Fünfte Geschichte.

[298] Das kleine Räubermädchen.


Sie fuhren durch den dunkeln Wald, aber die Kutsche leuchtete gleich einer Fackel. Das stach den Räubern in die Augen, das konnten sie nicht ertragen.

»Das ist Gold! das ist Gold!« riefen sie, stürzten hervor, ergriffen die Pferde, schlugen die kleinen Vorreiter, den Kutscher und die Diener tot, und zogen nun das kleine Gretchen aus dem Wagen.

»Sie ist fett, sie ist niedlich, sie ist mit Nußkernen gefüttert!« sagte das alte Räuberweib, die einen struppigen Bart und Augenbrauen hatte, die ihr über die Augen herabhingen.

»Das ist so gut wie ein kleines, fettes Lamm! Na, wie soll die schmecken!« und dann zog sie ihr blankes Messer heraus und das glänzte, daß es greulich war.

»Au!« sagte das Weib zu gleicher Zeit, denn sie wurde von ihrer eigenen Tochter, die auf ihrem Rücken hing, so wild und unartig, daß es eine Lust war, in das Ohr gebissen. »Du häßlicher Balg!« sagte die Mutter, und kam nicht dazu, Gretchen zu schlachten.

»Sie soll mit mir spielen!« sagte das kleine Räubermädchen.

»Sie soll mir ihren Muff, ihr hübsches Kleid geben, bei mir in meinem Bett schlafen!« und dabei biß sie wieder, daß das Räuberweib in die Höhe sprang und sich rings herumdrehte, und alle Räuber lachten und sagten: »Sieh, wie sie mit ihrem Jungen tanzt!«

»Ich will in den Wagen hinein!« und sie mußte und wollte ihren Willen haben, denn sie war verzogen und hartnäckig. Sie und Gretchen saßen darinnen und so fuhren sie über Stock und Stein tiefer in den Wald hinein. Das kleine Räubermädchen war so groß wie Gretchen, aber stärker, breitschultriger und von dunkler Haut. Die Augen waren ganz[299] schwarz, sie sahen fast traurig aus. Sie nahm das kleine Gretchen um den Leib und sagte: »Sie sollen Dich nicht schlachten, so lange ich Dir nicht böse werde! Du bist wohl eine Prinzessin?«

»Nein!« sagte Gretchen, und erzählte ihr alles, was sie erlebt hatte, und wieviel sie vom kleinen Karl hielt.

Das Räubermädchen betrachtete sie ganz ernsthaft, nickte ein wenig mit dem Kopfe und sagte: »Sie sollen Dich nicht schlachten, selbst wenn ich Dir böse werde, dann werde ich es schon selbst thun!« und dann trocknete sie Gretchens Augen und steckte ihre beiden Hände in den schönen Muff, der weich und warm war.

Nun hielt die Kutsche still; sie waren mitten auf dem Hofe eines Räuberschlosses, das von oben bis unten auseinander geborsten war. Raben und Krähen flogen aus den offenen Löchern, und die großen Bullenbeißer, von denen ein jeder aussah, als könne er einen Menschen verschlingen, sprangen hoch empor, aber sie bellten nicht, denn das war verboten.

In dem großen, alten, verräucherten Saale brannte mitten auf dem steinernen Fußboden ein großes Feuer; der Rauch zog unter der Decke hin und mußte sich selbst den Ausweg suchen; ein großer Braukessel mit Suppe kochte, und sowohl Hasen als Kaninchen wurden an Spießen gebraten.

»Du sollst diese Nacht mit mir bei allen meinen kleinen Tieren schlafen!« sagte das Räubermädchen. Sie bekamen zu essen und zu trinken und gingen dann nach einer Ecke, wo Stroh und Teppiche lagen. Oben darüber saßen auf Latten und Stäben mehr als hundert Tauben, die alle zu schlafen schienen, sich aber doch ein wenig drehten, als die beiden kleinen Mädchen kamen.

»Die gehören mir alle!« sagte das kleine Räubermädchen, und ergriff eine der nächsten, hielt sie bei den Füßen und schüttelte sie, daß sie mit den Flügeln schlug. »Küsse sie!« rief[300] sie, und schlug sie ihr ins Gesicht. »Da sitzen die Waldtauben!« fuhr sie fort, und zeigte hinter eine Anzahl Stäbe, die vor einem Loche oben in die Mauer eingeschlagen waren. »Das sind Waldtauben, die beiden, die fliegen gleich fort, wenn man sie nicht ordentlich eingeschlossen hält; und hier steht mein alter, liebster Bä!« und damit zog sie ein Renntier am Horn, welches einen kupfernen Ring um den Hals trug und gebunden war. »Den müssen wir auch in der Klemme halten, sonst springt er von uns fort. An jedem Abend kitzele ich ihn mit meinem scharfen Messer, davor fürchtet er sich!« Und das kleine Mädchen zog ein langes Messer aus einer Spalte in der Mauer und ließ es über des Renntiers Hals hingleiten. Das arme Tier schlug mit den Beinen aus, aber das kleine Räubermädchen lachte und zog dann Gretchen mit in das Bett hinein.

»Willst Du das Messer behalten, wenn Du schläfst?« fragte Gretchen und blickte etwas furchtsam nach demselben.

»Ich schlafe immer mit dem Messer!« sagte das kleine Räubermädchen. »Man weiß nie, was vorfallen kann. Aber erzähle mir nun wieder, was Du mir vorhin von dem kleinen Karl erzähltest, und weshalb Du in die weite Welt hinausgegangen bist.« Gretchen erzählte wieder von vorn an, und die Waldtauben knurrten oben im Käfig und die andern Tauben schliefen. Das kleine Räubermädchen legte ihren Arm um Gretchens Hals, hielt das Messer in der andern Hand und schlief, daß man es hören konnte, aber Gretchen konnte ihre Augen nicht schließen, sie wußte nicht, ob sie leben oder sterben würde. Die Räuber saßen rings um das Feuer, sangen und tranken, und das Räuberweib schoß Purzelbäume. O, es war ganz greulich für das kleine Mädchen mit anzusehen.

Da sagten die Waldtauben: »Kurre, kurre! wir haben den kleinen Karl gesehen. Ein weißes Huhn trug seinen Schlitten, er saß im Wagen der Schneekönigin, welche dicht über den Wald hinfuhr, als wir im Neste lagen; sie blies auf uns Junge, und außer uns beiden starben alle; kurre! kurre!«[301]

»Was sagt Ihr dort oben?« rief Gretchen. »Wohin reiste die Schneekönigin? Wißt Ihr etwas davon?«

»Sie reiste wahrscheinlich nach Lappland, denn dort ist immer Schnee und Eis! Frage das Renntier, welches am Strick angebunden steht.«

»Dort ist Eis und Schnee, dort ist es herrlich und gut!« sagte das Renntier; »dort springt man frei umher in den großen glänzenden Thälern; dort hat die Schneekönigin ihr Sommerzelt, aber ihr festes Schloß hat sie droben gegen den Nordpol, auf der Insel, die Spitzbergen genannt wird!«

»O Karl, kleiner Karl!« seufzte Gretchen.

»Nun mußt Du still liegen,« sagte das Räubermädchen, »sonst stoße ich Dir das Messer in den Leib!«

Am andern Morgen erzählte Gretchen ihr alles, was die Waldtauben gesagt hatten, und das Räubermädchen sah ganz ernsthaft aus, nickte aber mit dem Kopf und sagte: »Das ist einerlei, das ist einerlei! – Weißt Du, wo Lappland ist?« fragte sie das Renntier.

»Wer könnte es wohl besser wissen, als ich!« sagte das Tier, und die Augen funkelten ihm im Kopfe. »Dort bin ich geboren und erzogen, dort bin ich auf den Schneefeldern herumgesprungen.«

»Höre!« sagte das Räubermädchen zu Gretchen, »Du siehst, alle unsere Mannsleute sind fort, jedoch die Mutter ist noch hier und sie bleibt zu Hause. Gegen Mittag aber trinkt sie aus der großen Flasche und schlummert dann ein wenig darauf; – dann werde ich etwas für Dich thun!« Nun sprang sie aus dem Bett, fuhr der Mutter um den Hals, zog sie am Knebelbart und sagte: »Mein einzig lieber Ziegenbock, guten Morgen!« Die Mutter gab ihr Nasenstüber, daß die Nase rot und blau wurde, aber alles aus lauter Liebe.

Als die Mutter dann aus der Flasche getrunken hatte und darauf einschlief, ging das Räubermädchen zum Renntier hin und sagte: »Ich könnte große Freude davon haben, Dich noch[302] manchesmal mit dem scharfen Messer zu kitzeln, denn dann bist Du so possierlich; aber das ist einerlei, ich will Deine Schnur lösen und Dir hinaushelfen, damit Du nach Lappland laufen kannst. Du mußt aber tüchtig springen und dieses kleine Mädchen zum Schloß der Schneekönigin bringen, wo ihr Spielkamerad ist. Du hast wohl gehört, was sie erzählte, denn sie sprach laut genug und Du lauschtest.«

Das Renntier sprang vor Freude hoch empor. Das Räubermädchen hob das kleine Gretchen hinauf und hatte die Vorsicht, sie fest zu binden, ja sogar ihr ein kleines Kissen zum Sitzen zu geben. »Das ist einerlei,« sagte sie, »da hast Du Deine Pelzschuhe, denn es wird kalt, aber den Muff behalte ich, der ist gar zu niedlich! Darum sollst Du doch nicht frieren. Hier hast Du meiner Mutter große Fausthandschuhe, die reichen Dir gerade bis zum Ellenbogen hinauf; ziehe sie an! – Nun siehst Du an den Händen gerade wie meine häßliche Mutter aus!«

Gretchen weinte vor Freude.

»Ich kann nicht leiden, daß Du weinst!« sagte das kleine Räubermädchen. »Nun mußt Du gerade recht froh aussehen; und da hast Du zwei Brote und einen Schinken, dann wirst Du nicht hungern.« Beides wurde hinten auf das Renntier gebunden; das kleine Räubermädchen öffnete die Thür, lockte alle großen Hunde herein, durchschnitt dann den Strick mit ihrem scharfen Messer und sagte zum Renntier: »Laufe, aber gieb recht auf das kleine Mädchen acht!«

Gretchen streckte die beiden Hände mit den großen Fausthandschuhen gegen das Räubermädchen aus und sagte Lebewohl, und dann flog das Renntier über Stock und Stein davon, durch den großen Wald, über Sümpfe und Steppen, soviel es nur konnte. Die Wölfe heulten und die Raben schrieen. Es war gerade, als sprühte der Himmel Feuer.

»Das sind meine alten Nordlichter!« sagte das Renntier,[303] »sieh, wie sie leuchten!« Und dann lief es noch schneller davon; Nacht und Tag. Die Brote wurden verzehrt, der Schinken auch, und dann waren sie in Lappland.

Quelle:
Andersen, H[ans] C[hristian]: Sämmtliche Märchen. Leipzig 31[um 1900], S. 298-304.
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