Nach Rom!

[111] Von meiner lieben Auguste hatte ich tags zuvor Abschied genommen. Sie weinte heiße Tränen über die bevorstehende langjährige Trennung, während in meinem Herzen ein fortwährendes Jubilieren vorherrschend war. Die Aussicht, nach Rom zu kommen, ließ eine tiefergehende Rührung wohl nicht aufkommen.[111]

Ich ging also am andern Tage nachmittags zur Post. Der Vater und Ephraim Böttger begleiteten mich dahin; der Koffer wurde auf das große gelbe Ungeheuer – was die damaligen Postkutschen waren – aufgepackt, und der Kondukteur fragte, ob er nicht auch mein altes, schäbiges Ränzchen mit dazulegen solle, damit ich im Wagen nicht davon belästigt werde. Ich übergab es ihm ebenfalls, ohne daß es im Postschein als aufgegebenes Gepäck verzeichnet war. Und nun ein kurzes, bewegtes Lebewohl, und fort ging es.

Es war nach Mitternacht, als der große Kasten in Zwickau ankam und die Passagiere aussteigen mußten. Schlaftrunken gehe ich in die Poststube, während die Pferde umgespannt wurden, was ziemlich lange währte. Endlich geht es wieder in die Nacht hinaus, und ich schlafe, bis der Morgen zu grauen beginnt, wo ich bemerke, daß nicht nur die Pferde, sondern auch der Wagen gewechselt worden war. Von Hof aus, wo wir am Vormittag anlangten, sollte nun die Wanderschaft zu Fuße angetreten werden, worauf ich mich sehr freute! Aber dieser Freude schob sich gleich beim Beginn der Römerfahrt unerwartet ein Riegel vor; dem fortwährenden inneren Jubel ward ein Dämpfer aufgesetzt.

Vor dem Posthause in Hof wurde mein Köfferchen abgepackt; aber es fand sich das Ränzchen nicht, in welchem meine notwendigsten Utensilien, Skizzenbücher, Farben und außerdem die Hälfte meines Reisegeldes sich befanden. Welcher Schrecken! – Eingeschrieben im Postschein war es nicht, die Post brauchte nichts zu ersetzen. Was machen? Ein Postbeamter fragte, welcher Kondukteur mir das Ränzchen abgenommen und den Wagen bis Zwickau gebracht habe. »Das war der lange Kaiser«, sagt ein Postillion. »Ja, wenn's der war,« sagt ein anderer, »hernach erklärt sichs. Vor vierzehn Tagen fehlte einer Kammerjungfer die Schachtel mit Silberzeug, die er och in Verwahrsam genommen hatte. Bei dem is es nich richtig!« Ich war wie vom Donner gerührt über den so unglücklichen Anfang meiner Reise und machte mir Vorwürfe, daß ich nicht besser auf mein Eigentum geachtet habe. Endlich fiel mir ein, daß Böttger, welcher auf dem Dresdener Postamte wohl bekannt war, es gesehen habe, wie der lange Kondukteur das Ränzchen mir in Verwahrung genommen hatte. Ich schrieb ihm sogleich mein gehabtes Unglück[112] und bat ihn, Nachforschung zu halten und mir dann nach Hof Nachricht zu geben.

So mußte ich nun mehrere Tage in dem langweiligen Städtlein liegen bleiben und vorerst auf Antwort warten. Es war in meinem Innern nach so hochsteigender Flut urplötzlich eine große Ebbe eingetreten. Ich fühlte mich auf einmal recht allein und verlassen, allen denkbaren Unbilden als ein sehr Unerfahrener preisgegeben, und so auf einmal ernüchtert, trat der Schmerz der Trennung von allen, die ich liebte, welcher bisher vom innern Freudenjubel übertönt worden war, mächtig hervor. Ich strich in der Gegend umher. Die öden Höhen um Hof boten nichts Malerisches; sie sahen mich recht melancholisch an und waren nicht geeignet, mich zu zerstreuen, oder meine innere Trauer zu verscheuchen.

So hatte ich mich denn auf einen Hügel gesetzt und sah in die eintönige Landschaft hinaus. Ich hatte ein Bändchen Plutarch in der Tasche und wollte mein Herz stärken an einem edlen Stoiker, der mich immer so besonders angezogen hatte. Er konnte mich jetzt aber durchaus nicht mehr fesseln. »Warum soll ich denn meinen Schmerz verbeißen, wenn er einmal da ist?« fragte ich mich; »eine stoische Ruhe wäre jetzt Affektion, wäre eine Lüge; ich habe auch gar keinen Grund zur Ruhe, wohl aber Grund zum Schmerz«; und so schob ich meinen Philosophen in die Rocktasche, überließ mich meiner Trauer, und die Tränen tropften ins Gras, auf welches ich mich gestreckt hatte.

Ich kehrte mit erleichtertem Herzen ins Städtlein zurück und harrte des Briefes, der endlich auch ankam und mir meldete, daß man bisher zwar noch nichts aufgefunden, daß ich aber in Nürnberg nochmals auf der Post nachfragen möchte. Und so zog ich denn von Hof fort und marschierte gen Nürnberg.

Mein erster Gang war dort in das Postamt. Ein Schaffner führte mich in die Gepäckkammer, und siehe, mein Herz jubelte, das verlorene Schaf, mein schäbiges, altes Schulränzel, lag da unter anderem Gepäck am Boden, dick vollgestopft, wie ich es aufgegeben hatte; und obwohl es nur zugeschnallt war, so fand sich alles richtig darin, vor allem meine so nötigen fünfzig Taler.

Ich erinnere mich nicht mehr, welchen Eindruck das herrliche alte Nürnberg auf mich damals machte, auch habe ich mich nicht[113] lange dort aufgehalten. Den Maler und Radierer A. Klein besuchte ich noch, welcher auf der Feste am ersten Eingangstor in einem sehr altertümlichen Hause wohnte, und der sehr bescheidene, freundliche Mann zeigte mir all seine schönen Sachen. Besonderen Eindruck machte mir die Wohnung selbst; sie sah recht dürerisch aus, und aus den breiten Fenstern hatte man den herrlichsten Blick in das weite Land.

Mit einem Lohnkutscher fuhr ich nach München. Von den Anhöhen bei Freising erblickte ich schon in weiter Ferne die ganze Kette der Alpen, die am Horizont so sehnsüchtig blau auftauchten, daß deren Anblick mich völlig elektrisierte. München sah damals noch sehr unscheinbar und altfränkisch aus, es hielt mich nur einen halben Tag. Am anderen Morgen nahm ich mein Ränzel auf die Schultern und wanderte im Eilschritt über die öden Flächen den lieben Alpen entgegen, deren Berge allmählich näher und näher traten. Ein Student und desperater Fußgänger hatte sich unterwegs mir angeschlossen, und so kamen wir, als es schon abendlich wurde, nach Tegernsee, ein Weg von zwölf guten Stunden. Obwohl schon sehr ermüdet, wollte ich noch Schliersee erreichen, welches nur eine Stunde entfernt sein sollte. Der etwas beschwerliche Bergweg erschöpfte aber meine Kräfte, und es war dunkle Nacht, als ich mich an dem Tische im Wirtshause ausruhen und ein Abendessen bestellen konnte; denn ich hatte den ganzen Tag noch nichts als Bier und Brot genossen! – Endlich wurde Suppe und Braten aufgestellt; aber ich war fast bewußtlos vor Ermüdung und konnte keinen Bissen anrühren; ja die Beine waren steif und angeschwollen, so daß mich die Kellnerin auf mein Stübchen und ins Bett bringen mußte, wo ich auch sogleich einschlief. – Die Morgensonne endlich weckte mich aus einem Totenschlafe. Ich wollte nun aufspringen, aber siehe da, es war nicht möglich, die Beine zu bewegen, und mit Schrecken entdeckte ich, daß die Muskeln, musc. sartorius, als ein hochrotes Band sich auf den Schenkeln abzeichneten, also sehr entzündet waren. So mußte ich denn abermals liegen bleiben, wo die Bergfreude angehen sollte. Draußen glänzte die Sonne und sangen die Vögel, und ich lag wie angeschraubt im Bette! Die freundliche Kellnerin brachte mir nun Blätter vom Fliederstrauch, die ich auflegte, und welche[114] die Entzündung auch sehr milderten, so daß ich am späten Abend in Hausschuhen und auf einen Stock gestützt bis zum See humpelte; denn es war Johannistag, und ein mächtiger Holzstoß am Ufer angezündet worden, der prächtig in den See und die nächtlichen Gebirge hinausleuchtete. Überall von den Almen glänzten ebenfalls Johannisfeuer herunter, und hier am Ufer hatte sich jung und alt versammelt; die Jungen sprangen hie und da durch die Flammen, sangen und jodelten lustig herum.

Die folgende Nacht hatte sich nun die Entzündung ganz gelegt, und die Fliederblätter mich wieder auf die Beine gebracht, welche ich allsogleich auch brauchte und nach dem Wendelstein steuerte. Als ich die Sennhütte erreicht hatte, hob sich die kahle Felspyramide vor mir in die Höhe, und ein ganz schmaler Pfad führte an die mächtige Wand hinaus. An zwei Stellen mußte man sogar einen Sprung über die greuliche Tiefe wagen bis zu dem gegenüberstehenden Felsabsatz, doch klomm ich bis zur Spitze, wo ein kalter Wind mich heftig anblies. Ich legte mich eine Weile in das kleine Holzkapellchen, was da oben stand, und verschnaufte. Der Wind schien heftiger zu werden; ich trat nun heraus, mich umzuschauen und sah, daß das Wetter sich zu ändern begann. Über einem Teile der zackigen Häupter dieser unzählbaren Bergriesen, welche blau vor und unter mir lagen, türmten sich schwere Wolkenmassen, umzogen sehr schnell die Gipfel und senkten sich allmählich immer tiefer herab. Der Wind sauste heftiger, und da ich gehört hatte, der Felsenweg sei nicht ohne Gefahr, wenn bei schnell einbrechenden Wettern der Berg sich in dichtes Gewölk einhüllte, so eilte ich, so schnell es gehen wollte, den schlimmen Pfad wieder hinab. Schon dröhnte der Donner in den Bergen, der Sturm erhob sich, und noch lag die Alpe sehr tief und klein unter mir, während die dunklen Wolken bereits die Spitze des Wendelsteines umhüllt hatten und sich an den grauen Wänden tiefer und tiefer herabsenkten. Jetzt krachten Donnerschläge ganz nahe, die Blitze leuchteten in das eigentümliche Helldunkel der grausig schönen Berglandschaft hinein, und große Tropfen begannen zu fallen. Glücklicherweise hatte ich den Fuß der Wand erreicht, und in Sprüngen rannte ich die Hügel hinab nach einer der Sennhütten. Noch ein Dutzend Schritte davon, brach die Sündflut los, man sah nichts[115] mehr als gerade herabströmendes Wasser, und dies vom Blitzlicht grell durchglänzt, und das mächtige Rauschen von schmetternden Donnerschlägen übertönt. – Atemlos stürze ich in die Hütte und werfe mich auf einige Heu- und Laubbündel an die Erde. Ein altes Weib, das auf dem Herde saß, machte Gebärden des Erstaunens und zeigte hinaus und nach oben; denn sprechen konnte man nicht wegen des Tobens der Elemente, die ich in solcher Entfesselung noch nie gesehen hatte. Der Regen trommelte und rasselte auf das Schindeldach, und bald strömte er an vielen Stellen hindurch, und ich mußte mein Lager deshalb mehrmals verändern. Die Alte setzte an die gefährdeten Stellen Schüsseln und Gelten, um die Überschwemmung im Innern abzuhalten, und kehrte dann auf ihren Herdsitz zurück, wo sie wieder ihren Rosenkranz nahm und betete. Doch ärger und ärger wurde das Toben. Da nahm sie eine Schachtel vom Gesims, holte ein paar kurze schwarze Wachslichtchen heraus, zündete diese an, nahm trockene Kräuter und warf diese, Sprüche murmelnd, in das Herdfeuer, wo alsbald ein dicker Dampf den ganzen Raum erfüllte. Von mir hatte sie noch keine Notiz genommen. Es war eine wunderliche Szene! –

Endlich dröhnte der Donner ferner, der Regen strömte nicht mehr mit der vorigen Heftigkeit, ich kam auch wieder nach dem heftigen Sturmlauf zu Atem, und es wurde möglich, mit der Alten zu reden. Nach Verlauf einer Stunde war denn auch für meinen ausgehungerten Magen ein wunderschöner Eierschmarren gebacken, und tüchtig ermüdet, wie ich war, suchte ich bald mein Lager auf dem Heuboden, einen großen Laubsack, auf welchem ich den köstlichsten Schlaf genoß.

Als ich am anderen Morgen die Alm verließ und eine wilde Felsschlucht hinabstieg, sah ich erst, wie toll das gestrige Unwetter gehaust hatte. Ganze Reihen von Tannen und Fichten waren samt der Erdschicht, auf welcher sie eingewurzelt waren, von den steilen Felswänden herabgestürzt und lagen drei- und vierfach übereinander geschichtet am Fuße derselben. Es war eine mühsame Kletterei, um durch diese Zerstörung hinabzukommen. Mittags war ich indes in Rosenheim, und anderen Tags kam ich an das vorläufige Ziel meiner Wünsche, nach Salzburg (3. Juli).[116]

(Salzburg, vom 3. Juli bis 5. August.) Hier wollte ich nun einen längeren Aufenthalt nehmen und sah mich deshalb nach einer Privatwohnung um, die mein gutes Glück mich auch bald am Markte finden ließ. Die Besitzerin des Hauses war Witwe. Therese, Elise und Marie hießen ihre heiteren, gutherzigen Töchter, und Thurnwieser der Bewohner des ersten Stockes, Priester und Professor der orientalischen Sprachen am Gymnasium. Der Mittagstisch führte uns alle zusammen und meistens auch der Abend. Alle miteinander waren die heitersten, herzlichsten Menschen, wie ich sie gar nicht besser hätte finden können, dabei das ganze Hauswesen so sauber, gemütlich, einfach, bürgerlich, die Kost vortrefflich und für mich sehr billig, denn ich zahlte für alles wöchentlich nicht viel über einen Dukaten. Ich war gleich in den ersten Tagen hier wie zu Hause. Die Töchter wetteiferten, mir jeden Wunsch an den Augen abzusehen, und der gute Professor war überglücklich, einen Maler gefunden zu haben, der sein lange gehegtes Verlangen befriedigen konnte, einige seiner geliebten Berge genau zu konterfeien. Denn Thurnwieser war der eifrigste Liebhaber seiner schönen Salzburger und Tiroler Berge und ihre Vermessung, Besteigung und geognostische Untersuchung seine liebste Beschäftigung. Wenn er von dem Großglockner sprach, nahm seine Stimme einen Ton der Ehrfurcht an, wie Newton, wenn er den Namen Gottes nannte. Sonntags las er in Leopoldskron die Messe, und dann durchstöberten wir die Säle und Zimmer des öden Schlosses nach Gemälden, die in der eingeschlossenen Luft halb vermodert an den Wänden hingen. Außer großen Rosa di Tivolis fand ich eine schöne Landschaft von J. Both. Oft begleitete er mich auf meinen Ausflügen, und ich konnte ihn dann mit der genauen Zeichnung eines seiner Lieblinge belohnen.

Da mich in der ersten Woche das schönste Wetter begünstigte, so benutzte ich die Tage sehr fleißig. Von früh vier bis abends sieben oder acht Uhr zeichnete oder malte ich. Am öftesten saß ich arbeitend auf dem schönen Mönchsberge mit seiner alten Feste und den schattigen Lindengruppen, mit dem Ausblick auf den Kranz der schönsten Gebirge, welche in weitem Bogen die Salzach umziehen. Die Abendstunden waren hier oben besonders köstlich: wenn der Geisberg, das ferne Tannengebirge, die Pyramide des Watzmann im rosigsten Glanze[117] vor mir lagen, die blühenden Linden ihre süßen Düfte hauchten und ein Abendlied von den ungarischen Reitern geblasen aus der Stadt herauftönte. Dann schloß ich wohl meine Mappe und las den lieben Brief zum wievielsten Male, den ich in Salzburg von Gustchen bekommen hatte, und meine Seele war zu Hause bei den Meinigen und bei ihr!

Ende des Monats unternahm ich noch einen mehrtägigen Ausflug nach Berchtesgaden. Als ich abends im Wirtshause saß und das Fremdenbuch mir vorgelegt wurde, las ich mit besonderer Bewegung: »P. Cornelius (Direktor der Münchener Kunstakademie) am 18. Juli eine Nacht hier gewesen.« Ich hatte ja noch gar nichts von Cornelius gesehen, wohl aber von jüngeren Genossen gehört, er sei der gewaltige Chorführer, der Bahnbrecher einer neuen, großen Kunstrichtung.

Nun wäre es bald geschehen, daß ich dem großen Chorführer begegnet wäre; einige Tage lagen zwischen dem gemeinsamen Aufenthalt. Wie doch ein bloßer Name wecken kann! Ich bekam große Sehnsucht nach Rom.

Am anderen Morgen war es trübe und regnete, was mich aber nicht abhielt, in der Ramsau einige großartige Gebirgsmassen aus einem Feldkapellchen am Wege zu zeichnen. Das Nebelgeriesel ließ die Umrisse des Gebirges nur um so einfacher und größer hervortreten. Auf dem Hirschbühel erkundigte sich etwas barsch der Zolleinnehmer, als er meinen Paß ansah, ob Dresden in den kaiserlich österreichischen oder bayrischen Staaten liege. Außer diesen beiden Staaten schien ihm alles terra incognita. In Lofer übernachtete ich, und der Paß mußte abermals dem Herrn Pfleger vorgelegt werden. Hier fand ich aber Interesse für meine Vaterstadt vor. Der Herr erkundigte sich nach seinen Jugendfreunden Theodor Hell und Karl Maria v. Weber, wo ich denn – besonders von ersterem, genügende Auskunft geben konnte. Auch seine Gattin erschien und nahm teil an unserem Gespräch, und ich erfuhr, daß sie unter dem Namen Friedericka Susa in der Abendzeitung schreibe und also auch mit Papa Arnold im Verkehr stehe, dessen Lieblingskind ja die Vespertina war. Beiläufig: die Vignette der von Hell und Kind herausgegebenen Abendzeitung stellte ein Kind dar, welches Öl auf[118] eine griechische Lampe goß, und so war der Witz gang und gäbe: »Kind muß das Öl zur Lampe geben, damit sie hell brenne.«

Nach fünftägiger Wanderung bei ziemlich schlechtem Wetter kam ich nach Salzburg zu meinen gemütlichen Wirtsleuten zurück, mit neu erwachter Sehnsucht nach Rom und dem heftigen Verlangen, meine Kräfte an einer größeren Arbeit zu erproben; auch hatte sich der Wunsch nach einem trauten Reisegefährten recht fühlbar gemacht, den ich schon vorher oft empfunden hatte. Ich hatte mich während meines Aufenthaltes in Salzburg oft umgetan, ob ich nicht einen nach Italien wandernden Kunstgenossen fände, und deshalb auch in den Gasthöfen nachgeforscht; doch vergeblich. In solche Gedanken und Wünsche versunken saß ich in meinem Stübchen, als es an die Tür pochte. Auf mein »Herein!« trat ein Mann ein, der bereits in den Fünfzigen sein mochte, eine gedrungene, breite Gestalt, sehr sauber in seiner Kleidung und mit einem Gesicht, auf welchem Tüchtigkeit und ehrenhaftes Wesen mit Fraktur geschrieben stand. Er erzählte: er komme von Triest und wolle nach Holland zu Weib und Kind. Er sei Steuermann auf einem holländischen Fahrzeuge; sie hätten Schiffbruch gelitten; und er legte zur Bestätigung des Gesagten mehrere Zeugnisse von den betreffenden Behörden vor. Der Mann hatte für mich etwas Anziehendes in seiner festen, ruhigen und bescheidenen Weise, und so gab ich ihm ein paar Zwanzigkreuzer, welches in Betracht meiner schwachen Kasse viel genannt werden konnte. Er dankte, nahm seine Papiere wieder zusammen, sah mich mit einem dankbaren Blick an, als möchte er mir auch etwas Liebes erzeigen, und sagte: »Ich habe einen langen Weg vor mir, aber ich habe einen guten Reisegefährten

O, das ist ja ein Glück!« erwiderte ich lebhaft, im Gefühl, daß ich einen solchen schmerzlich entbehre. »Wer ist es denn?«

»Es ist der liebe Herrgott selber; und hier« – er zog ein kleines Neues Testament aus der Brusttasche – »hier habe ich seine Worte, und wenn ich mit ihm rede, so antwortet er mir daraus. So wandere ich getrost, lieber junger Herr!« Nochmals dankte er und ging. Mich aber hatte die Rede wie ein Pfeil getroffen, und ein Stachel davon blieb auch lange in meinem Herzen sitzen.

Ich hatte an Gott nicht gedacht, für mich war er eine ferne,[119] unbestimmte Macht, und dieser arme Mann sprach und sah darein, als kenne er ihn recht wohl, als stehe er im lebendigsten Verkehr mit ihm, woraus ihm ein so getroster Mut, eine so freudige Zuversicht erwuchs. Sein kleiner Schatz, das Büchlein, war mir völlig fremd; ich hatte ja nie eine Bibel gelesen.

Diese kleine Begebenheit ward bald durch neue Eindrücke vergessen, obgleich nicht verloren; denn später tauchte die Erinnerung daran wieder auf, und ich erkannte in ihr den Anfang einer Reihe tieferer Lebenserfahrungen, welche bedeutend auf die Entwickelung meines inneren Lebens einwirkten.

Am 5. August war das Ränzel gepackt und schwerer als früher. Der liebe Professor und die Mädchen begleiteten mich bis Hof, wo nach einem Trunk Ungarwein im Wirtshaus ein herzlicher Abschied genommen wurde, jene nach Salzburg zurückfuhren, während ich meinen Wanderstab weitersetzte und noch bis St. Gilgen marschierte. Eine schwarze Wetterwolke war herausgezogen und hüllte die Gegend in Nacht, während der St. Wolfgangsee im grellen Schein der Abendsonne glänzte. Es war eine prachtvolle Beleuchtung, die aber bald in Gewitternacht verschwand. Der Sturm erhob sich und brauste in den Wäldern, Nebelwolken senkten sich an den Gebirgen herab, Blitz und Donner folgten sich rasch aufeinander, und mit Mühe erreichte ich noch das Wirtshaus, als die Regengüsse losbrachen.

Weiter ging ich dann nach Ischl, über den schönen Traunsee nach Gmunden, bis zum Traunfall bei Lambach, überall zeichnend, was mir Schönes entgegentrat. Als ich an den felsigen Abhängen des Traunfalls saß und bis gegen Abend mit einer Zeichnung der aus tosenden Wassermassen aufragenden Felsklippen beschäftigt war, erblickte ich plötzlich ein junges Weib neben mir, deren Nahen ich bei dem Wasserdonner in diesem Hexenkessel nicht sofort bemerkt hatte, und welche ihre schwarzen Augen schon länger auf mich gerichtet haben mochte. Es war ein schönes, bräunliches Gesicht, von kleinen Ringellocken umrahmt, welche aus dem roten Kopftuch hervorquollen. »Du malst wohl den wilden Fall?« redete sie mich jetzt an, und nach einer Weile kauerte sie sich zu mir nieder und fuhr fort: »Wenn du mir deine Hand zeigen wolltest, so kann ich dir wohl dein Geschick daraus ablesen.« »Nun«, dachte ich, »die Szenerie ist[120] passend dazu«, und reichte ihr die Fläche der Hand. Sie rückte ganz nahe, damit ich sie vor dem Brausen des Falles besser verstehen könne, und erzählte nun von einem weiten, sehr weiten Weg, der vor mir liege; auch würde ich wohlbehalten dorthin kommen, wo mir viel »Glück und Ehre blühe«, und wo ich viel gute Freunde finden würde. – Ich fragte sie nun, wie es bei mir daheim aussehe? – »Die Deinen sind wohl auf, aber« – und ein kurzer Blick aus ihren schwarzen, verschmitzten Augen traf mich dabei – »aber es sitzt ein Mädchen auch daheim, die hat dich sehr lieb und ist dir treu; aber es gehen da viel Strichel durcheinander, es wird manch Widerwärtiges geben, und sie hat's bös. Ja« – dehnte sie noch langsam und bedenklich – »es wird noch recht lange dauern und Feindschaft dazwischentreten, aber du führst sie zuletzt doch noch heim!« Sie sagte noch vieles, was ich zum Teil wegen des Getöses des Wassers nicht verstehen konnte, teils vergessen habe. Da ich aber oben am Felspfad einen der Zigeuner sah, welcher herabzusteigen sich anschickte, so machte ich mein Buch zu, nahm mein Ränzel auf und gab der Frau ein Geldstück, für welches sie eine heilige Messe in Lambach lesen lassen wollte, damit alles Gute für mich in Erfüllung gehe. – Ich aber bedachte, daß ein kleiner Stoß mich mit Leichtigkeit von der schmalen Klippe hinab in die tollen Wasserwirbel bringen und in dieser Einsamkeit verschwinden machen könne, und stieg mit dem Weibe wieder hinaus.

Jenseits des Falles lag ein Wirtshaus, wo ich übernachtete. Ich sah noch spät abends die Zigeuner mit Pferden und Karren am Flusse gelagert um ein Feuer sitzen, essend, plaudernd, rauchend, während der Mond sein bleiches Licht über die Gegend breitete und ein ferner fortwährender Donner des Traunfalles die stille Nacht durchtönte.

Von hier aus ging ich am nächsten Morgen wieder nach Gmunden zurück, durchstrich das Land mehre Tage kreuz und quer, und ich erinnere mich nur, daß ich auf wilden Gebirgspfaden endlich bei Golling herauskam und dort wieder längere Zeit fleißig zeichnete, namentlich in den sogenannten »Öfen«, kolossale zusammengestürzte Felsmassen, durch welche sich die Salzach drängt, teils an den prächtigen Wasserfällen.

Über den Paß Lueg wanderte ich durch das schöne Pinzgau zum[121] Zeller See nach Lend und Gastein, dann an den Krimmelfall, in die wilde Gerlos, und blieb einige Tage in dem höchstgelegenen Gebirgsdorfe Tirols, in Dux. Der Abend war schön; so ging ich das stille, baumlose Tal entlang, blumige Matten zur Seite, vor mir im zartesten Rosenlichte die Schneeriesen des Hallstein, Schnitter und Rüff mit ihren leuchtenden Spitzen, mit den schroffen Wänden, weitgestreckten Schneefeldern und Gletschern, aus welchen lautlos ein mächtiger Wasserfall herabstiebte. Kein Vogel zwitscherte, kein Laub rauschte, keine Luft regte sich; es hatte die Natur hier ein Gesicht groß und schön, aber voll melancholischer Einsamkeit, fast schauerlich! – Es war so schön und einzig großartig, daß ich mich setzen mußte, von diesem Anblick ganz hingenommen, und nur die würzige, kräftige Luft einsog, aber nicht imstande war, etwas zu zeichnen.

Einen fast unheimlichen Eindruck machte es mir, daß der mächtige Wasserfall, welcher aus der Eismasse heraus über eine hohe Wand sich herabwälzte, obgleich er sich bewegte, doch so totenstill war. Er mochte ferner sein, als es den Schein hatte. Man muß allein sein, wie ich es war, um solche Szenen tief zu empfinden.

Es lag nächtliche Dämmerung über dem Tale, und die Eispyramiden leuchteten rotglühend in dieses tiefe Schweigen, als ich nach dem kleinen Wirtshause des Dörfchens zurückkehrte.

Am anderen Morgen regnete es, und ich durfte es nicht wagen, über die hohen Berge nach dem Zillertal zu wandern. So blieb ich auf meinem Stübchen, zeichnete und schrieb in mein Tagebuch. Die schöne Schwester der Wirtin, eine Kriemhildengestalt, kam mit ihrem Nähzeug herauf und leistete Gesellschaft, wie es so Sitte ist. Wir plauderten viel, und sie sang mir alle ihre Duxer Lieder und Schnacken vor, die sie wußte.

Als ich unten in der Wirtsstube mein Mittagsbrot verzehrte, kamen vier Männer, ein langer, älterer mit drei jüngeren Gesellen, mit etwas duseligen Gesichtern, welche an einem anderen Tische ebenfalls ihren Imbiß verzehren wollten. Sie hatten von dem Mädchen erfahren, daß ein fremder Maler da sei, und da sie nun dasselbe Handwerk betrieben, so sahen sie ziemlich scheel und mißtrauisch nach mir herüber, bis der lange Dürre endlich losbrach und erklärte, daß er die Kirche zu malen in Akkord genommen habe, daß kein Fremder[122] deshalb herzukommen brauche; auch bedürfe er keines Gehilfen; er habe schon seine Gesellen.

Meine Bemühungen, ihnen den komischen Irrtum zu benehmen, schienen indes wenig zu fruchten, bis der Herr Kooperator, welcher inzwischen eingetreten war, ihnen die Sache mit besserem Erfolge auseinandersetzte und mich sogar nach dem Essen zu einer Besichtigung ihres kleinen Kirchleins und seiner Kunstwerke einlud. Dies geschah denn auch, und ich betrachtete mit Erbauung die großen Tulipanen und ziegelroten Rosen nebst anderem unbekannten Gewächs und Schnörkeln, mit welchen die Maler die Decke des armen Kirchleins geschmückt hatten. Und so war der Friede hergestellt.


Die Wanderung führte mich nun durch das Zillertal. Es war ein trüber Tag; bald am Morgen stellte sich ein melancholisches Regenwetter ein, welches ohne Unterbrechung den ganzen Tag anhielt. Ich zog, bis auf die Haut durchnäßt, die einsame Straße dahin. Die Berge in Wolken eingewickelt, der Weg ein Morast, die Landschaft ein eintöniges Grau, der Magen leer, so war es kein Wunder, daß ich schon nachmittags vier Uhr recht ermüdet und verstimmt nach einer Herberge mich umsah. Ein Dörfchen links vom Wege und darin ein breiter Giebel und rauchender Schornstein lockten mich hinüber. Es war richtig das Wirtshaus, in dem nur eine stille Wirtin saß, niemand sonst zu sehen war. Es wurde mir langweilig in meinem Stübchen, zum Essen war es noch zu früh, denn ich aß immer nur einmal des Tages, nicht aus Unlust des Magens, sondern meines schwindsüchtigen Geldbeutels wegen; so fragte ich die Wirtin, ob sie nicht etwas zum Lesen habe, um die Zeit mit etwas Geistesnahrung auszufüllen, bis der schöne Moment zum Soupieren – was zugleich Dinieren war – kommen würde. Das gute Weib brachte mir bald in der Schürze ein halb Dutzend Bücher, die ich sogleich durchstöberte, aber mich sehr enttäuscht fühlte; denn es waren Gebets- und Erbauungsbücher, nach denen mich durchaus nicht gelüstet hatte. Ich dachte endlich: Not lehrt beten, und griff aus Langerweile nach dem äußerlich anständigsten unter diesen alten Schmökern und las: »Beicht- und Kommunionbuch von Japsis, Dresden in der Arnold'schen Buchhandlung«. Das letztere war mir interessant.[123]

Ein Gruß aus der lieben Vaterstadt, ja aus dem Hause des trefflichen Mannes, durch dessen Güte ich jetzt hier sitzen konnte! – Ich blätterte weiter und fand: Abschiedsreden Jesu aus dem Evangelium Johannis. Ich war überrascht, erstaunt, daß man so lange Reden und Aussprüche Christi besitze, denn ich hatte ja noch nie eine Bibel in den Händen gehabt. Die Reden großer Griechen und Römer im Plutarch, den ich aus einer alten Übersetzung kannte, hatte ich so oft mit Begeisterung und Ehrfurcht gelesen, und hier war mehr! »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich. Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater. Und von nun an kennet ihr ihn und habt ihn gesehen.« Und weiter hieß es: »Liebet ihr mich, so haltet meine Gebote. Und ich will den Vater bitten, und er soll euch einen anderen Tröster geben, daß er bei euch bleibe ewiglich; den Geist der Wahrheit, welchen die Welt nicht kann empfahen (Warum kann ihn die Welt nicht empfangen? Dies war mir rätselhaft. – »Der tiefste Konflikt der Weltgeschichte ist der Kampf des Glaubens mit dem Unglauben« sagt Goethe); denn sie sieht ihn nicht und kennet ihn nicht. Ihr aber kennet ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein.« – »Ich will euch nicht Waisen lassen; ich komme zu euch. Es ist noch um ein Kleines, so wird mich die Welt nicht mehr sehen. Ihr aber sollt mich sehen; denn ich lebe, und ihr sollt auch leben. An demselben Tage werdet ihr erkennen, daß Ich in meinem Vater bin, und ihr in mir, und Ich in euch.«

Wunderbare Worte! Ein Klang wie aus einer höheren Welt, der mich groß und seltsam berührte, dessen Sinn ich aber doch nicht verstehen konnte, so klar und einfach die Worte lauteten. Ich wurde in eine seltsame, unruhige Bewegung versetzt, es war, wie in Uhlands »verlorener Kirche«, der geheimnisvolle Glockenton im Walde – er gab ein leises Echo in meinem Innern; ich wußte aber nicht, woher er kam und was er wolle! Das gute, treuherzige Gesicht meines alten Steuermanns in Salzburg, mit seinem kleinen Büchlein in der Hand, es tauchte wieder auf und sprach von einem treuen Reisegefährten in die Heimat – Worte, die eine Saite tief im Innersten berührten –, ich aber verstand sie nicht. So trat auch dieser Eindruck wieder in den Hintergrund und schien vergessen.[124]

Es gibt Lebenseindrücke oft unscheinbarer Art, die im Gemüt einen geeigneten Boden finden, weil sie einem inneren Bedürfnis entgegenkommen, welche dann lange Zeit unbeachtet zu ruhen scheinen, aber dennoch uns unbewußt im Innern fortarbeiten, um ihren Nahrungsstoff in Fleisch und Blut abzusetzen und einem künftigen Eindruck nach dieser Seite hin mehr und mehr den Boden zu bereiten.


Anderen Tags, am 24. August, kam ich aus diesen wilden Regionen bei schönstem Wetter in das fruchtbare Inntal herab. Ich war abends in Innsbruck, wo ich Briefe und Geld von Arnold und den Meinigen zu finden hoffte; aber nichts vorfand.

Es vergingen hier acht Tage, ehe das Erwartete eintraf.

Im Gasthof traf ich am Mittagstisch einen Mann, welcher sich beklagte, daß ihm so große Schwierigkeiten gemacht würden, sich hier als Buchhändler zu etablieren; er warte schon seit Monaten auf Bescheid. Im Nachbarhause, wo er wohnte, und wohin er mich zum Besuch aufgefordert hatte, fand ich nun eine Menge Bücher aufgestapelt, die zum Teil für mich von großem Interesse waren. Schlegel: »Über christliche Kunst«, sowie Tiecks und Wackenroders Kunstschriften fand ich hier in Wiener Nachdrucken, und der Mann war so freundlich, sie mir zum Durchlesen anzubieten. Da ich genug Zeit dazu hatte, nahm ich das Anerbieten mit Freuden an. Und in der Tat hatte mein guter Genius es überaus glücklich gefügt, daß er gerade in dieser unfreiwilligen Reisepause mir den freundlichen Buchhändler mit seinem unbenutzten Schatze neuerer Literatur zuführte. Denn da mir von Kunstschriften bisher nur der alte Hagedorn, d'Argenville, Mengs und vorzüglich Sulzer zugänglich gewesen waren, von welchen ja keiner mir eine Brücke zum Verständnis der jetzigen Bewegung erbauen konnte, so wurde mir vorläufig durch Schlegels Buch ein völlig neuer Ausblick eröffnet.

Bisher schien mir die neuere Richtung vorzüglich in der Rückkehr aus dem Manierismus zur Natur zu bestehen; ich sah nun, daß noch ein drittes dazu kam: der Geist der Poesie nämlich, der aus der bloß materiellen Natur dem empfänglichen Sinne des Künstlers entgegentritt und das Gewöhnliche zum Bedeutenden in Form und Gedanken hinaushebt. – Der Weg zu dieser Erkenntnis soll nun[125] durch das Studium der alten – bisher unbeachteten, großen Meister geöffnet, gleichsam zur Quelle zurückgekehrt werden, um wieder in reine Bahnen zu gelangen. Dies und Ähnliches war der Eindruck, den jene Schriften mir ungefähr hervorbrachten, und ich brannte vor Begierde, eine lebendige Anschauung von diesen Dingen zu gewinnen durch Betrachtung alter und neuer Kunstwerke dieser Art.

Hier am Tore des Südens bekam ich gleichsam den Schlüssel in die Hände gedrückt, der mir den Schatz erschließen sollte. Ich lag vier bis fünf Tage über diesen Büchern, daß mir endlich der Kopf brannte, und sehnte mich heftig nach Rom; denn ich fühlte hindurch, mit Worten sei hier nichts getan, ich müsse selbst Hand anlegen, die Kräfte erproben und sehen, wie weit ich damit komme.

Die Briefe kamen endlich an, von Papa Arnold, vom Vater und ein kleiner, lieber Brief von Augusten. So konnte ich denn wieder mein Ränzel schnüren, nachdem ich noch von dem freundlichen Buchhändler einen Homer gekauft und in den Koffer gesteckt hatte, und am 5. September morgens verließ ich Innsbruck.


Frisch und wohlgemut fühlte ich mich nach den genossenen Rasttagen und marschierte dem Brenner zu. Durch die frische Morgenluft, die rasche Bewegung, den Entschluß: nun ohne Kreuz- und Querzüge den geraden Weg nach dem ersehnten Italien – nach Rom zu wandern, innerlich geistig angeregt, schritt ich rasch, voll Jugendlust, Kraft und Mut des Weges.

Es war ein Nebelmorgen, die Wolken zerrannen, blauer Himmel und Sonnenschein lachten die schöne Gegend an, und ich freute mich der verschiedenen Passagiere auf der Straße. Zuerst kam ein Bauer, der mir freundlich einen abkürzenden Fußweg zeigte; Handwerksburschen hinkten schwer bepackt und still grüßend vorüber. Ein paar vornehme Kavaliere mit ihren Dienern hinterdrein überritten mich armen Fußgänger beinahe, obwohl ich wegen des Abgrundes zur Seite nicht ausweichen konnte, und die Reitgerte fuhr mir übers Gesicht, was der Gnädige nicht merkte. Vetturinis, mit Reisenden gefüllt und mit Koffern beladen, wurden eingeholt und überholt. Ein Kapuziner, bleiches Gesicht, roter Bart, einen langen Stab in der einen, einen Korb in der anderen Hand, zog ernst grüßend seines[126] Weges. Mittags endlich im Wirtshaus lärmten und tollten Soldaten, und die frischen, lustigen Gesichter der Kellnerinnen hatten nur für diese lustigen Vögel Augen und Ohren.

Eines alten Bettlers muß ich auch noch gedenken, der von weitem schon mit abgezogenem Hut auf mich zukam, und während ich nach ein paar Kreuzern in der Tasche suchte, endlich erbarmend ausrief: »O Gott, der Herr ist aber wohl ein Handwerksbursch und hat selber nit viel. Nein, b'hüts Gott, da mag ich nix!« Alle diese Staffagen vergnügten mich sehr, und zwischendurch erdachte ich mir Bilder, die zu malen wären, wovon ich nur eins hier anführen will, was ich in einem Tagebuchhefte aufgezeichnet finde, und welches als Probe gelten könnte, daß die eingesogene Romantik schon ihre Wirkung spüren ließ.

»Bild: Das Innere einer Einsiedelei. Morgens. Der Alte ist eben verschieden und liegt in einem dämmernden Winkel der Klause, ruhig, bleich, Lippen und Hände geschlossen. Aber er liegt etwas abseits, denn er ist nicht die Hauptperson. In der Mitte ein Korb voll Früchte, welche er gestern noch sammelte. Am kleinen Fenster sitzen traurig die Waldvögel, welche er zu sich gewöhnt und gefüttert hatte. Die wilde Taube, Hänfling und Finken und sogar der scheue Stieglitz sitzen da und stimmen ihre Trauerlieder an, wie der Chor in der Tragödie. Eine Traube schwellt im grünen Laub am Fenster. Sie wird ungepflückt verdorren, wenn sie nicht die Spatzen holen. Die Blumen im bemalten Geschirr hängen die Köpfchen; denn sie sind nicht begossen worden.«

Solches und anderes närrische Zeug malte ich mir in Gedanken aus und kam dabei, rüstig ausschreitend, über den Brenner.

Am anderen Tag stieg ich vollends die Südseite hinab und zeichnete mehreres ins Skizzenbuch.

Eine alte, morsche Betsäule stand am Wege. Darüber ragten, im Morgenrot erglühend, die Spitzen und Hörner majestätischer Berge in die noch dunklen Täler. Die Morgenglocken läuteten in der Tiefe. Hier oben war es noch still und einsam und die Luft wehte kalt.

Ein Stück weiter hinab trat abermals eine schöne Berglandschaft hervor mit einer alten, noch bewohnten Burg im Mittelgrund, welche ich ins Skizzenbuch zeichnete. Genau von demselben Flecke aus hatte[127] sie Fohr nach der Natur gezeichnet und aquarelliert, wie ich später in Rom ersah. Passavant war im Besitz dieser Zeichnung, und jetzt ist sie in meiner Sammlung.

7. September. Diesen Tag kam ich nur bis Brixen und am nächsten bis Kollmann. Hübsches Kneipchen an der Straße. Unter einer Veranda verzehrte ich mein Abendbrot mit Wein und las Augustens Brief zu wiederholten Malen. – Nachts am Fenster stand ich noch lange, die prächtigen Bergformen betrachtend, die im Mondschein vor mir lagen. Alles war so ruhig, nur die Etsch brauste fern, und die Grillen sangen.

Schon bei Bozen trat mir der veränderte Charakter der Berglinien bedeutsam entgegen. Die phantastischen, grandiosen Spitzen waren verschwunden, es lagerte sich alles beruhigter, in feinen, höchst mannigfaltig geschwungenen Umrissen. Statt des überwältigend Erhabenen trat großartige Schönheit und Anmut an die Stelle. Ein Unterschied, wie zwischen der Kraft der deutschen Sprache und der dolcezza des italienischen Lautes, wie zwischen dem deutschen Dombau und den Tempelbauten von Paestum.

Wie das Land, so das Gewächs! –

Das Wandern unter der südlichen Sonne wurde mir jetzt oft recht beschwerlich. Ich mußte aber die in Innsbruck erhaltenen hundert Taler möglichst zusammenhalten, um damit drei Monate auszulangen. Ich hatte mir fest vorgenommen, diese Summe, welche mein väterlicher Freund und Wohltäter mir regelmäßig jedes Vierteljahr schickte, nie zu überschreiten, und von meinem lieben Vater, der mit großen Sorgen zu kämpfen hatte, wollte ich durchaus keine Nachhilfe haben; er hätte es sich selbst abdarben oder Schulden machen müssen. Deshalb suchte ich mich nach der Decke zu strecken, die jetzt immer kürzer wurde, weil die Wirtshäuser nicht so billig wie in Tirol waren. Dazu kam noch, daß ich allein reiste, die Sprache – ich kam nun in die italienische Sprachregion – nicht verstand und für die Reise nur Kunst- und Merkwürdigkeitsnotizen aus Stolbergs, der Elise von der Recke und des Kephalides Reisen nach Italien abgeschrieben hatte. Deshalb fühlte ich mich von hier aus sehr ratlos und verlassen, und das Wandern verlor von seinem Reiz. Wie gern hätte ich mich einem Vetturino anvertraut; aber dies wenige, was es mehr gekostet hätte,[128] würde doch ein Defizit für meinen dreimonatlichen Haushalt herbeigeführt haben.

Bei Trient machte ich meinen ersten Sprachversuch, der sehr niederschlagend für mich ausfiel. Ich hatte einen Monat vor meiner Abreise in Dresden einige italienische Sprachstunden genommen, war dabei nicht weit gekommen – da ich ohnedies wenig Neigung und Geschick für Sprachstudien hatte, und dies wenige war auch wieder etwas in Vergessenheit gekommen. Jetzt fing ich nun an, Hals über Kopf ein Heft Gespräche und Vokabeln auswendig zu lernen, was unterwegs im Gehen ausgeführt wurde. Ich beschloß nun, meine kleine gewonnene Kenntnis zu probieren, und redete einen Bauern an, der mir eben entgegenkam. Mit der größten Freundlichkeit und Beredsamkeit antwortete mir der gute Mann so viel und gestikulierte mit den Händen auf das lebhafteste dazu, daß ich, der nicht das geringste verstanden hatte, sehr froh war, als er aufhörte und ich mit einem »la ringrazio!« mich verabschieden konnte.

Wie ein üppiger Garten breitete sich das Tal aus zwischen Trient und Roveredo, und die Pflanzenwelt hatte einen südlichen Charakter angenommen. Aus den bleichen Ölbäumen hob sich die schwarzgrüne Zypresse, und der Wein, in Lauben gezogen und überreich mit dunklen Trauben beladen, bedeckte das Tal bis zur Etsch. Zur Rechten fallen die Abhänge des Monte Baldo steil herab, und endlich – in der Nähe der Klause – hatten sich die mächtigen Bergrücken soweit gesenkt, daß ich das Ende dieser seit Wochen durchwanderten Bergwelt erwarten durfte. Und so war es denn auch; die lombardische Ebene öffnete mir samt meiner Mitpilgerin, der Adige (Etsch), ihre Arme, und die stolzen Alpenriesen entließen uns gnädig.

Die Landstraße ward hier sehr lebendig, denn die Gegend wurde angebauter, bevölkerter, und die Nähe Veronas kündete sich in der Ferne an. Reizende Bilder traten hier entgegen. An den Ulmen und Maulbeerbäumen zur Seite des Weges hatte sich der Weinstock hinaufgerankt und zog seine mit schweren Trauben behangenen Girlanden von Baum zu Baum, und unter den Lauben der sich weithinstreckenden Weingärten sah man fröhliche Gesichter mit dem Sammeln der Trauben beschäftigt, während hübsche Burschen ihre Ochsengespanne führten, welche auf zweirädrigen Karren große[129] Bottiche mit Trauben beladen, zur Kelter fuhren. Ein Singen, Scherzen, Lachen ringsum. Dazu durchzog der Geruch des Mostes den ganzen Weg. Es waren Volksbilder, ganz von dem Anhauch südlicher Schönheit übergossen, Bilder, wie sie späterhin Robert malte.

Gegen Abend erreichte ich Verona. Hier beschloß ich einige Rasttage zu halten, da die Hitze und der Staub der Landstraße auf dieser langen Wegstrecke mich doch etwas ermüdet hatten. Schließlich mußte ich länger warten, als mir lieb war, weil mein Koffer von Innsbruck noch nicht angekommen war.

Ich durchstrich die Stadt nach allen Richtungen. Die altertümlichen Gebäude, die Grabmäler der Scaliger, der Markt mit dem lauten Volkstreiben und die daselbst aufgehäuften köstlichen Früchte ergötzten mich höchlich, und ich bedauerte nur, daß ich das alles so allein genießen mußte, ohne mich gegen irgendwen aussprechen zu können. Der Dom, besonders das uralte Portal mit seinen beiden Wächtern, dem Roland und Olivier, machte einen fast ungeheuerlichen Eindruck. Doch von all diesen schönen Dingen berührte mich am tiefsten und nachhaltigsten ein altes Bild, das ich in der Kirche St. Giorgio auffand. Es stellte eine Madonna mit dem Kinde dar, zur Seite St. Zeno und St. Justinus, und vor ihr drei musizierende Engel. So schön und herzbeweglich glaubte ich noch kaum etwas gesehen zu haben. Es war von Girolamo dai Libri, ein alter lombardischer Meister, von dem ich bis dahin nichts gehört und auch später nichts als dies Bild gesehen habe. Hier ging mir zuerst eine Ahnung auf, welche Tiefe des Gemütslebens und aus diesem entsprossene himmlische Schönheit in den Meistern vorraffaelischer Periode enthalten sei. Schlegels Buch von christlicher Kunst hatte jedenfalls in mir vorgearbeitet, und der innere Sinn wie das Auge erschlossen sich um so empfänglicher, als nun ein so anmutiges Werk dieser Art mir entgegentrat.

Libri war, wie ich in späteren Jahren in »Lanzi, Geschichte der Malerei in Italien« fand, in ganz Italien berühmt durch seine Miniaturbilder, womit er Bücher schmückte, und dies Altarbild nennt Lanzi einen Edelstein unter den Bildern dieser Kirche. Es trägt die Jahreszahl 1529. In bezug auf eine Sage, Libri habe zu St. Lionardo einen Lorbeerbaum so natürlich gemalt, daß die Vögel oft zum Fenster[130] hereingeflogen seien, um sich auf seinen Zweigen auszuruhen, macht v. Quandt eine Bemerkung, die mich um so mehr erfreute, weil ich daraus sah, daß dieser seine Kenner einen ähnlich tiefen Eindruck von diesem Bilde empfangen hatte, wie ich selbst, der so ganz zufällig, von seinem guten Genius geführt, diese Perle auffand.

Quandt sagt: »Mag man an dem Geschichtchen vom Lorbeerbaum auch zweifeln, so verliert Libri dadurch nicht, er bleibt einer der größten Meister aller Zeiten und Länder; denn das Gemüt zu erheben, ist doch wohl mehr, als ein Tier zu täuschen, und Girolamo dai Libri vermag jenes in hohem Grade. Auch ist Libri einer von den wenigen Künstlern, die so rein von fremden Einflüssen blieben, daß ihre Werke nicht an eine bestimmte Zeit, in der sie, oder ein Volk, für das sie hervorgebracht wurden, erinnern, sondern das Gesamtgefühl der Menschen ansprechen.

Man kann Libris Stil durchaus weder altertümlich noch neumodisch nennen, sondern muß ihn als zeitlos und doch das jeder Zeit Gehörende, also Ewige, in uns zur Anschauung bringend, wahrhaft bewundern. Bei Erinnerung an dieses Gemälde fühle ich die Rührung wieder, die ich bei dessen Anblick fühlte, und kann sie nicht verbergen.«

Die Art dieses Meisters, zu sehen und zu empfinden (sein Stil – und der Stil ist ja der Mensch –), wirkten tief und bleibend, berührten mich sympathisch; ja dieser alte, liebe Maler und Illustrator (er wie sein Vater waren besonders berühmt durch ihre Miniaturbilder in Meß- und Choralbüchern, davon ihr Beiname dai Libri) ist so eigentlich mein Schutzpatron gewesen und hat mir zuerst die Pforten für das innere Heiligtum der Kunst erschlossen.


Mein Koffer war endlich angekommen und weiter befördert; so konnte ich am 20. September Verona verlassen. Gern hätte ich mich einem Vetturin überlassen; aber die Burschen, mit welchen ich verhandelte, forderten zuviel und wollten von ihrer Forderung nicht nachlassen, da sie sahen, daß ich allein war und der Sprache unkundig, also nach ihrer Meinung genötigt sei, auf alles einzugehen. Außerdem hätte ich noch mehrere Tage auf die Abreise verschieben müssen, da die Kutscher noch keine Passagiere hatten. So zog ich es vor,[131] abermals zu Fuß weiter zu wandern trotz der Vorstellung von Räubern, welche die Straßen, namentlich in den Apenninen, unsicher machen sollten.

Über Mantua und Bologna erreichte ich nach einigen Tagen die Apenninenkette, von welcher ich mir landschaftliche Schönheit versprach, aber sehr enttäuscht wurde. Die Straße zog sich auf hohen, öden Bergrücken dahin; es war einsam und unheimlich hier oben, denn selten sah man einen Menschen, seltner einige Gebäude. Am späten Abend erreichte ich einen sehr hohen Punkt des Gebirges, von wo ich zurückblickend die lange Kette der Alpen fern am Horizont nochmals aufdämmern sah und meine letzten Grüße in die liebe Heimat senden konnte. Wann werde ich euch wiedersehen, und wie wird es dann mit mir stehen; werde ich erlangt haben, nach dem ich so innig strebte.

Der letzte Tagmarsch bis Florenz wurde mir recht schwer, und ich kam, von Hitze, Staub und der Langweiligkeit des einsamen Wanderns recht erschöpft, an das Tor, wo der Paß vorgezeigt werden mußte. Der Torschreiber fand sich nicht in den deutsch geschriebenen Paß, und nachdem er denselben nach allen Seiten gedreht und betrachtet und den Kopf bedenklich geschüttelt hatte, ließ er endlich seinen Redestrom auf mich los. Ich konnte dem nichts entgegensetzen, weil ich kein Wort davon verstand. Zum Glück wegelagerte ein Cicerone in der Nähe, welcher etwas Französisch sprach, und jetzt zwischen uns den Vermittler und Dolmetsch machen und die Wißbegierde des Torschreibers befriedigen konnte.

Bei diesem Retter in der Not erkundigte ich mich nun nach einer guten und billigen Locanda, wobei ich es um meines schwachen Geldbeutels willen auf letztere Eigenschaft besonders abgesehen hatte. Er nannte mir eine solche, bat mich, die Straße hinauszugehen, er werde gleich selbst nachkommen und mir die Herberge zeigen, da er selbst in deren Nähe wohne. Der Mann hatte ein widerlich zudringliches Wesen, grinsend freundliches Gesicht und sah außerdem höchst schmierig aus. Er hatte heute vergeblich am Tore auf noble forestieri gelauert und nahm deshalb schließlich mit dem armen pittore tedesco vor lieb, sich mit dem Sprichwort tröstend: In der Not frißt der Teufel Fliegen.[132]

So lenkten wir denn aus der Hauptstraße in einige kleine schmutzige Gäßchen und landeten zuletzt vor einer Locanda e Osteria in einem engen Hofe. Mein Virgil sagte mir noch schnell, ich würde hier brave Leute finden. Er wohne mit seiner Tochter, »una bella ragazza«, gegenüber; auch habe vor kurzem ein pittore francese hier lange gewohnt und mit seiner Tochter des Abends Gitarre gespielt und gesungen, und sie seien überaus vergnügt gewesen. Er empfahl sich auf Wiedersehen und schlüpfte in seine Haustür, während ich, plötzlich bedenklich geworden, in meine schwarze Spelunke eintrat. Ein entsetzliches Loch!

»Lasciate ogni speranza voi ch' entrate«, war auch hier ohne Buchstaben zu lesen, und durchaus keine Aussicht auf eine stärkende Kost und leibliche Pflege nach bescheidenstem Maßstabe. Meinen Löwenhunger mußte ich mit einer Foglietta essigsauren Weines, einem Brötchen und einer traurigen Frittata zu stillen suchen. Ich war zu erschöpft, um mich nach einer anderen Herberge umzusehen, und legte mich angekleidet auf mein elendes Lager.

Daß meine ganze Barschaft nur noch aus einigen dreißig Scudi bestand und ich damit noch nach Rom reisen und zwei volle Monate leben sollte, beunruhigte mich sehr, und meine Lage machte mir recht traurige Gedanken, über welche aber die Ermüdung dennoch bald siegte; denn die Augen fielen mir zu, und ich schlief wie tot die ganze Nacht.

»Der Herr gibt's den Seinen schlafend«, hieß es auch hier; denn es löste ein gütiges Geschick während eines bleiernen Schlafes meine Bedrängnis.

Ich erwachte plötzlich. Es war Morgen, und mir deuchte, ich wäre bei meinem Namen gerufen worden. Indem ich mir noch die Stirn reibe und mich besinne, ob ich geträumt habe oder ob es wirklich möglich wäre, ertönt von neuem der Ruf meines Namens, und ich springe auf und ans Fenster. Da stehen zwei mir gänzlich unbekannte Männer, ein junger und ein älterer, jedenfalls deutsche Gesichter – wie froh war ich solche zu erblicken – und schauen mich höchst verblüfft an.

»Entschuldigen Sie, daß wir Sie so früh aus dem Schlafe gestört haben, aber wir glaubten einen Herrn Richter hier zu finden.« »Ja, so heiße ich.« »Einen Maler aus Dresden.« »Ganz recht, ein Maler[133] bin ich und aus Dresden ebenfalls.« Abermals sahen sie mich frappiert an. »Aber jedenfalls sind Sie der nicht, den wir zu finden glaubten,« sagte der Jüngere, »denn ich kenne den persönlich.« Ich bat die Herren, sich in meine Höhle herauf zu bemühen, um den Wirrwarr klar zu bringen. Hier erzählte dann der Ältere, ein feines, intelligentes Gesicht, wie sie eben am frühen Morgen einen abreisenden Freund ans Tor gebracht und daselbst vom Torschreiber erfahren hätten, daß gestern abend ein Landsmann und Kunstgenosse Richter aus Dresden hier angekommen sei und da und da wohne. Ihr Freund, den sie nun suchen, sei der Historienmaler August Richter, von welchem sie erfahren hätten, er werde in diesem Herbst von München, wo er studiere, eine Reise nach Rom machen.

Ich war glückselig, Landsleute, ja Kunstgenossen durch dies Ohngefähr gefunden zu haben; es war mir, wie es einem Stummen sein mag, der plötzlich die Sprache wiederbekommt; ein Stein war vom Herzen, ein Knebel aus dem Munde genommen.

Der ältere dieser lieben Genossen war der Historienmaler Rehbenitz aus Kiel, ein trefflicher Mensch, ein Freund Schnorrs und Overbecks, Zum Kaufmann bestimmt und ausgebildet, hatte er sich erst spät der Kunst widmen können. Der jüngere Maler war Hennig aus Leipzig, ein Freund August Richters. Er hielt sich gegenwärtig in Florenz auf, um bei Metzger das Restaurieren von Gemälden zu erlernen.

Ich erzählte Rehbenitz, wie ich gestern abend in diese schlimme Herberge gekommen sei, und er schlug mir vor, mit zu ihnen zu gehen, wo ich sogleich ein freundliches Zimmer bei Metzger beziehen könne, welches diesen Morgen durch die Abreise ihres Freundes frei geworden war. »Eine freundliche Wohnung in einer fremden Stadt trägt viel dazu bei, diese in gutem Lichte erscheinen zu lassen, und umgekehrt«, meinte Rehbenitz. Ich zahlte meine kleine Zeche und mietete auf eine Woche das vorgeschlagene, sehr reinliche und billige Zimmer bei Metzger, dicht bei S. Maria Novella, und hatte daselbst, mit lieben Landsleuten verkehrend, einen höchst angenehmen Aufenthalt, der mich bald alle überstandene Not meiner einsamen Reise vergessen ließ.

Der in der Kunstgeschichte wohlbewanderte Rehbenitz begleitete mich oft in Kirchen und Sammlungen und erschloß mir das Verständnis der Altflorentiner Schule mehr und mehr. An mir einen[134] ebenso empfänglichen wie der Hilfe bedürftigen Schüler gefunden zu haben, schien dem trefflichen Manne die größte Freude zu machen, und ich wurde zugleich auf die angenehmste Weise in die Anschauungen der in Rom lebenden deutschen Künstler vorbereitet und eingeweiht. Bisher waren mir die alten Florentiner Meister selbst dem Namen nach fremd gewesen; wie war ich deshalb erstaunt, in ihren Werken die reichste Fülle großer, künstlerischer Gedanken und in schlichter Form eine Wahrheit und Stärke des Ausdrucks, stilvolle Größe, Phantasie und Schönheit zu finden, wie ich es gar nicht geahnt hatte!

Von Taddeo Gaddi machte mir eine Grablegung Christi einen besonders tiefen Eindruck; aber am verständlichsten, weil mir sympathisch, erschienen mir Signorellis prächtige Fresken in der Kapelle Riccardi und der heitere Benozzo Gozzoli, der die alten heiligen Geschichten durch die lebenswahrsten Motive und Szenerien so liebenswürdig in seine Gegenwart hereinzuziehen verstand, ähnlich wie es Eyck, Dürer und Rembrandt zu ihrer Zeit und in ihren Landen getan.

Aber einen muß ich noch nennen, der so rein, so selig die tiefste Seele bewegte, dessen Bilder Blumen gleichen, voll Duft und Glorienschein, die ein seliger Geist aus den Himmelsauen auf unsere arme Erde verpflanzt hat, um die Sehnsucht wach zu erhalten nach einer ewigen Heimat; wer kennt ihn nicht, den Beato Angelico da Fiesole? – Die Fresken, mit welchen er seine Zelle und die Korridore des berühmten Klosters S. Marco geschmückt hatte, wurden gar andächtig betrachtet und studiert, und sein Geburtsort, das Bergstädtlein Fiesole, besucht.


Nach den Uffizien ging ich womöglich täglich; auch schloß ich mich eines Tages einer Gesellschaft an, welche die Kunstschätze des von der großherzoglichen Familie bewohnten Palastes Pitti sich zeigen ließ.

In einem der fürstlichen Gemächer erblickte ich im Vorübergehen auf einem Tischchen liegend meine Radierungen: »Dresden und Umgegend«. Überrascht blieb ich stehen, sah die wohlbekannten Bilder der lieben Vaterstadt und begann, ganz von meiner Freude hingenommen, darin zu blättern. Es waren ja meine eigenen Arbeiten, und sie sahen mich hier in der Fremde, in diesem fürstlichen Hause,[135] so ganz eigen an, erinnerten mich an mein kleines Stübchen in Dresden, wo ich noch vor wenig Monden oftmals so traurig dabei gesessen, so hoffnungslos für meine künstlerische Weiterbildung, so gebannt an Arbeiten, die mich nicht fördern konnten, die nur gemacht werden mußten, um den Lebensbedarf zu erringen. Da riß mich urplötzlich eine barsche Stimme, die des Herrn Hausmeisters, aus meinen Träumen, und eine nicht allzu höfliche Zurechtweisung, die mir das Anrühren dieser Sachen untersagte, versetzte mich sehr schnell wieder in die prosaische Wirklichkeit, welcher ich indes ebenso schnell durch den Anblick einer großen, prächtigen Landschaft von Rubens und endlich gar durch Raffaels Madonna del Granduca entrückt wurde. Das übliche Trinkgeld an den Hausmeister brachte den versöhnenden Schluß in dieses Auf- und Absteigen der Gefühle.

So waren acht glückliche Tage vergangen, und die Eindrücke, welche alle diese Herrlichkeit der Kunst zurückgelassen hatte, waren ein Same, der zwar auf einen wenig vorbereiteten, aber nicht unempfänglichen Boden gefallen war. Florenz gab mir einen Segen mit auf den Weg nach Rom, den keine andere Stadt der Welt mir besser hätte geben können.

So verließ ich denn das schöne Firenze, dessen Lage und Umgebung, Bau- und Bildwerke eine ganz eigenartige Physiognomie tragen, welche ihm von einer reichen und kräftigen Vergangenheit aufgeprägt wurde, daß man es nie wieder vergißt.

Ich hatte mich hier einem Vetturin übergeben, der mich in einigen Tagen über Siena, den Trasimenischen See entlang, Rom entgegenführte.

Wir kamen zur letzten Station vor Rom, La Storta. Die bis zum Meere reichende Campagna breitete sich vor den sehnsüchtigen Blicken aus. Links traten in langer Reihe die schön geformten Sabinerberge hervor, und in der Mitte der weiten Hügelebene entdeckte das Auge die Kuppel von St. Peter, den Bau, welcher im Herzen des deutschen Vaterlandes vor dreihundert Jahren den Anlaß zur großen Kirchentrennung gab. Wie manches deutsche Künstlerherz hat hier beim ersten Erblicken dieses kleinen Punktes, welcher die Lage Roms bezeichnet, höher geschlagen, dem Ziel seiner langgehegten Wünsche.

[136] Ecco Roma! ecco San Pietro! rief der Vetturin uns zu, und nun ging es bald in rascherem Trabe durch die einsame Gegend weiter. Hier und da erhob sich ein Turm oder ein antikes Gemäuer, an welchen Hirten mit ihren Schaf- und Ziegenherden sich gelagert hatten, fast die einzige Staffage auf diesem weltgeschichtlichen Boden.

Je mehr wir uns Rom näherten, um so unruhiger, spannender wurde die Erwartung. Die Augen waren überall, und mir war, als hätte ich vieles schon im Traume gesehen, wahrscheinlich aber nur auf Bildern, Zeichnungen und Radierungen, die nun alle zur lebensvollsten Gegenwart, zur schönsten Wirklichkeit wurden. Jetzt erglänzte die Tiber; die Ponte Molle und eine Osteria am Wege glaubte ich nach J. Both einmal kopiert zu haben; die lange Strecke bis zur Porta del Popolo brachte ich den Kopf nicht mehr in den Wagen, mir schien alles so bekannt, und endlich hielt der Wagen unter dem Tore, wo die Pässe abgenommen wurden. Auf dem Platze und unter den Leuten am Tore schien eine besondere Erregung bemerkbar; auch fing man an, von den Kirchtürmen zu bimmeln und zu läuten, bis zuletzt der volle Chorus der sämtlichen Glocken Roms ein eigentümliches, wirres Gesumme hervorbrachte, welches wie eine Wolke über der Stadt schwebte, und welches schließlich von der Engelsburg mit dem Donner der Kanonen begleitet wurde. Der Torschreiber gab uns eiligst die Passierscheine, und es stand auf dem meinigen, daß »il Signor Landschaft« am 28. September einpassiert sei. Es war noch dazu mein Geburtstag, an welchem ich meinen Einzug in Rom hielt, und daß ich so feierlich empfangen wurde mit Kanonendonner und Glockengeläute, daran war eigentlich Leo XII. schuld, welcher eben von den Kardinälen auf dem Quirinal zum Papst erwählt worden war, und solches Ereignis nun der St. Petersstadt verkündete.

Quelle:
Richter, Ludwig: Lebenserinnerungen eines deutschen Malers. Berlin [1923], S. 111-137.
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