Der Angriff

[226] Aus der absoluten Nüchternheit heraus angeblich scheinbar ideal geordneter Lebens-Verhältnisse kann man naturgemäß eigentlich nichts schreiben, was für den in irgendeiner Sphäre seines Daseins darbenden oder irregeleiteten Menschen von Wichtigkeit wäre. Nur der durch irgend[226] etwas exzeptionell angeregte, aus seinem gewöhnlichen Dasein plötzlich Aufgerüttelte, nur der plötzlich düstere Kerkermauern bisheriger verbrecherischer Lebenslügen durchbrechende, vernichtende, wegräumende Geist kann den Anderen, den sogenannten Mit-Menschen noch behilflich sein, sich selbst allmählich zu regenerieren! Danton, Marat, Robespierre waren Untiere der sozialen Entwicklung. Von außen hinein, vermittelst der Guillotine geht es eben leider nicht. Sondern nur vermittelst Geist und Seele!

Wenn ich von dem Herrn Landesgerichtsrate A.P. gar nichts anderes wüßte, als daß er den Ausspruch getan hat: »Diese allerdings unleugbar Schwerverbrecher sind mir privatim doch noch immer tausendmal interessanter, merkwürdiger, ja sogar fast menschlicher erklärbar als mein Freund L.v.K.«, so wüßte ich bereits, daß es ein grobes Versäumnis, eine Ungeschicklichkeit meinerseits war seinerzeit, nicht à tout prix mit ihm befreundet zu werden! Um in meinem Berufe als Mensch zuzulernen!


*


Jene wenigen Mädchen, die in diesen schweren Tagen, Juni 1918, meines allertiefsten Lebens-Überdrusses, sich mir zeitlich und örtlich dankbar-liebevoll widmen, tun es ja nur für die Entwicklung ihrer eigenen Seele! Amen.

Die Liebe meines Bruders Georg bin ich. Woher hätte er sie denn ohne mich?!

Ich verantworte diesen Ausspruch, seine zärtliche Angst um mich hat keine Grenzen. Er ist ein »pathologischer« Frauen-Verächter, obzwar er sie[227] fast als »vergiftende Angriffsobjekte seiner Psyche« braucht, als Objekte für seine gerechte »objektive Betrachtung«! Wie wenn ein berühmter »Schlangenbändiger« seine Schlangen verachtete und dennoch sie dringendst für sein Leben brauchte! Niemand wird Schlangen liebhaben, aber Manche können sie für ihr Leben brauchen und richtig ausnützen. So mein Bruder. Bei mir also ruht sich seine enttäuschte gutmütigste Seele aus in »brüderlicher übertriebener, vielleicht noch niemals dagewesener, ängstlicher, ja oft sogar fast störender Zärtlichkeit!« Aber welche »seelische Zärtlichkeit aus den tiefsten Tiefen unserer Herzen« wäre auf die Dauer nicht störend und eigentlich belastend?!? Wir sind nun einmal so perfid veranlagt!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 226-228.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Lebensabend
Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]