90.

Schön ist die Rose; – aber

Nichts Schön'res kennt die Welt,

Als einen vollen Becher,

Wenn deine Hand ihn hält.

Die Zeit benützend, trinke

Du Wein im Rosenhain:

Wird doch in nächster Woche

Die Rose nicht mehr sein.

Geniesse, o geniesse

Was froh die Zeit dir beut:

Nicht immer liegen Perlen

In Muscheln, so wie heut.

Es ist der Pfad der Liebe

Ein wunderbarer Pfad,

Wo stolz das Haupt erhebet

Wer, ach, kein Haupt mehr hat.

Vertilge alle Blätter,

Wenn du mein Schulfreund heisst,

Weil in der Kunst der Liebe

Kein Buch dich unterweist.

Vernimm was ich dir sage:

Ein Liebchen wähle dir,

Das nicht die eig'nen Reize

Geknüpft an Schmuck und Zier.

O komm in meinen Keller,

Und trinke, alter Mann,

Wein, wie ihn dir die Quelle

Kjĕwsēr nicht bieten kann.

Du, der du mit Rubinen

Gefüllt das gold'ne Glas,

Erbarme dich des Mannes,

Der niemals Gold besass![535]

O Herr, gib mir vom Weine,

Der keinen Rausch erzeugt

Und der, gepaart mit Schmerzen,

Mir nicht zu Kopfe steigt!

Ich habe einen Götzen:

Sein Leib ist silberrein

Und in Asēr's Pagode

Mag wohl kein Gleicher sein.

Aus ganzer Seele diene

Owēïs, dem Sultan, ich,

Obwohl des treuen Knechtes

Er nicht erinnert sich;

Ich schwör's bei seiner Krone,

Der weiten Erde Zier,

Das Diadem der Sonne,

Weicht an Gefunkel ihr!

Hafisens Lied zu tadeln

Ist Jener nur geneigt,

In dessen eig'nem Wesen

Sich nichts von Anmuth zeigt.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 533-537.
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