unter Führung des Anato men Professor Schwalbe aus Straßburg gerade eine[49] große Tour um die Bernina vorhatten, wurde ich beredet, sie mitzumachen. Wir marschierten am Nachmittag los, übernachteten in der Mortell-Hütte, brachen aber schon um 1 Uhr auf, da keiner von uns in der überfüllten, elenden Hütte schlafen konnte. Der Tag war herrlich, aber die Tour, die in diesem Jahr noch gar nicht gemacht war, erwies sich als sehr mühsam und gefahrvoll. Starker Schneefall und Stürme mit nachfolgendem Frost hatten die ganze Hochebene auf dem Südabhange der Bernina, zwischen Bernina und Disgrazia, in ein hochgetürmtes Eismeer verwandelt. Stundenlang mußten wir von Spitze zu Spitze der Eiswellen springen; schließlich wußten die Führer, unter denen die stärksten und erfahrensten des Oberengadin waren, wie Schocher und Schnitzler, nicht mehr aus und ein, da der Winter die Gletscher stark verändert hatte und kolossale Risse nach dem Palügletscher zu entstanden waren. Sie begannen untereinander welsch zu sprechen und schlugen vor, wir sollten zwischen ein paar riesigen Gletscherspalten unser Mittagsmahl einnehmen, während sie sich über den Weg orientieren wollten. Schließlich fanden sie eine Stelle, wo die Gletscherspalten schmal genug waren, um eine künstliche Brücke herzustellen und uns hinüberzuhelfen. Aber der Abstieg den steilen Palügletscher hinab nach Alpgrüm war eine neue Schwierigkeit, so daß die meisten Begleiter den Weg von dort bis zu den Berninahäusern, wo wir einen Wagen zum Rückweg bis Pontresina bekommen konnten, in trostlosem Zustand zurücklegten. Wir waren etwa 16 Stunden auf den Beinen gewesen, stets bergauf und bergab, auf dem allerschwierigsten Terrain. Ich allein hatte diese Tour fast ohne Überanstrengung machen können.
Seitdem unternahm ich in diesem und in den folgenden Jahren eine Reihe der größten Bergbesteigungen, meist mit dem Führer Schocher: auf den Piz Morteratsch, den Piz Kesch, den Bernina, den Piz Lischanna (von Tarasp aus mit Baron Holstein, dessen Gast ich dort war) usw., und zwischendurch machte ich die leichtsinnigsten Klettertouren ganz auf eigene Faust. Ich kannte dabei keine Gefahr und[50] hatte von meiner Kindheit her eine Sicherheit des Auges beim Steigen und Springen, daß ich darin selbst dem gewandtesten Führer überlegen war. Bei einer Tour auf den Piz Morteratsch war die junge Gesellschaft, der ich mich angeschlossen hatte, durch Sekt auf dem Gipfel stark angeheitert, so daß der Rückweg nach der Boval-Hütte fast ganz im Trab gemacht wurde. Hier auf der Alp lagerten die Bekannten, die uns von Pontresina entgegengekommen waren. Sobald wir ihrer ansichtig wurden, entstand ein tolles Wettrennen, die Moräne hinunter, mit den Führern voran. Schließlich hatte ich sie alle bis auf den Führer Schocher über holt, noch ein mächtiger Felsblock trennte uns von der Gesellschaft. Schocher kletterte ihn hinauf, da machte ich einen tüchtigen Satz mit meinem Alpenstock und übersprang den Felsen, so daß ich der erste bei den Damen war, die angstvoll diesem Wettlauf zugesehen hatten.
Dieses Nachgefühl der Jugend, die längst vorüber war, – ich stand ja bereits in der Mitte der Vierziger – machte sich in jeder Weise bei mir geltend, sobald diese freie Zeit in den Alpen begann. Einmal unternahm ich zwischen dem ersten und zweiten Frühstück die Tour auf den Languard mit fast halbstündigem Aufenthalt auf dem Gipfel, wo mir der Wärter der Hütte eines seiner Gedichte abschrieb zum Beweis, daß ich wirklich oben gewesen war – dies und andere unmögliche Klettereien gelangen mir, trotz der Jugend und besser als dieser, obgleich ich seit Jahrzehnten außer Übung war. Ich erinnere mich, daß wir bei hohem Schnee im Hof des drei Stock hohen Hotels standen, Schneemänner machten und uns mit Schneebällen bewarfen, wobei ich fast nie mein Ziel verfehlte, so daß ich die Jugend stets mit Erfolg zurückschlug. Aus Übermut wettete ich mit Professor Blaserna, daß ich durch den Buchstaben O in der Aufschrift des Hotels, die in großen eisernen Buchstaben über dem Dache steht, hindurchwerfen würde. Richtig gelang es mir. Biaserna erklärte lachend in seinem ge brochenen Deutsch, er habe nicht geahnt, daß an mir ein so großartiger Straßenjunge[51] verlorengegangen sei. Ich habe mich selten über eine Auszeichnung so gefreut wie über dieses etwas zweideutige Lob.
Die kleine Gesellschaft, die sich in Pontresina regelmäßig zusammenfand, meist Berliner, die sich näher kannten, war eine sehr anregende. Als Stammgäste kamen Professor von Kaufmann mit seiner liebenswürdigen, trefflichen Gattin, Professor Blaserna, der bekannte Physiker aus Rom, Baron Holstein und Geh. Leg.-Rat von Mühlberg, Herr und Frau Geheimrat Schöller; gelegentlich waren auch der Reichstagsabgeordnete Vopelius, Professor von Leyden und Frau und Professor Helmholtz darunter.
Den Mittelpunkt dieser Berliner Gesellschaft bildete Minister von Goßler, der regelmäßig im September auf eine Woche kam. Die eigentümlich schulmeisterliche Art dieses fleißigen und wohlwollenden Mannes äußerte sich bei unseren kleinen Ausflügen regelmäßig in typischer Weise. Wenn wir auf dem Gipfel des Schafbergs, des Languard oder eines ähnlichen Bergs angekommen waren, bat er eine der jungen Damen der Gesellschaft, im Baedeker das Panorama aufzuschlagen. Dann drehte er sich von der Aussichtsseite ab und sagte die dreißig oder vierzig Spitzen lückenlos her, bald von rechts, bald von links, wie es verlangt wurde.
Am häufigsten war ich mit Baron Holstein zusammen, der mich zu seinen Bergtouren meist allein aufforderte, wohl, weil er meine Sicherheit im Steigen kannte. In diesem jährlichen wochenlangen Verkehr habe ich den merkwürdigen Mann, der in unserer Politik durch Jahrzehnte eine so große Rolle gespielt hat, genauer kennengelernt. Er war eine eigentümliche, herbe und scharfe Natur, keineswegs ohne Herz, wie man meinte (im Geheimen war er sehr wohltätig), aber unzugänglich, beißend in seiner Kritik und seinen pointierten Witzen, stets mit seiner großen Politik beschäftigt, auch in der Geselligkeit im Engadin, die er in Berlin vollständig mied. Suchte er doch nicht einmal die fremden Gesandten auf und sagte mir einmal stolz: drei Kaisern habe ich treu gedient, aber nie auch nur einen gesprochen. Als ihn Kaiser Wilhelm II. schließlich einmal[52] zum Diner einlud, lehnte er unter dem Vorwande ab, er besäße keinen Frack; dann möge er im Rock kommen, war die Antwort seines hohen Herrn.
Auf unseren täglichen Spaziergängen und Touren erfuhr ich von ihm manches interessante Detail aus der Geschichte der letzten Jahrzehnte, in deren Mitte er selbst als tätiges Glied gestanden hatte. Dafür wußte er aber auch mich zu seinen Interessen auszunutzen. Da ich auf meinen häufigen Reisen durch Europa unsere deutschen Diplomaten oft sah und nicht selten für uns in Tätigkeit setzen mußte, ließ er sich gern darüber erzählen, verlangte mein Urteil über sie und nutzte das gelegentlich auch dienstlich aus. Ich erinnere mich, daß ich auf diese Weise einem diplomatischen Freunde wider Willen einen schlechten Dienst getan habe. Ich fragte Holstein, ob er in der Kölner Zeitung gelesen habe, daß Herr von X. zum Gesandten in Y. bestimmt sei und was an dieser Nachricht sei. Die Nachricht ist richtig, antwortete er, aber da der Herr glaubt, in den Zeitungen schon Reklame dafür machen zu dürfen, werde ich gleich telegraphieren, daß er den Posten nicht bekommt. Und so geschah es.
Im Jahre 1888 war ich Zeuge eines interessanten Zusammentreffens von Herrn von Holstein mit der Gattin des späteren Reichskanzlers von Bülow. Wir gingen zusammen bei schlechtem Wetter den Weg zum Hotel auf und ab, als mir ein paar Damen auffielen, die uns mit Professor Blaserna entgegenkamen. »Das sind ja Donna Laura Minghetti und Frau von Bülow«, sagte ich, als ich sie erkannte. »Na, das fehlte mir gerade noch«, erwiderte er, »die verd... Frauenzimmer sind mir sicher nachgereist! Daß es dem ehrgeizigen Bülow in Bukarest schon lange zu eng ist, weiß ich wohl. Er möchte nach Italien und dann nach Berlin als Staatssekretär, um womöglich noch mehr zu werden! Da schickt er mir nun seine Weiber auf den Hals. Kommen Sie rasch auf den Nebenweg, ich will sie nicht sehen!« Holstein setzte dieses Schneiden der beiden Damen ein paar Tage fort, sprach von umgehender Abreise und war in sehr ungnädiger[53] Stimmung, bis eines Tages der ihm befreundete Blaserna auf ihn zutrat und ihm ganz energisch erklärte, daß dieses Benehmen gegen zwei Damen, die er chaperoniere, ein Ende nehmen müsse. Holstein gab zu meinem Erstaunen sofort klein bei, ging auf die Damen zu und war von da ab täglich mit ihnen zusammen. In Herrn von Bülows Absichten und späterer Karriere hatte sich Holstein nicht geirrt!
Im Herbst 1890 war Herr von Goßler wieder vom Unterengadin heraufgekommen. Als ich ihm gegenüber zufällig erwähnte, daß ich, wie mehrfach von Pontresina aus, einen kurzen Ausflug nach Italien machen wolle, fragte er, ob ich ihn ein Stückchen mitnehmen wolle. Er habe noch etwa zehn Tage Zeit, kenne nur Venedig und würde daher gern unter meiner Führung einige andere Städte besichtigen. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, als Cicerone meinem Minister dienen zu können, der ein ebenso einfacher als wohlwollender Charakter war. Wir fuhren über die italienischen Seen nach Mailand und von dort nach Florenz. Als ich auf ein paar Tage einen Ausflug nach Rom machen wollte, erklärte Herr von Goßler, dahin dürfe er nur offiziell gehen; er würde in Florenz meine Rückkehr abwarten. Damit er inzwischen einen Anschluß habe, empfahl ich ihn an den damals in Florenz beschäftigten Bildhauer E.M. Geyger. Dieser nahm ihn abends mit in ein Varieté-Theater, wo der Minister sich glühend für den Star, eine schöne Italienerin, interessierte, und über Geygers Behauptung, daß sie eine abgefeimte, liederliche Person sei, ganz entrüstet war. Er ging tags darauf noch einmal in dieselbe Vorstellung, um sie wiederzusehen; in seiner naiven, reinen Auffassung wollte er durchaus nicht glauben, daß ein Wesen, welches wie ein Engel aussah, ein Teufel sein solle.
Unterwegs lasen wir in der Zeitung, daß der frühere Lehrer Kaiser Wilhelms II., Professor Schottmüller, zum vortragenden Rat im Kultusministerium ernannt worden sei. Goßler wollte es nicht glauben; er habe sich energisch dagegen erklärt, und in seiner Abwesenheit könne so etwas nicht dekretiert worden sein; das bedeute sonst seine Entlassung! Er[54] reiste deshalb sofort nach Berlin zurück, wo er Schottmüller tatsächlich schon in dem neuen Amte vorfand. Der Minister blieb aber trotzdem auf seinem Posten, sehr zum Segen unserer Museen, denen er ein stets entgegenkommender, eifrig bemühter Vorgesetzter war.
Große Bergtouren unternahm ich während des etwa dreiwöchigen Aufenthaltes im Oberengadin, je nach dem Wetter, meist nur eine oder zwei. Machten wir keine Ausflüge, so schlich ich mich bei schönem Wetter an einen abgelegenen, anmutigen Platz im Walde, um an Aufsätzen zu arbeiten, die mich gerade beschäftigten, und setzte die Arbeit auch zu Hause fort, wenn das Wetter schlecht war. Mir ist es stets unverständlich gewesen, daß die Ärzte von mir ein völliges Ausspannen und die Enthaltung von jeder geistigen Arbeit während der Ferien verlangten. Ich kenne keinen größeren Genuß, als gerade in solchen Zeiten, in denen der Körper ausruht, behaglich mitten in der herrlichen Natur Gedanken auszuspinnen und niederzuschreiben, zu denen ich die Anregung bei meinen Studien bekommen hatte. Eine Reihe der so entstandenen Aufsätze, die zunächst in unserem Jahrbuch erschienen, haben später meist in meinen »Florentiner Bildhauern der Renaissance« und in »Rembrandt und seine Zeitgenossen« Aufnahme gefunden. In Pontresina habe ich auch das erste in der Folge unserer Museumshandbücher, das »Handbuch der italienischen Plastik« ausgearbeitet und eine erste Sammlung von Aufsätzen über »Italienische Bildhauer der Renaissance« zusammengestellt und umgearbeitet.
Buchempfehlung
Eine Reisegruppe von vier sehr unterschiedlichen Charakteren auf dem Wege nach Braunschweig, wo der Luftschiffer Blanchard einen spektakulären Ballonflug vorführen wird. Dem schwatzhaften Pfarrer, dem trotteligen Förster, dem zahlenverliebten Amtmann und dessen langsamen Sohn widerfahren allerlei Missgeschicke, die dieser »comische Roman« facettenreich nachzeichnet.
94 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro