XII

[260] In der tiefsten Bewegung las Alexander diese Zeilen. Dann, in seine Loge zurückkehrend, und versunken in das Meer der vielfach in ihm aufgeregten Gefühle sich in einem Winkel derselben niedersetzend, ging das Geräusch um ihn her ihm verloren; denn es vermochte nicht seinen inneren Sinn zu berühren, da seine ganze Seele sich in den Gedanken an Erna und in ihren Anblick versenkt hatte.

Da saß sie ihm gegenüber, ruhig, streng, mit Würde sich behauptend, und in dem so leise athmenden Busen nagte verheerend jede Lebenskraft, der Wurm der Hoffnungslosigkeit, der Reue, der umsonst bekämpften Liebe.

So wenigstens erklärte er sich den Geist ihres Briefs, der zugleich ihr Gemüth ihm aufschloß.[260] Schon hienieden durch tausend Schmerzensstunden zum fleckenlosen Engel verklärt, konnte er sie nicht ohne einen leisen, aber jedes Gefühl veredelnden Schauer betrachten, und doch sprach seine Sehnsucht glühender wie jemals, und die Welt schien ohne sie ihm ein weites Grab.

In ihrem Anschauen vertieft, das selbst bei dem Erbleichen ihrer sonst so strahlenden Schönheit durch den magischen Geist so anziehend war, der tief, doch still aus dem Innersten ins Innerste drang, überraschte es ihn, plötzlich mitten in der Vorstellung die Thüre ihrer Loge öffnen und ihr ein Billet überreichen zu sehen, das offenbar eine große Sensation bewirkte.

Erna hatte es nämlich kaum gelesen, als sie aufstand, einige Worte zu ihren Nachbarinnen sprach und dann in ihren Shawl sich hüllend verschwand.

Welche Ungeduld brannte in Alexander's Seele, ehe er erfuhr, ob eine Sendung trauriger oder gleichgültiger Art sie abgerufen. Waren ihre Kinder vielleicht plötzlich erkrankt? – Aber nein – dann würde die Ruhe, mit der sie schied, ihr nicht treu geblieben seyn; denn in der Mutterliebe verrieth ihr fest beherrschtes Wesen ja einzig, daß sie auch durch leidenschaftliche Hingebung an das Leben geknüpft sei.

Sobald es mit einiger Schicklichkeit geschehen[261] konnte, ohne sich allzusehr das Ansehen einer unberufenen Neugierde zu geben, trat Alexander in den Kreis, der mit ihrer Entfernung allen seinen Zauber verloren hatte, und indem er, den vor Augen gehabten Vorgang ignorirend, sich an die Gräfin wandte, fragte er, ob Frau von Linovsky vielleicht nicht wohl geworden sei, da er sie nicht mehr an ihrer Seite erblicke.

Ach nein, versetzte diese lächelnd, ihr ist ganz wohl, und ich kann mich unmöglich überwinden, das, was ihr begegnet ist, zu den Unannehmlichkeiten zu zählen, die uns zuweilen die üble Laune des Schicksals bietet. Ihr Herr und Gemahl benachrichtigte sie in einem Billet von der Ankunft eines Courriers, der ihn von Seiten seines Souverains nach **** zum Congreß bescheidet, und schon diese Nacht auf unbestimmte Zeit abzureisen zwingt. Um daher noch der Ehegenossin die gehörigen Verhaltungsregeln vorzuschreiben, vielleicht ihren Kerker noch enger zu umgränzen, als da, wo sein Despotenauge seine Schranken bewacht, berief er sie schnurstracks nach Hause. Ich wünsche ihm im Geiste eine glückliche Reise, und hoffe, man werde die gleichsam bisher von einem Drachen bewachte Dulderin nun endlich einmal in seiner Abwesenheit genießen dürfen.

Diese Nachricht that Alexandern wohl; denn[262] nicht ohne bitteren Neid und Groll vermochte er auf Erna's reinem Hausaltare Linovsky'n als den Götzen zu erblicken, der jedes Opfer der Aufmerksamkeit und Unterwürfigkeit als ein Recht foderte, oder als eine Pflicht in Anspruch nahm.

Er verließ das Schauspielhaus; denn dunkle Entwürfe, Pläne und Träume drängten sich in ihm, und winkten ihn aus den Disharmonieen, die jetzt selbst der Wohllaut für ihn bildete, hinaus in die Einsamkeit des nächtlichen Dunkels. Er rannte, ohne sich selbst klar bewußt zu seyn, was eigentlich in ihm vorging, durch einige Straßen, und blieb vor dem Hause stehen, in welchem Linovsky's diplomatisches Büreau sich befand.

Alles war hell erleuchtet, und drinnen in der größten Thätigkeit begriffen. Ob diese Mauern auch sie umschlossen – er wußte es nicht – aber eine ganz eigene Gewalt hielt ihn fest, und er blieb gegenüber in einer Vertiefung stehen, um die Dinge, die da kommen sollten, abzuwarten.

Da wurde der Reisewagen herausgeschoben. Daß du ihn nimmer zurückbringen möchtest! war der christliche Wunsch, mit welchem Alexander ihn begrüßte, und mit einer unbeschreiblichen inneren Genugthuung sah er die schweren Koffer hinaufheben, die dem Anschein nach die Bürgschaft einer langen Entfernung übernahmen.

Jetzt fuhr auch Erna's Wagen vor. Kutscher[263] und Bediente, ihre Herrschaft erwartend, unterhielten sich von den neuesten Begebenheiten, und flüsterten einander unverhohlen die Freude zu, nun eine Zeitlang des strengen Regiments ihres Haustyrannen entrückt, und der milden Obhut der gnädigen Frau übergeben zu werden.

Es machte ihm Vergnügen, Linovsky'n auch hier nicht geliebt zu sehen; denn gern hätte er die an Haß gränzende Abneigung, die er selbst gegen ihn empfand, in jeder anderen menschlichen Brust als ein Echo seiner eigenen Gesinnung angetroffen. Endlich, nach langem Zögern, öffnete sich die Hausthür. Erna, von ihrem Gemahl begleitet, trat heraus. Die letzten Worte des Abschieds, die er zu ihr sprach, klangen fast wie Verweise oder Befehle. Sie erwiederte wenig. Nur unmerklich neigte sie sich dem Kuß entgegen, mit dem er sein Lebewohl begleitete. Das Geräusch der kommenden Postpferde verschlang den Rest der Unterhaltung – sie stieg ein – und es war Alexandern, als falle ein Centner von seiner Brust, als er durch die sternenhelle Nacht sie dahinfahren sah.[264]

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 260-265.
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