Energie

[278] Es gibt, unter Millionen, Menschen, die keine »Energie fürs Leben selbst« haben, direkt sich zu betätigen. Die flüchten dann, eigentlich entsetzt-ünfähig-verloren über sich selbst, falls sie Echte sind, in das »Reich der Kunst«. Zum Sehen, Hören, Empfinden, Leiden, Mit-fühlen, objektiv Beobachten, gehört nämlich keinerlei Energie, wenn man nur seine eigenen vom Schicksal gesetzten oder gezogenen[278] Grenzen nicht ununterbrochen »mit-Energie-Aufwand« zu überschreiten, zu überspringen sich bemüht! Der »echte« Künstler konzentriert seine sämtlichen »vitalen Energien« auf Denken, Fühlen, Sehen, Hören, und erschöpft auf diese etwas merkwürdige ex-zentrische Weise den Überschuß seiner »Lebensenergien«, die ja durch das Leben selbst (außer man ist wirklich organisch erkrankt; da verzehrt sich leider sogleich jeder Überschuß in sich selbst, um das erkrankte Organ noch hilfbereit zu erretten) stündlich, täglich, unbewußt bereitet werden! Es ist eine Art von Erlösung von unbewußten geistig-seelischen Potenzen, die den »echten« Künstler ununterbrochen zur Erlösung in »künstlerischen Betätigungen« antreibt, um die überschüssige »physiologische Spannkraft« seiner Nerven los zu werden, die er auf andere, bequemere Art eben nicht leider Gott sei Dank los wird!

Eine etwas abstruse, noch nie dagewesene oder vielmehr derart dezidiert ausgesprochene Erkenntnis, daß der »echte« Künstler von den mysteriösen Funktionen seiner »physiologischen« Lebens-Maschinerie allein abhänge, falls er von Schicksals Gnaden aus das sogenannte Talent noch dazu gegen seinen Willen mitbekommen habe! Von »äußerlicher usueller Lebens-Energie« aus läßt sich eben nichts wirklich echt richten, sondern nur von »überschüssigen, inneren, mysteriösen Lebens-Energien«!

Der »gewöhnliche Mensch« ist Das, was er leistet. Aber der echte Künstler ist Das, was er nicht leisten kann – – – als gewöhnlicher Mensch! Es steigt ihm ewig zu Kopf, zur Seele!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 278-279.
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