Es ist merkwürdig, wie geistige Güter von den Menschen so vollkommen anders gewertet werden als materielle.
Erobert z.B. jemand seinem Vaterlande eine neue Kolonie, so jubelt ihm das ganze Land entgegen. Man besinnt sich keinen Tag, die Kolonie in Besitz zu nehmen. Mit gleichem Jubel werden technische Errungenschaften begrüßt.
Kommt aber jemand auf den Gedanken, seinem Vaterlande ein neues reingeistiges Gut zu schenken, so weist man dieses fast jederzeit mit Zorn und Aufregung zurück, verdächtigt sein Geschenk und sucht es auf jede Weise aus der Welt zu schaffen; wäre es erlaubt, würde man den Geber noch heute für seine Gabe verbrennen.
Ist diese Tatsache nicht schauerlich?
Ein kleines, heute aktuelles Beispiel verleitet uns zu dieser Einleitung.
Meier-Graefe kam auf den Gedanken, seinen Landsleuten die wunderbare Ideenwelt eines ihnen ganz unbekannten, großen Meisters zu schenken – es handelt sich hier um Greco; die große Allgemeinheit, selbst der Künstler, blieb nicht nur gleichgültig, sondern griff ihn mit wahrer Wut und Entrüstung an. Er hat sich mit dieser einfachen und edlen Handlung in Deutschland fast unmöglich gemacht.
Es ist wahnsinnig schwer, seinen Zeitgenossen geistige Geschenke zu machen.
Einem zweiten großen Geber in Deutschland ging es nicht besser – Tschudi. Der geniale Mann schenkte Berlin die größten Kulturschätze an Bildern – die Folge war, daß man ihn einfach aus der Stadt vertrieb. Man wollte seine Erwerbungen nicht haben. Tschudi ging nach München. Dasselbe Schauspiel: auch hier wollen sie seine Geschenke nicht. Man besah sich in der Alten Pinakothek die Sammlung Nemes höchstens wie eine neue Modeauslage, und wird erleichtert aufatmen, wenn die gefährliche Sammlung weg ist, ohne daß man etwas davon behalten mußte. Die Erwerbung eines Rubens oder Raffael wäre eventuell schon etwas anderes; denn die könnte man unbedenklich als eine Stärkung des materiellen Nationalreichtums ansehen.
Diese melancholische Betrachtung gehört insoweit in die Spalten des ›Blauen Reiters‹, als sie ein Symptom eines großen Übels zeigt, an dem der[147] ›Blaue Reiter‹ vielleicht sterben wird: die allgemeine Interesselosigkeit der Menschen für neue geistige Güter.
Wir sehen diese Gefahr vollkommen klar vor uns. Man wird mit Zorn und Schmähung unsere Geschen ke von sich weisen: »Wozu neue Bilder und neue Ideen? Was kaufen wir uns dafür? Wir haben schon zuviel alte, die uns auch nicht freuen, die uns Erziehung und Mode aufgedrängt hat.«
Aber vielleicht behalten auch wir recht. Man wird nicht wollen, aber man wird müssen. Denn wir haben das Bewußtsein, daß unsere Ideenwelt kein Kartenhaus ist, mit dem wir spielen, sondern Elemente einer Bewegung in sich schließt, deren Schwingungen heute auf der ganzen Welt zu fühlen sind.
Wir weisen gern und mit Betonung auf den Fall Greco, weil die Glorifikation dieses großen Meisters im engsten Zusammenhang mit dem Aufblühen unserer neuen Kunstideen steht. Cézanne und Greco sind Geistesverwandte über die trennenden Jahrhunderte hinweg. Zu dem »Vater Cézanne« holten Meier-Graefe und Tschudi im Triumphe den alten Mystiker Greco; beider Werke stehen heute am Eingange einer neuen Epoche der Malerei. Beide fühlten im Weltbilde die mystisch-innerliche Konstruktion, die das große Problem der heutigen Generation ist.
Das Bild von Picasso, das wir nebenstehend bringen, gehört, wie die Mehrzahl unserer Illustrationen, in diese Ideenreihe.
Neue Ideen sind nur durch ihre Ungewohnheit schwerverständlich – wie oft müßte man diesen Satz aussprechen, bis einer von hundert die nächstliegen den Konsequenzen aus ihm zöge?
Wir werden aber nicht müde werden, es zu sagen und noch weniger müde, die neuen Ideen auszusprechen und die neuen Bilder zu zeigen, bis der Tag kommt, wo wir unseren Ideen auf der Landstraße begegnen.
Diese Zeilen waren schon geschrieben, als die schwere Nachricht von Tschudis Tode eintraf.
So wagen wir, dem edlen Andenken Tschudis dies erste Buch zu weihen, für das er wenige Tage vor seinem Tode noch seine immer tätige Hilfe versprach.
Wir hoffen mit brennender Seele, an der Riesenaufgabe, die ohne ihn verwaist liegt, sein Volk zu den Quellen der Kunst zu führen, mit unsern schwachen Kräften weiterzuarbeiten, bis wieder einmal ein Mann kommt, mit mystischen Kräften ausgestattet wie Tschudi, der das Werk krönt und die vorlauten, allzulauten Gegner des großen Toten zum Schweigen bringt: Die Leugner des freien Geistes und der Vorzugstat![148]
Niemand hat es schwerer erfahren als Tschudi, über seinen Tod hinaus, wie schwer es ist, seinem Volke geistige Geschenke zu machen, – aber noch schwerer dürfte es diesem werden, die Geister wieder los zu werden, die Tschudi heraufbeschworen.
Der Geist bricht Burgen.[149]
* ›Geistige Güter‹ (Oktober 1911)
Aus: Der Blaue Reiter. München 1912 (2. Auflage 1914), S. 1–4
Wiederabdruck in: Der Blaue Reiter. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. München 1965, S. 21–24
Manuskript verschollen
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