|
Hageville, 25 X. 14
Das Blutopfer, das die erregte Natur den Völkern in großen Kriegen abfordert, bringen diese in tragischer [Begeisterung], reueloser Begeisterung.
Die Gesamtheit reicht sich in Treue die Hände und trägt stolz, [und ohne Klage] unter Siegesklängen den Verlust.
Der Einzelne, dem der Krieg das liebste Menschengut gemordet hat, würgt in der Stille die Thränen hinunter; der Jammer kriecht wie der Schatten hinter den Mauern. Das Licht der Öffentlichkeit kann und soll ihn nicht sehen; denn die Gesundheit des Ganzen will es so.
Aber die große Rechnung des Krieges ist [da] mit allem dem nicht beglichen. Das grausame Ende kommt schleichend, langsam, sicher nach, in Zeiten, in denen der Quell des Leides nur mehr langsam rinnt.
Dieses Furchtbare ist der Zufall des Einzeltodes, der mit jeder tötlichen Kugel das spätere Geschick des Volkes [beeinflußt] unerbittlich bestimmt und verschiebt. Im Kriege sind wir alle gleich. Aber unter tausend Braven trifft eine Kugel einen Unersetzlichen. Mit seinem Tode wird der Kultur eines Volkes eine Hand abgeschlagen, ein Auge blind gemacht.
Wie viele und [große] schreckliche Verstümmelungen mag dieser grausame Krieg unserer zukünftigen Kultur gebracht haben! Wie mancher junge Geist mag gemordet sein, den wir nicht kannten und der unsre Zukunft in sich trug.
Und manchen kannten wir gut, ach nur zu gut!
August Macke, der »junge Macke« ist tot.
Wer sich in diesen letzten, ereignisvollen Jahren um die neue deutsche Kunst gesorgt hat, wer etwas von unsrer künstlerischen Zukunft ahnte, der kannte Macke. Und die [ihn kannten wie] mit ihm arbeiteten, wir, seine Freunde, [die] wir wußten, welche heimliche Zukunft dieser geniale Mensch in sich trug. Mit seinem Tode knickt eine der schönsten und kühnsten Kurven unsrer deutschen künstlerischen Entwicklung ja 〈sic!〉 ab; keiner von uns ist im Stande, sie fortzuführen. Jeder zieht seine eigene Bahn; und wo wir uns begegnen werden, wird er immer fehlen.
Wir Maler wissen gut, daß mit [seinem Wegscheiden] dem Ausscheiden seiner Harmonien die Farbe in der deutschen Kunst [verblassen] um mehrere Tonfolgen verblassen muß und einen stumpferen, trockeneren [Klang] Ton bekommen wird. Er hat vor uns allen der Farbe den hellsten und reinsten[156] Klang gegeben, so [hell] klar und hell als sein ganzes Wesen war. Gewiß ahnt das Deutschland von heute [noch] nicht, was alles es diesem jungen, toten Maler schon verdankt, wieviel er gewirkt und wieviel ihm geglückt ist. Alles was [er] seine geschickten Hände anfaßten und [dem er] wer ihm nahe kam, wurde lebendig, jede Materie und am meisten die Menschen, die er magisch in den Bann seiner Ideen zog. Wie viel verdanken wir Maler [selbst] in Deutschland ihm! Was er nach außen gesät, wird noch Frucht tragen und wir als seine Freunde wollen sorgen, daß sie nicht heimlich bleibt.
Aber sein Werk ist abgebrochen, trostlos, ohne Wiederkehr. Der gierige Krieg ist um einen Heldentod reicher, aber die deutsche Kunst ist [zugleich] um einen Helden ärmer geworden.[157]
* ›August Macke †‹ (Oktober 1914)
Zwei eigenhändige Manuskripte, je zwei Seiten in Folio, beide datiert: »Hageville, 25. X. 14« und unterzeichnet: »Franz Marc« (Abb. 23). Es bedeutet: 〈...〉 = Einschub in zweite Fassung Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum
Buchempfehlung
In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro