103 [91] Brief an Wassily Kandinsky

Sindelsdorf, 30.9.1913


Lieber Kandinsky, recht berühmt wird die Bilder-Auswahl [für die Ausstellung ›Die Neue Malerei‹, Galerie Arnold, Dresden, Januar 1914, d. Hrsg.] des Herrn Reiche ja nicht werden, aber mittun würde ich schon, vor allem der Verkaufsmöglichkeiten wegen. Aber wir wollen doch alles Pathos dabei vermeiden; ich lehne jedenfalls jede tätige Mitarbeit ab, wenn er uns um eine solche angehen sollte, (auch z.B. Ratschläge). ›Die ostdeutschen Kunstfreunde‹ werden nicht besser sein als die westdeutschen.

Sie schreiben so richtig über die Materialfrage des Künstlers, – und doch kann ich Ihnen nicht Recht geben, wenigstens nicht für diesen Fall. Sie unterschätzen und überschätzen gleichzeitig die geistigen Kräfte von heute, die ich im Herbstsalon kennenlernte. Ihr Saal wirkt völlig rein und abgeklärt, es liegt sogar für mich ein ausgesprochen altmeisterlicher Zug über ihm, dessen sich sonst kein Saal der Ausstellung rühmen kann, – aber wollen Sie deshalb nicht neben den Jüngeren hängen? Ich weiß, was Sie erwidern wollen; ›neben ernst gewollten Werken schon‹; ich bestreite aber sehr, daß Ihre Psychologie stimmt, daß ein nichtiges Material jederzeit auf ›innere Schlampe rei‹ deutet. Z.B. das kleine Bildchen von Kölschbach ist sicher das Gegenteil davon; ich bin überzeugt, daß ihn eine Zaghaftigkeit und ein sehr feiner Instinkt dieses Versuchsmaterial ergreifen ließ, – für mich wirkt es auch vollkommen in diesem geistigen Sinne, – in Ölfarbe wäre es wahrscheinlich ›Spielerei‹ geworden, d.h. ›nicht gekonnt‹; es hätte einen falschen Schein erweckt, wie es z.B. bei dem Bilde Jakouloffs mit dem grünen Fleck in rot ist. Daß das partout um der verdammten 3 mt willen hängen mußte, fand ich blöd, wie manches andere auch, – aber eine so mächtige Ausstellung schluckt schon ein paar schwache Bilder. Warum übrigens das bißchen Experiment und Theorie, solange sie rein pädagogisch auf den Beschauer wirken, so völlig verbannen? Auch sie sind für die Seele des Beschauers bestimmt, gewissermaßen ein Schlüssel, um ihm Schranken ›äußerer‹ Widerstände zu öffnen, wegzuräumen. Vor allem sehe ich keinen[91] Schaden, solange das theoretische und pädagogische Experiment als solches erkennbar ist, wie bei dem Pferdchen Delaunays. In die Werke selbst darf es sich nicht einschleichen, wie bei Jakouloff, z.B. auch bei Larionoff, im entgegengesetzten Sinn: er hat eine kleine soldateske ›Salve‹ gemalt, in der das ›Kindliche‹ des Bildes für mich auch einen leichten pädagogischen Beigeschmack hat (›seht ihr, so kann man's auch malen‹). Kulbin wirkt auf mich komplett dilet tantisch, – das ist wirkliches Gift für das Publikum.

Meine leitende Idee beim Hängen und Wählen der Bilder war jedenfalls die: die ungeheure geistige Vertiefung und künstlerische Regsamkeit zu zeigen, – und dieser Eindruck ist sehr wohl für die Seele bestimmt; ich glaube, ein Mensch, der seine Zeit liebt und in ihr nach Geistigkeit sucht, wird nur klopfenden Herzens und voll guter Überraschungen durch diese Ausstellung gehen. Ich war jedenfalls beschämt vor allen diesen Bildern, da ich mir gestehen mußte, daß ich in meinem Sindelsdorf mir vorher nicht vorgestellt hatte, daß so viel Geist am Werke ist; und vor allem: daß die Ziele weit mannigfacher sind, mit vielen Perspektiven, die ich nicht kannte. (Gerade das kleine geklebte Severiniporträt muß auf die Seele wirken als unheimliches Nebeneinander von stärkstem Tagesrealismus und abstrakter geistiger Struktur. Ich kann mir das Bild in andrem Material gar nicht denken).

Für mich persönlich ist das Fazit auch überraschend: ein bedeutendes Überwiegen (auch an Qualität) der abstrakten Formen, die nur als Form sprechen, fast ganz ohne gegenständlichen Beiklang, über die gegenständlichen Bildideen; (ich weiß wohl, daß dieser Gegensatz nicht eigentlich besteht, – alle Formen sind Erinnerungen –).

Für meinen eigenen Fall fühlte ich, wie unklar ich im Grunde meine Bilder malte; ich ging gewisserma ßen von zwei völlig getrennten Seiten aus an meine Bilder und malte solange, bis sie sich scheinbar verbunden hatten, – leider nur scheinbar. Vielleicht gibt es keine restlose, schlackenlose Verbindung, aber es gibt Künstler, die dem Ziel näher kommen, das Ziel klarer sehen. Unter diese zähle ich auch unbedingt Delaunay, trotz allem Problematischen und persönlich Unreifem, das diesem Menschen anhaftet. Es ist schade, daß Sie seine beiden Bilder bei Koehler nicht gesehen haben.

Sie sind sicher schon ungeduldig; Sie merken, daß es auf eine große Apologie des Herbstsalons hinausläuft; glauben Sie mir wenigstens, daß ich seine schweren Fehler wirklich nicht sehe, nicht nur hinterher nicht ›sehen will‹. Ich hätte auch nicht so viel geschrieben, stünde nicht in Ihrem Briefe, daß Sie nur mit Weh Ihre Werke neben Bildern wissen, die Sie als beliebig gemacht empfinden. Ich empfinde: Sie hängen lebendig neben Lebendigen; alles in der Ausstellung ›arbeitet‹, manches wühlt in sich, manches ruft den Beschauer an und zeigt seine Wunde. Und das wenige Dumme, das[92] da hängt, – das ärgert hoffentlich alle so wie mich, – dann wird es keinen Schaden tun.

Mit gleich herzlichem Händedruck

Ihr F. Marc

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 91-93.
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