Gespräch, 9./6. 1918, 10 Uhr abends

[279] Ich lag bereits im Bett, von schauerlichen Lebens-Melancholien zerstört, nein, direkt angefressen. Das Gehirn wird durch trübe Gedanken (bei mir ausschließlich finanzieller Natur) angefressen. Man kann nicht mehr dagegen ankämpfen, denn die Waffe, das richtige hoffnungsvolle oder still ergebene Denken und Empfinden ist uns eben abhanden gekommen, mit Der wir uns sonst zu wehren haben! Wir sind verfallen, unserem eigenen Elend in uns selbst! Fast rettungslos. Nein, rettungslos.

Da trat das strohgelbe Stubenmädchen vom zweiten Stocke bei mir ein.

»Josephine, Sie, die seit Jahren von mir für irgendeine Dienstleistung kein Trinkgeld absichtlich annehmen, obzwar Sie nicht zu meinem vierten Stock gehören, wie geht es Ihnen?!?«

»Mein verehrter Herr Dichter, ich bin jetzt 40 Jahre alt, ledig, der Sommer strömt bereits durch die geöffneten Fenster der schmalen Hotelgänge herein, und ich habe ein wenig Aussicht doch noch zu heiraten!«

»Josephine, Sie wollten niemals von einem alten, armen, kranken Dichter Trinkgelder annehmen! Die Stunde ist endlich gekommen, die heilige Stunde, da ich als Mensch und Dichter Ihnen Gegendienst leisten kann. Ich warne Sie vor Dem, der ein armes 40jähriges, nicht mehr hübsches, vom Leben zertretenes Stubenmädchen angeblich heiraten will! Ihre Ersparnisse locken ihn, Ihre mühselig durch viele Jahre angesammelten armseligen Ersparnisse, und Sie gehen einem schauerlichen Schicksale entgegen! Bleiben Sie, Josephine, in Ihren, der trostlosen[280] Arbeit und Aussichtslosigkeit geweihten, düsteren, schmalen Hotelgängen, in Die die laue Sommerluft bereits hereinströmt, und Sie werden dennoch glücklicher leben als mit dieser für Sie unsagbar gefährlichen Hoffnung, die ganz nahe dem Selbstmorde oder sogar dem Morde sich befindet!«

»Mein verehrter Herr Dichter, mein Erretter, mein Erlöser! Ich habe Das immer dumpf geahnt, aber die ›innere Stimme‹ war viel zu schwach. Sie tönen mir wie eine Glocke, die mich machtvoll und bezwingend zu meinem bisherigen Leben zurückgebietet!«

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 279-281.
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