3 [17] Brief an August Caselman

2.8.1898


... In diesem Sommer bleibe ich bei den Eltern in Pasing und habe wenig Sehnsucht nach Reisen. Doch hab ich auch hier genug Gelegenheit, meiner Wanderlust den gewohnten Tribut zu zahlen. Ich durchstreife die ganze Umgebung allein, nur mit meinem kleinen Hund Trine als fröhlichem Begleiter, sehe Städte, Leute und Länder, und was mir gefällt, das halte ich fest in meinem Gedächtnis und auch in meinem Skizzenbuch, was sich davon dem Stifte fügen will. Man lernt dabei sehr, sehr viel, wenn man nur mit aufmerksamem Aug und Ohr zu wandern versteht. Und dem, der allein ist, steht ja alles durchaus frei, Schritte wie Gedanken. Da wir nun bei den Gedanken sind, will ich Ihnen einiges von meiner Lektüre verraten, da man nun einmal gewohnt ist, auf sie als Barometer des modernen Menschen zu blicken: Ich lese Carlyle. Man kennt ihn so wenig in Deutschland.[17] Erst jetzt und sehr allmählich beginnen die Deutschen ihn zu lesen. Vielleicht ist es ihnen zu deutsch, zu wenig ausländisch. Und doch ist dieser Carlyle höchst interessant, vor allem auch als psychologisches Problem. Nun habe ich aber alle größere Lektüre zurückgelegt zugunsten Nietzsches. Zarathustra ist ein Werk poeti scher und gedanklicher Pracht, fast ohnegleichen in seiner Fülle. Jenseits von Gut und Böse‹ und ›Zur Genealogie der Moral‹ haben mich sehr erschüttert. Ich las immer aufmerksamer, denn mit dem, was dieser Nietzsche hier sagt und zu sagen hatte, haben wir uns heute alle ernstlich auseinanderzusetzen. Ich wurde mir über vieles klar, was ich nur in Andeutungen, Ahnungen und Instinkten selbst gefühlt und gedacht habe. Und ich bin in meinem ganzen Christentum und mit Nietzsche eins geworden. Ist dies zuviel gesagt! Ich glaube Nietzsche zu kennen und mich auch und das Christentum auch. Ich wäre gern bereit, mich des Näheren über das Thema auszulassen ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 17-18.
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