44 [43] Brief an Maria Franck

21.1.1911


... Was Deine ›Kulturfragen‹ betrifft, so denke ich ungefähr Folgendes: Wir erleben heute eine der bedeutendsten Momente in der Kulturgeschichte. Alles, was wir von ›alter‹ Kultur (Religion, Monarchentum,[43] Adel, Privilegien (auch rein geistige), Humanismus etc.) noch mit uns schleppen, ist eine ›Gegenwart‹, die schon der Vergangenheit angehört! (wie Dein Berliner Leben); welcher Art neuer Kultur wir entgegengehen, wird kaum heute jemand sagen können, weil wir eben selber mitten in der Wandlung stehen; wir modernen Maler sind kräftig mit am Werk, für das kommende Zeitalter, das alle Begriffe und Gesetze neu aus sich gebären wird, auch eine ›neugeborene‹ Kunst zu schaffen; sie muß so rein und kühn werden, daß sie ›alle Möglichkeiten‹ zuläßt, die die neue Zeit an sie stellen wird. Daß Nietzsche einen solchen Haß auf unsere Zeit und vor allem auf Deutschland, auf alle arm und eitel gewordene Kultur wirft, statt im Gegenteil zu lachen und ein schnelles Ende zu wünschen, hängt mit dem Ideenkreis der 70er und 80er Jahre (Jacob Burckhardt, Erwin Rohde, Wagner und vor allem Schopenhauer) zusammen. Sie kommen alle, samt Nietzsche (der ja selber eine altphilologi sche Professur hatte) von einer tiefen humanistischen Bildung her; ihre Ideen waren unzertrennlich von Griechentum, römischen Rechtsbegriffen, Renaissance und (vor allem bei Nietzsche) dem letzten Höhepunkt alter Kultur: dem französischen 18. Jahrhundert. Das war das Rüstzeug ihres Denkens, der Maßstab, den sie an ihre Gegenwart und Mitwelt legten, daher das maßlose Entsetzen und Grauen vor ihrer eigenen Zeit. Schopenhauer flüchtete nach einer energischen Verneinung seiner Welt in die Nirwana-Ideen des Buddhismus, Erwin Rohde vertiefte sich in die Psyche der Griechen und betäubte sich mit Philologie, Wagner formt sich eine zeitfremde Romantik zurecht und brauchte Lärm, um seine Zeit zu übertönen (daß seine Musik und Dichtung Mode wurde, ist wie ein Hohn; sie paßt auf ihre Zeit wie die Faust aufs Auge). Nietzsche litt am tiefsten, kämpfte am verzweifeltsten; mit seinen Zarathustra-Ideen riß er das Unmögliche vom Himmel; er allein wollte eine ganz neue Kultur forcieren; er spannte seinen Bogen zu scharf, und der Pfeil fiel kraftlos vor ihm auf die Erde; das ist seine Tragik. Er konnte nicht allein schaffen, wozu vielleicht 2 Jahrhunderte nötig sein werden. Aber doch ist jede seiner Gesten ein Ereignis; jeder seiner Gedanken im höchsten Sinne heroisch. Seine ›Unzeitgemäßen‹ sind Anfangsschriften; mit der ›Morgenröte‹ beginnt der Umschlag bei ihm, seine Übermenschenideen. Er wird vom ›Historiker‹ zum Propheten! In Frankreich ist natürlich derselbe Niedergang wie bei uns. Daß die kommende Kultur den Bildungs-Philistertyp sollte verwenden können, bezweifle ich stark ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 43-44.
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