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[209] Weniger klar ließ sich erkennen, was sie als Gattin war – oder vielleicht raubten ihm die Leidenschaften, die stets in ihm in Bewegung geriethen, wenn er sie von dieser Seite betrachtete, die nöthige Unbefangenheit des Urtheils, um sie in einer Beziehung zu durchschauen, welche ihm die schmerzlichste von allen war.

Sie begegnete Linovsky mit einer Achtung, die sich durch ein immerwährendes Bestreben, seine Zufriedenheit zu erlangen, ausdrückte. Aber wenn diese auch offenbar das höchste Ziel ihrer Wünsche schien, so mischte sich doch kein gleichsam unwillkührlich entschlüpftes Zeichen eines innig liebend ihm zugewandten Gefühls in die gefällige Milde und Aufmerksamkeit, mit der sie, ihn als ihren Herrn und Gebieter ehrend, sich ganz nach seinen Winken und Willen richtete.

Zog sie wirklich aus der verhängnisvollen Urne des Schicksals, oder vielmehr aus eigner Wahl ein Loos nach ihrem Herzen, so mußte Ruhe, fast möcht er sagen Kälte, der Grundton ihres Wesens seyn, das fern von aller Exaltation einer leidenschaftlichen Gluth sich nur innerhalb der Gränzlinie gemäßigter Empfindung regte. Ihre Vernunft, so wie ihre Pflicht unterwarfen sie Linovsky unbedingt, und sich ihm ganz unterordnend,[209] war er ihr in der Würde des Hausvaters stets die erste Instanz, die über ihre Handlungen entschied – aber als Gemahl und Vater ihrer Kinder genoß er – oder verbarg sie ihm aus Schonung die Aeußerungen einer wärmeren Gesinnung? – nur jenes allgemeine, freundliche Wohlwollen, das ihre reine Seele für alles beseelte, was sie umgab.

Ob sie nun ihren Mann wirklich liebe, und ob überall in die reiche Mitgift, die sie von der Natur empfangen, auch die Fähigkeit mit einbegriffen sei, mit ganzer, voller, glühender Seele lieben zu können – er wußte es nicht – aber das fühlte er bestimmt, ihn würde als Erna's oft beneideter Gatte dies an sich verdienstliche Streben nach Pflichterfüllung, ohne jenen Grad der Herzenswärme, der die eigentliche Weihe eines liebenden Bundes ist, nicht befriedigt haben.

Dem Anschein nach eine glückliche Frau, geehrt, geliebt von einem allgemein geachteten Manne, dessen bedeutender Rang (er war Nachfolger des *schen Gesandten geworden) ihr eine ausgezeichnete Stelle im bürgerlichen Leben anwies, dessen eigenes Vermögen, verbunden mit dem ihrigen, alle Sorgen des Lebens wie mit goldenem Zauberstab verbannte – rings um sich eine paradiesische Umgebung, als Mutter zweier, wie aus einer Schaar von Engeln entlehnter[210] Kinder, und an Augusten eine Freundin habend, die im verjährten Besitz ihres vollen Vertrauens mit fast mütterlicher Liebe an ihr hing, und als Hausgenossin ihr stets zur Seite war – jung und schön, und überall gefeiert – was konnte ihr zu wünschen übrig bleiben?

Und doch mischte sich zuweilen der Schatten einer rührenden Schwermuth in die sanft gemäßigte Heiterkeit ihres Wesens, nie in eine Klage ausbrechend, aber doch im stillen Sinnen, im feucht verklärten Schimmer des umwölkten Auges, im leisen Seufzer sich verrathend, der ihren Busen hob.

Sie schien in solchen Momenten der Erde, auf der sie wandelte, nicht mehr zu gehören, und scheuchte sie dann ein Geräusch, eine plötzliche Anrede, oder sonst irgend ein Anspruch des Lebens aus den Träumen empor, in die sie nur allzugern versank, so bedurft' es eines Augenblicks, ehe sie sich wieder fand, und der weichere Ton ihrer Stimme, das Bittende ihres Blicks, die verdoppelte freundlich sich aufopfernde Milde ihres Benehmens flehte gleichsam um Vergebung, daß ihr Geist schon losgerissen von allen irrdischen Banden, in unbekannte Regionen sich verloren hatte.

Auguste, welche am Tage seiner Ankunft abwesend gewesen war, schien Alexandern, so wie[211] er ihr, ein feindseliges Andenken bewahrt zu haben. Da der Familienkreis sich sehr oft theilnehmend um sein Schmerzenslager versammelte, und man sich bemühte, die Pflichten der Gastfreiheit in ihrem ganzen Umfang zu erfüllen, so konnte auch sie sich nicht ausschließen. Doch ihr streng fortdauernder Ernst, ihm gegenüber, wurde durch kein Zeichen irgend eines wohlwollenden Antheils gemildert, und auch er bemerkte, ohne sich weiter um sie zu bekümmern, mit einem stummen Vergnügen, das fast der Schadenfreude glich, die Verwüstungen, die der Zahn der Zeit während der Jahre, seitdem er sie nicht gesehen, in ihrer früher schon verblühten Gestalt hervorgebracht hatte.

Endlich, nach mehreren Tagen, erlaubte ihm der Arzt, wieder in die Luft zu gehen, und sich hinaussehnend in den frischen duftigen Sommermorgen, benutzte Alexander auf der Stelle diese Erweiterung der ihm bisher so eng gezogenen Gränzlinie seines Verhaltens.

Langsam wandelte er auf Benedikt gestützt (denn er fühlte sich sehr matt) im Garten umher, bis die süßen Töne eines einfachen Liedes, das Erna ohne alle Begleitung sang, ihn – um keinen Laut desselben zu verlieren – dem Hause wieder näherte.

Die nach dem Garten gehenden Fenster waren[212] durch Rebengewinde halb verschleiert. Eins derselben stand offen – aus ihm drang der himmlische Wohllaut, der durch das Ohr geradezu den Weg zu seiner Seele fand. Leise schlich er heran, um unbemerkt die Sängerin zu hören, vielleicht gar sie zu sehen. Aber wie theuer büßte er dies Verlangen!

Versteckt vom dunkeln Grün der Weinranken erreichte sie allerdings sein suchendes Auge, aber in einer Situation, die, alle seine Gefühle stürmisch aufregend, ihn in einen Abgrund voller Flammen stieß.

Sie befand sich in ihrem Schlafgemach. Im nachläßigen Morgenkleide, das sich wie eine Hülle frisch gefallenen Schnees um sie anschmiegte, jede Form verrathend, ohne jedoch die zarteste Sittsamkeit zu beleidigen, das schöne Haar noch ungeordnet, in langen Locken sie umwallend, hielt sie den Säugling auf ihrem mütterlichen Schooße, ihm die Nahrung zu reichen, auf welche der Mensch durch den Wink der Natur in der Schöpfung des Weibes eine so heilige Anweisung erhalten hat. Lächelnd ließ oft der Kleine den blendenden Busen los, um mit den großen braunen, Erna so nah verwandten Augen zu ihr aufzublicken und ihren Tönen zu lauschen. Wenn sie dann das Haupt zu ihm herab bog, und ein Kuß der heiligsten Mutterliebe ihren Gesang[213] unterbrach, faßte er die süße Quelle seiner Labung wieder, und erneuerte abwechselnd mit ihr dies kosende Spiel, von welchem Erna nicht ahnete, daß ein fremder Zeuge es beobachten könne.

Nachdem sie verschiedene Melodieen, theils innig mit dem Kinde ihres Herzens beschäftigt, theils sicht bar sich in das Gebiet ernster und tiefer Gedanken verlierend, leise vor sich hingesungen hatte, ging sie auf einmal in die über, die wie ein Schwert der schärfsten Erinnerung in Alexanders Seele schnitt:


Doux enfant Jesus! sang sie,

Donne moi le Saint Esprit

Et toutes les vertus

De ta mère Marie, Marie, Marie!


Ach, welche versunkene Welt, damals, als er zuerst diesen einfachen Gesang von ihr vernahm, noch voll blühender Hoffnungen, und jetzt so verödet, that sich von Neuem vor ihm auf, den bittersten Schmerz als Echo dieses Liedes weckend! –

Er konnte nicht länger bleiben – sein laut klopfendes Herz würde ihr seine Gegenwart verrathen, der Sturm der wildesten Gefühle in ihm ihn zu irgend einer Raserei hingerissen haben. Seltsam stritten sich die feindseligsten Empfindungen in ihm mit der weichen Wehmuth seines Busens. Er haßte, er verabscheute sie – und in demselben Augenblick war er sich doch am hellsten[214] der unauslöschlichen Liebe bewußt, die siegreich ihre Macht an ihn bewährte, und die, wie er klar erkannte, kein Verhältnis jemals zu vertilgen im Stande sei. Wie dem in Todesgefahr Kämpfenden ein dunkler Instinct oft den Weg zur Rettung zeigt, so rief es laut in ihm: Fort – fort aus diesem Zauberkreise – fort, sobald als möglich!

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 209-215.
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