8. Das Revolutionsjahr.

[121] In den ersten Apriltagen kam ich in Prag an. Die erste Entwickelungsstufe der Revolution gehörte bereits der Vergangenheit an: die Kuß- und Umarmungsperiode, in welcher sich alle Welt verbrüderte, als ein Herz und eine Seele fühlte, jedermann sich im Geiste in ein weißes Gewand gehüllt, einen Palmenwedel in der Hand erblickte und eigentlich wunderte, daß ihm nicht über Nacht Engelflügel angewachsen waren. Die Menschen hatten sich von dem Rausche ernüchtert. Die beiden Volksstämme begannen über Rechte und Vorrechte zu streiten, die politischen Parteien gegenseitig Klage zu erheben und nach Verstärkung auszusehen. Da ich die Wonnewochen nicht miterlebt hatte, so merkte ich den plötzlichen Wechsel in der Stimmung weniger. Mein erster Gang führte mich zur Mama. Im Czermakschen Hause konnte ich leider nicht wohnen, da alle Stuben besetzt waren. Sie mietete mich ganz in der Nähe bei ihrer Schwester ein, und so blieb ich denn doch in täglichem innigen Verkehr mit ihr. Die seltene Frau, die noch immer im Glanze ernster Matronenschönheit strahlte, entzog mir ihren Rat nicht, sie billigte im ganzen mein Vorhaben,[121] nur predigte sie mir täglich Mäßigung, Gerechtigkeit und gegen die Armen Wohlwollen. Die Armen aber, meinte sie, wären die Czechen. Als ich das Kreuzherrenkloster betrat, fand ich in Smetanas Stube einen förmlichen politischen Klub versammelt. In dem ersten Taumel des Freiheitsdranges hatten mehrere junge Priester ihre Stationen verlassen und sich in das Kloster zurückbegeben, um hier den weitern Verlauf der Dinge abzuwarten. Sie waren alle des festen Glaubens, daß den Mönchsorden die letzte Stunde geschlagen habe und ihnen das Recht zum Übertritt in den weltlichen Stand unbedingt zustehe. Von den Anwesenden flößte mir ein einziger wahre Achtung ein, ein jüngerer Priester, namens Walter, ein schmucker, fest und klar blickender Mann. Er verhehlte nicht die Schwierigkeit seiner Lage, fürchtete eine falsche gemeine Auslegung seines Austrittes aus dem Orden, erklärte aber doch geradezu, daß das Beharren in der gewöhnlichen Kaplanswelt von einem wirklich gebildeten Manne jetzt nicht ertragen werden könne. Er wünschte in stiller Verborgenheit ehrlich zu arbeiten, als Schriftsteller irgendwie Unterkunft zu finden. Smetana war ganz der Alte geblieben; ihn kümmerte die politische Bewegung nur so weit, als er von ihr eine raschere Verwirklichung seiner Ideale hoffte. Er trug das Manuskript seines Systemes Tag und Nacht bei sich und glaubte die Welt erst dann aus allen Nöten gerettet, wenn er die Siegel von seinen Gedankenschätzen gelöst haben würde – der reine Apokalyptiker! Bei den andern Klerikern konnte ich nicht immer das Mißtrauen[122] gegen die wahren Beweggründe ihres Standeswechsels überwinden. Geradezu verächtlich erschien mir schon damals ein junger Kreuzherr, der sich mit Wollust in cynischen Bemerkungen über Kirche und Religion erging, dem ödesten Radikalismus huldigte, später in den Sold der reaktionären Regierung trat und schließlich im Jesuitenorden Aufnahme und freien Spielraum für sein Treiben fand (Wotka). Auch in diesem Kreise war man der Meinung, daß die liberale Partei mit den Czechen rechnen müsse. Die liberale Thätigkeit ist nur so lange wirksam und fruchtbar, als sie volkstümlich bleibt. Die breite Masse des Volkes gehört aber dem czechischen Stamme an. Die Czechen haben die meisten und stärksten Arme. Nur mit ihrer Hilfe können wir unsere politischen Ideale durchsetzen. Ähnlichen Ansichten begegnete ich auch in der Redaktionsstube des »Constitutionellen Blattes aus Böhmen.« In diesem Punkte war sie also bereits fest organisiert. Die Grundsätze waren geregelt, um so weniger, wie ich mich gar bald überzeugte, der technische Betrieb. An der Spitze der Zeitung stand ein älterer, ehrenwerter, gesinnungstüchtiger Mann, Franz Klutschak. Er war schon an zwanzig Jahre für die größte Prager Buchdruckerei, Gottlieb Haase Söhne, litterarisch thätig gewesen und hatte Kalender, allerhand Lokalblätter unterhaltenden und belehrenden Inhalts redigiert. Der lange Kampf mit der Censur hatte ihn mürbe gemacht, die Fähigkeit, rasch und bündig zu schreiben, geschwächt. Als ob er noch immer von dem Censor bedroht würde, erwog und prüfte und[123] umschrieb er mühsam jedes Wort, so daß er selten mit einem Aufsatze zu Rande kam und ihm regelmäßig die festen Knochen herauslöste. Ihm stand Dr. Ambros zur Seite, eine Autorität im Musikfache, litterarisch aber wegen seiner phantastischen Neigungen unbrauchbar. In der einen Tasche trug er Jean Paul, in der andern ein katholisches Gebetbuch und ließ sich abwechselnd von ihnen inspirieren. Übrigens war er zum Staatsanwalt bei dem Preßgericht vorgeschlagen und legte schon in den nächsten Wochen die Journalistenfeder nieder. Außerdem arbeitete in der Redaktion ein angeblicher Berliner Schriftsteller, den ich nach seiner Bildung und seinen Gewohnheiten für einen Potsdamer Schneidergesellen hielt und ein andrer zum Sammeln von lokalen Neuigkeiten, deren Notizen aber stets umgeschrieben werden mußten.

Am liebsten hätte mich Klutschak zu einem ständigen Sitze in der Redaktionsstube verpflichtet. Dazu konnte ich mich, so bereitwillig ich auch mein eifriges Mitarbeiten versprach, doch nicht entschließen. Dafür empfahl ich als Mitredakteur dringend den Kreuzherrenpriester Walter. Er stellte sich vor, gefiel und arbeitete sich wunderbar rasch in den neuen Beruf ein. Walter hat vierzig Jahre lang an Klutschaks Seite und dann selbständig das Konstitutionelle Blatt und später die Bohemia geleitet und die letztere zur angesehensten Provinzzeitung in Österreich gehoben. Für seine unantastbare Ehrenhaftigkeit spricht, daß der entlaufene Mönch niemals von der Polizei und Klerisei behelligt wurde, daß später sogar die ehemaligen Klosterbrüder[124] mit ihm, wenn auch unter gewissen Vorsichten, in Verkehr traten, und, als es sich zweimal um die Wahl eines Ordensvorstehers handelte, auf seinen Rat hörten. Als er sich dem siebzigsten Jahre näherte, traf ihn ein unheilbares Leiden. Er sah ein ödes, sieches Greisenalter vor sich und schied (1888) lieber freiwillig aus dem Leben.

Das »Constitutionelle Blatt« konnte nicht als Parteiorgan im strengern Sinne des Wortes gelten, dazu waren die politischen Verhältnisse nicht abgeklärt genug. Es hielt im allgemeinen an liberalen Grundsätzen fest, stemmte sich gegen den unreifen Radikalismus, welcher von der Wiener Aula herwehte, sprach sich aber auch gegen die ängstliche konservative Gesinnung tadelnd aus. Insbesondere suchte es zwischen den beiden Nationalitäten ausgleichend und versöhnend zu wirken. Eine kleine Gruppe von Deutschen, an deren Spitze die beiden Dichter Alfred Meißner und Moritz Hartmann standen, äußerten ihren Zorn über das Fischblut der Zeitung. Aber weder Meißner noch Hartmann waren politisch ernst zu nehmen. Sie schwärmten für republikanische Einrichtungen, hatten die Augen einzig und allein auf das Frankfurter Parlament gerichtet, spotteten über jeden Versuch, den österreichischen Staat in liberale Bahnen zu leiten und hielten den nahen Zerfall Österreichs nicht allein für wünschenswert, sondern auch für unvermeidlich. Ebenso erwies ein Teil der czechischen Politiker, welche von Deutschen- und Judenhaß sich nährten, dem Blatt die Ehre grimmiger Feindschaft. Zum Glück war damals diese Partei weder zahlreich noch mächtig. Unter den[125] politischen Wortführern der Czechen zählte man 1848 zahlreiche Staatsbeamte und gereifte Männer in praktischen Lebensstellungen. Ich erinnere nur an den spätern Reichstagspräsidenten Dr. Strobach. Phantastische, von Größenwahn eingegebene Zukunftspläne waren ihnen fremd. Sie begnügten sich mit der Forderung bestimmter politischer Rechte, welche ihnen vom liberalen Standpunkt unbedingt zugegeben werden mußten, wie namentlich den freien Gebrauch beider Landessprachen im Landtage und Stadtrate, die Verhandlungen vor Gericht in der Muttersprache der Parteien. Das czechische Staatsrecht war 1848 noch nicht erfunden und vollends der Anspruch, die czechische Sprache an Stelle der deutschen zur Staats- und Kultursprache im ganzen Lande zu erheben, nicht einmal von den ärgsten Fanatikern erdacht worden. Wenn die wenigen Fanatiker im pelzverbrämten Sammetmantel, mit einer kronenartigen Mütze auf dem dicken Schädel, oder als polnische Sensenmänner im Schnürrock und Konfederatka oder als serbische Hirten mit einem bauschigen Hemde über dem Beinkleide durch die Straßen ziehen konnten, war ihr nationaler Stolz ganz befriedigt. Das Konstitutionelle Blatt hatte kein festes Programm formuliert. Thatsächlich konnte aber als solches die Anerkennung gleicher politischer Rechte für beide Volksstämme bei festem Einstehen für die Fortdauer deutscher Bildung als des besten Bindemittels mit dem übrigen Österreich und mit dem civilisierten Europa gelten. Diesem Programm stimmte ich von ganzem Herzen zu und in diesem Sinne habe ich ein Jahr lang und darüber am Konstitutionellen[126] Blatt mitgearbeitet. Auf meinen Anteil fielen die täglichen Leitartikel und die kritischen Berichte über politische Versammlungen.

Die Februarrevolution hatte zwei Epidemieen in Europa gezeugt: das Bewaffnungsfieber und die Redewut. Beide breiteten sich auch in Prag aus. Vom buckligen Professor und lahmen Kanzleimann bis zu den Jungens im Gymnasium und in der Realschule schleppte sich jedermann mit einem schweren Säbel. Mich befiel die Krankheit nicht. Ich hatte in Tübingen über den Blödsinn des militärischen Dilettantismus genügende Erfahrungen gesammelt und kam erst nach Prag als sämtliche Corps und Legionen organisiert waren. So blieb ich denn einfacher Civilist. Als Vorwand zu dieser allgemeinen Bewaffnung diente auch hier die Furcht vor Raubzügen der Proletarier, welche aber niemals erfolgten, oder auf die lärmende Zusammenrottung von ein paar Dutzend halbwüchsigen Burschen ausliefen. Eine derbe Tracht Prügel, von kraftvollen Bürgerhänden ausgeteilt, bereitete diesem rohen und ganz ungefährlichen Treiben ein rasches Ende. Leider fanden sich nicht immer solche Hände und dann beharrte die tapfere Nationalgarde in beobachtender Stellung, bis Regen oder Ermüdung Freund und Feind nach Hause brachten.

Eine Zeitlang herrschte neben der Redewut noch die Druckwut. Jeder erwachsene Mensch, oft auch der halberwachsene, hielt sich berufen und berechtigt, seine Meinung über das Staatswohl oder was ihm sonst am Herzen lag, der Welt kundzugeben, die Zeitungen aber verpflichtet, seine[127] Leistung abzudrucken. Vergebens blieb jede Einrede. Die Antwort lautete immer: »Aber bitte, wir haben jetzt Preßfreiheit, da müssen Zeitungen alles drucken.« Erst allmählich legte sich der Schreibeifer, eingedämmt durch die Forderung von Druckgebühren. Die Redewut ließ sich nicht füglich besteuern, da half man sich durch die Versuche, sie an einzelne Regeln zu binden. Seit den Märztagen versammelten sich an hundert Männer verschiedener Stände täglich in einem Saal, um in Gegenwart zahlreicher Zuhörer ohne Mandat über allerhand nützliche und unnütze Dinge zu beschließen. Dem Landespräsidenten war diese Nebenregierung unbequem. Er entschloß sich zu einem Kompromisse, verlieh der Versammlung einen halbamtlichen Charakter, behielt sich aber den Vorsitz vor und schob eine Zahl von ihm ernannten Mitgliedern ein. So kam der sogenannte Nationalausschuß, eine Art von Vorparlament, zu stande, über dessen Thätigkeit ich täglich zu berichten hatte. Anfangs unter erschwerenden Umständen. Ich mußte im Hintergrunde des Saales, inmitten des andrängenden Publikums, meist breitschultrigen Kleinbürgern und Bauern, stundenlang stehen, hörte die Redner schlecht und sah sie gar nicht. Da bäumte sich mein Journalistenstolz auf. Ich erklärte in der Zeitung, von nun an keinen Redner mehr mit dem Namen zu bezeichnen, da ich sie wohl vom Gesichte, aber nicht vom Rücken zu kennen die Ehre hätte. Das half. Unmittelbar unter dem Präsidentensitz wurde mir ein besonderer, vollständig eingerichteter Kanzleitisch eingeräumt. Die Diener hielten mich offenbar für einen[128] kaiserlichen Kommissar und erwiesen mir größere Achtung als den sogenannten Deputierten. Auf die Dauer bot diese Wirksamkeit nichts Erfreuliches. Der parlamentarische Speisezettel war schrecklich eintönig. Täglich erschienen Vertreter der Bauernschaften, um gegen die Fortdauer der Frohnden (Robot) zu protestieren. Sie wurden in langen Reden vom Präsidententische getröstet und beschwichtigt. Dann kamen endlose Petitionen, zumeist czechischer Körperschaften und Städte, an die Reihe. Zum Schluß folgten Beratungen über Gesetzentwürfe, insbesondere über eine provisorische Landtagsordnung, welche Palazky nach bekanntem englischen Muster zusammengestellt hatte. Einen praktischen Wert besaßen die Verhandlungen natürlich nicht; die Beschlüsse widersprachen sich, empfingen eine unklare, oft ganz unbrauchbare Fassung. Um so leichteres Spiel hatte die Kritik und diese übte ich auch wacker. Mit der naiven Sicherheit und dem Übermute, welche der Jugend eigen, saß ich über Personen und Einrichtungen zu Gerichte und fällte Urteile über alle erdenklichen Fragen der Politik mit der Rücksichtslosigkeit, welche der Mangel an Erfahrung erzeugt.

Dem Nationalausschuß und meinen politischen Stilübungen bereitete der frivole Pfingstaufstand in Prag ein jähes Ende. Von dem komödienhaften Glanze des Slawenkongresses berauschte, von fanatischen Polen angestachelte, auf die Macht der Wiener Aula neidische Studenten hatten ihn mutwillig angestiftet, durch die Feigheit der Nationalgarde, welche den Anfängen des Barrikadenbaues nicht entgegenzutreten wagte, und die Kopflosigkeit der Behörden überflüssig[129] verlängert. Das Konstitutionelle Blatt stellte für eine Woche den Druck ein. Als es unter der Herrschaft der Kriegsgesetze wieder erschien, mußte es sich großer Vorsicht befleißigen, obschon ein Belagerungszustand 1848 viel duldsamer war, als das konstitutionelle Regiment in den fünfziger Jahren. Einen Nutzen schuf der Pfingstaufruhr insofern, daß sich jetzt die Aufmerksamkeit der böhmischen Politiker dem Wiener Reichstage zuwandte, der bis dahin mit schnöder Gleichgültigkeit behandelt worden war. Er wurde der Schwerpunkt der ganzen politischen Entwickelung. Die A.S.-Artikel über den Nationalausschuß scheinen trotz ihrer Mängel in weiteren Kreisen gefallen zu haben. Denn Freund Klutschak forderte mich auf, in ähnlicher Weise über den Reichstag zu berichten. Beinahe drei Monate (bis Ende September) verlebte ich in dem tumultreichen Wien, wo sich der Reichstag und die demokratischen Vereine um die Herrschaft in der öffentlichen Meinung stritten. Meine Geschäfte und auch meine Neigungen brachten es mit sich, daß ich mich um den demokratischen Verein wenig kümmerte, zumal die Vertreter der demokratischen Presse im Reichstag nicht danach angethan waren, Achtung für ihre Bildung und ihr Wissen zu wecken. Gelegenheit, diese zu prüfen, wurde ungesucht in reichem Maße geboten. Der mir angewiesene Sitz befand sich auf der linksseitigen Journalistenbühne, welche von den Plätzen der Abgeordneten nur durch eine einfache Holzbrüstung getrennt war. Die unmittelbare Nachbarschaft der halb polnischen, halb deutschen Linken lockte natürlich alle Berichterstatter der radikalen[130] Wiener Blätter auf diese Seite. Ich kam mir vor wie Saulus unter den Propheten. Vor Beginn der Sitzung tauschten sie ihre Bemerkungen über die noch nicht anwesenden Kollegen aus. Aus ihnen erfuhr ich, daß der eine Journalist früher Barbier, der andere ein Hutmachergeselle, der dritte ein Tagschreiber gewesen war. Akademische Bildung besaß kaum einer, und kam in den Verhandlungen ein Fremdwort vor, so malte sich auf ihren Gesichtern arge Verlegenheit. Als wichtigste Aufgabe des Reichstages sahen sie die Anfragen an das Ministerium, die Interpellationen, an. Wurde eine solche von einem Mitglied der Linken – und das geschah beinahe täglich – gestellt, so säumten sie nicht, ihren Beifall in lauter Weise zu äußern und die natürlich immer mißliebige Antwort des Ministers, besonders des durchaus tüchtigen, aber als Soldat verabscheuten Grafen Latour und des als Renegat gehaßten Bach mit Murren und Scharren zu begleiten. Geriet die Verhandlung in ein ruhiges Geleise, so verloren sich langsam die radikalen Journalisten, so daß ich zuweilen über die ganze Loge verfügte. »Loge« ist allerdings ein häßliches Fremdwort, aber hier doch der einzig passende Name. Denn ich kam mir in der That wie ein Theaterbesucher vor, welcher der Aufführung einer politischen Komödie beiwohnt. Solange der Reichstag in Wien tagte, konnte man ihn kaum ernst nehmen. Es gab noch keine politischen Parteien, keine festumschriebenen Programme. Die Mehrzahl der Mitglieder hatte sich bis dahin mit politischen Gedanken nicht geplagt; die wenigen politisch-sachkundigen[131] Männer sprachen gern zum Fenster heraus und sorgten vor allem für eine gute rhetorische Wirkung. Wie Schauspieler von dankbaren Rollen, sprachen sie von dankbaren Reden. Und die Zeitungskritik behandelte auch die Abgeordneten wie Schauspieler, kümmerte sich wenig um den Inhalt oder gar Gehalt der Reden, sondern lobte und tadelte allein nach Umständen die Form. Erst als der Reichstag nach Kremsier verbannt wurde, kehrte Ernst und politische Würde bei ihm ein. Doch dann hatte ich ihm schon längst den Rücken gewandt.

Mein Tagewerk in Wien, vormittags im Reichstage, nachmittags am Schreibtisch, um den Bericht vor Postschluß zu vollenden, hätte mich auf die Dauer ermüdet, wären nicht die abendlichen Zusammenkünfte mit Hans Czermak und einigen alten Studiengenossen, durchgängig Medizinern, gewesen. Wir trafen uns in der Josephstadt in irgend einem stillen Gasthause und vergaßen auf einige Stunden alle Politik.

Ende September gab ich die Stelle eines ständigen Korrespondenten auf und verließ Wien, um meine Habilitation an der Prager Universität kräftig zu betreiben. Meine Laufbahn als Korrespondent schloß leider mit einem großen, von mir übrigens ganz unfreiwillig herbeigeführten Skandal. In irgend einem czechischem Bezirke war ein gewisser Jelen zum Deputierten gewählt worden, ein leidlicher Musikant, in seiner bürgerlichen Stellung ein untergeordneter Kanzleibeamter. Der gute Mann hatte viele Kinder, großen Durst, wenig Geld – da dachte er, durch[132] ein öffentliches Konzert in Wien seine Lage zu verbessern. Der mir befreundete Präsident des Reichstages, Strobach, über diesen tollen Einfall bestürzt, kam zu mir und erbat meine Mitwirkung, um Jelen von dem Vorsatze abzuhalten. Strobach meinte, eine Notiz im Konstitutionellen Blatte, welche das Gerücht von dem Konzerte erwähnte, werde ihm die beste Waffe gegen Jelen in die Hand geben. Ich ging auf seine Bitte ein. Wenige Tage später stürzte aber Jelen auf der Journalistentribüne auf mich los, bedrohte mich mit geballten Fäusten, brüllte, ich hätte seine armen Kinder unglücklich gemacht und wurde nur mit Mühe von den anwesenden Journalisten aus dem Saale gebracht. Die Scene hatte noch ein ärgerliches Nachspiel. Die czechische Partei hatte den sonst wenig brauchbaren, aber immer dienstwilligen Jelen – er besorgte den Kollegen Wohnung, Lebensmittel, Dienstboten, gegerbte Rehhäute und noch manche andere Dinge – zum Ordner des Hauses gewählt. Er mißbrauchte das Amt, um sich an dem gesamten Journalismus zu rächen. Während die Journalisten bis dahin den Vorsaal gemeinsam mit den Deputierten benutzten, ließ Jelen in aller Hast zwei finstere, übelriechende Nottreppen errichten, von welchen man unmittelbar zu der Journalistenloge gelangte. Die Journalisten erhoben über diese Vergewaltigung einen argen Lärm und setzten einen förmlichen Strike in das Werk. Sie erzwangen schließlich zwar nicht die Rücknahme, aber doch eine Milderung der Maßregel. Ein Kumpan Jelens, der durch seine politisch-kirchlichen Wandlungen berüchtigte Helfert, hat in seiner[133] »Geschichte Österreichs seit 1848« diese Vorgänge mit andern Farben geschildert, in Wahrheit ereigneten sie sich so, wie sie hier beschrieben sind. Das Nachspiel traf mich übrigens nicht mehr in Wien.

Gleichzeitig mit mir verließ Hans Czermak Wien, um in Breslau seine Studien fortzusetzen. Ein gemeinsamer Freund, der Prosektor Dr. Langer, gab uns am Vorabend der Abreise noch ein Abschiedsfest im Universitätsgebäude, wo er seine Dienstwohnung hatte. Als wir um Mitternacht uns nach Hause begaben, herrschte in der Universität fast unheimliche Grabesstille. Die Aula war finster und leer, in der Wachtstube schnarchte die Mannschaft, selbst der Wachtposten gab sich in einer Mauerecke gesegnetem Schlafe hin. Wir hätten Waffen und Fahnen unvermerkt beseitigen können. Niemand von uns ahnte, daß das Dornröschen Aula in wenigen Tagen zu so entsetzlichem Leben erwachen werde.

In Prag war unterdessen meine Habilitation zu einem glücklichen Abschluß gekommen. Das Ministerium machte keine Einwendung, der akademische Senat verlangte nur eine Ergänzung des (in Österreich viel umfassendern) Doktoreides und den Eintritt in die philosophische Fakultät, welche in Prag noch eine feste Korporation bildete. Die Formalitäten (Austausch von Reden und Begrüßungen, Handschlag und Umarmung) waren rasch abgethan. Mitte November kündigte ich durch öffentlichen Anschlag den Beginn der Vorlesungen über die Geschichte des Revolutionszeitalters an. Es wäre klüger, für mein Fortkommen gewiß ersprießlicher gewesen, wenn ich einen ferner liegenden[134] Gegenstand gewählt hätte. Wer kam aber im Jahre 1848 weit über die Gegenwart hinaus, wer konnte sich mit Dingen, die nicht mittelbar oder unmittelbar mit der Politik zusammenhingen, beschäftigen. Dann lebte aber in mir die Erinnerung, in welcher Unwissenheit bisher die akademische Jugend in der neuern Geschichte gehalten worden war, welche bittere Scham uns erfüllte, daß uns das Völkerleben in den letzten Jahrhunderten so ganz unbekannt blieb. Dem Übelstande wollte ich in meiner jugendlichen Begeisterung abhelfen. Auf warme Teilnahme hatte ich gerechnet, daß ich aber einen so gewaltigen Erfolg mit den Vorlesungen erzielen würde, ahnte ich nicht. Sie haben mich zu einem populären Mann in Böhmen gemacht. Noch als Greis wurde ich während meiner Sommerfrische bei Bodenbach oft von Fremden, auch schon älteren Männern, begrüßt, welche sich als meine Zuhörer zu erkennen gaben, und mich durch die Recitation von ganzen Sätzen aus meinen Vorlesungen überraschten. Mit klopfendem Herzen betrat ich das Auditorium, um die (in der Bohemia abgedruckte) Antrittsrede zu halten. Die Befangenheit stieg, als ich in dem geräumigen Saale Mann an Mann, dicht gepreßt erblickte, darunter Professoren, Doktoren, angesehene Staatsbeamte, ältere Bürger. Mit zitternder Stimme begann ich den ersten Satz: »Hätte man es vor kurzer Zeit noch gewagt, den Namen der Revolution in diesen Räumen auszusprechen, ohne ihm den gräßlichsten aller Flüche nachzusenden, ohne in demselben Atemzuge beizufügen, daß die Revolution das Werk einiger Schurken und Tollhäusler[135] gewesen: ich glaube, diese Mauern hätten vor Schrecken über diesen Frevel gebebt, wären vor Entsetzen über dieses Wagnis zusammengebrochen.«

Als ich den Satz geendigt hatte, ging ein leises Rauschen durch den Saal. Ich merkte, daß ich den richtigen Ton anschlug. Mein Mut wuchs, mein Redefeuer loderte auf, meine Stimme gewann an Kraft, die Gedanken flogen mir mit stürmischer Eile zu. Ich wies darauf hin, daß für die moderne Revolution Dichter und Denker kaum eine geringere Bedeutung besitzen, als die Männer der That. Aus der Stimmung der Zeit muß man den Wortlaut des letzten Satzes beurteilen, der freilich jetzt nur in kühlerer Fassung geduldet würde: »Daß der große Kampf der Gegenwart in dem unnahbaren Gebiete des Bewußtseins ausgefochten wird, ist eine köstliche Wahrheit. Die Revolution des Bewußtseins kann nicht durch Kanonen unterdrückt, der Kampf der Geister nicht durch rohe Volksgewalt entschieden werden. Unter der Oberfläche der Seele wirken die bewegenden Ideen fort, rastlos thätig, ihre Entwickelung zu fördern, ihre Herrschaft auszubreiten; sie leben fort, mögen auch die einzelnen Träger derselben fallen. Und haben sie ihre innere Entwickelung vollendet, so sprengen sie ihre Verpuppung, wie Pallas Athene entsteigen sie geharnischt dem Haupte der Gottheit; ihr Erscheinen ist auch schon ihr Sieg; sie treten in die Welt und die Welt liegt huldigend zu ihren Füßen.« An dem mächtigen Beifall merkte ich, daß ich die Herzen der Zuhörer gewonnen, meinen Erfolg als Dozent gesichert hatte.[136]

Als ich mich am nächsten Tage in das Universitätsgebäude (Klementinum) begab, kamen mir Pedell und Studenten mit der Nachricht entgegen, daß der Saal die Zahl der Zuhörer nicht fasse, ich ein geräumigeres Auditorium aufsuchen müsse. An der Spitze der Zuhörer marschierte ich in den zweitgrößten Saal, welcher nach wenigen Minuten sich bis zum letzten Winkel mit Menschen füllte. Das nächste Mal wiederholte sich das Schauspiel. Abermals genügte der Saal nicht, abermals mußte ich in ein anderes Auditorium, das größte in der Universität, welches an fünf- bis sechshundert Menschen faßte, wandern. Freilich genügte in den folgenden Vorlesungen auch dieser Saal nicht. Doch da ein größerer nicht zu haben war, mußte ich in ihm verharren. Die Studenten halfen sich dadurch, daß sie auch den Vorplatz besetzten, die Fenster nach der Hofseite aushoben, Leitern anlegten und auf diesen oder auf den Fensterbänken reitend, mir zuhörten. Als sich der Reiz der Neuheit verloren hatte, ließ das arge Gedränge nach, dicht gefüllt blieb das Auditorium bis zum Schlusse, Ende Juni 1849.

Die begeisterte Teilnahme der Zuhörer schmeichelte meinem Ehrgeize. Minder erfreulich war das Interesse der kleinen Lokalblätter an den Vorlesungen. Sie brachten regelmäßig lange Auszüge, in welchen mir der krasseste Unsinn und die rohesten Phrasen in den Mund gelegt wurden, ohne daß meine öffentlichen Proteste beachtet wurden. Aus dieser bittern Not rettete mich einer meiner eifrigsten Zuhörer, ein angesehener Prager Verlagsbuchhändler, Friedrich Ehrlich. Er schlug mir vor, die Vorlesungen im Druck[137] herauszugeben und zwar heftweise und in kurzen Zwischenräumen, so daß eine authentische Form derselben vorläge. Es war eine harte Zumutung, wöchentlich vier Vorlesungen auszuarbeiten und unmittelbar, nachdem sie gehalten waren, ihren Druck zu besorgen. Da ich frei vortrug, so mußte ich jeden Vortrag noch am selben Abend aus dem Gedächtnis niederschreiben. Dennoch gelang es mir, wenige Wochen nach dem Schluß der Vorlesungen, den letzten Bogen in die Presse zu bringen. Ohne diesen zwingenden Anlaß hätte ich die Ausgabe des Buches nicht gewagt. Mir war wohl bekannt, daß es auf wissenschaftlichen Wert keinen Anspruch erheben könne, auf ungenügender Forschung beruhe, dem leidenschaftlichen Pathos in der Form einen ungebührlichen Einfluß einräume. Wenn ich aber verleumdet werde, daß ich giftige Stechäpfel in meinem Garten anbaue, so ist es mein Recht und meine Pflicht, von den Äpfeln, die ich in Wahrheit gepflegt habe, Proben zu liefern, mögen sie auch noch unreif sein. Das Buch ist glücklicherweise verschollen und vergessen. Sollte jemand aus Neugierde in ihm blättern, so wird er nichts Neues lernen, aber vielleicht ein gutes Stimmungsbild, wie das junge Geschlecht im Jahre 1848 dachte und zur nächsten Vergangenheit sich stellte und was sie von der Zukunft hoffte, gewinnen. In diesem Sinne bat ich auch in der Vorrede, das Buch aufzufassen.

Mit dem Schlusse der Vorlesungen über »das Revolutionszeitalter« begann für mich ein neuer Lebensabschnitt. Trotz des äußerlich glänzenden Erfolges, trotz freundlicher[138] Aufnahme auch seitens einzelner ernster Männer – Varnhagen machte Humboldt auf das Buch aufmerksam, als ein bedeutsames Zeichen der Zeit, Droysen und Prutz schrieben mir aufmunternde Worte – stand mein Entschluß fest, wieder zu meinem eigentlichen Fache, zur Kunstgeschichte, zurückzukehren. Ein Jahr hatte die Menschen und Dinge doch sehr verändert. Die Revolutionsstürme tobten nicht mehr. Eine scharfe Reaktion bereitete sich vor. Mit so großer Schuld, selbst Verbrechen die Revolution sich beladen hatte, sie mußte alles in gehäuftem Maße sühnen. Die politische Thätigkeit wich politischen Flüchen, Seufzern, leisen Hoffnungen, je nach dem Temperamente des Einzelnen, und gab nun auch unpolitischen Gedanken und Interessen einen freien Spielraum. Ehe ich aber zur Kunstgeschichte als Lehrfach mich wieder zuwandte, fühlte ich die Notwendigkeit, die unterbrochenen Studien fortzusetzen und zu einem äußern Abschluß zu bringen. Ohnehin war ich nach dem arbeitsvollen Jahre der Erholung bedürftig. So schnürte ich denn Ende August 1849 abermals mein Bündel, um die niederländischen, Pariser und englischen Galerieen und Sammlungen eingehend kennen zu lernen.[139]

Quelle:
Springer, Anton: Aus meinem Leben. Berlin 1892, S. 121-140.
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