Das Jüngste Gericht

[228] »Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht, in welchem die Himmel mit Krachen vergehen werden; die Elemente aber werden für Hitze zerschmelzen und die Erde und die Werke, die in ihr sind, werden verbrennen.«

Petr. 3, 10


1

Herbei, herbei, der Tag bricht an,

Der Tag voll Furcht und Schrecken,

Der Tag, der alles auf die Bahn

Wird bringen und entdecken.

Der Tag des Grimms, der Tag des Zorns,

Der Tag der ernsten Rache,

Der Tag des Stachels und des Dorns,

Der ungerechten Sache.


2

Ihr Fürsten, Kaiser, Könige,

Ihr Herrn und Potentaten,

Ihr Päpst und hohe Geistliche,

Ihr Bischöf und Prälaten,

Ihr Richter alle kommt herbei,

Ihr müßt euch all gestellen!

Man wird das Urteil rund und frei

Auch über euch nun fällen.


3

O schwere Zeit, o strenger Tag,

Die Erde, die erbebet!

Kein Fels ist, der bestehen mag,

Der größte Berg zerklebet.

Das Meer, das schaumt und schwellt sich auf

Und macht ein Mordgebrülle,

Die Ströme lassen ab vom Lauf,

Stehn vor Erstaunen stille.
[229]

4

Die Winde sausen unerhört

Mit grausamem Gestürme,

Es werden alle Grüft erböhrt,

Es stirbt auch das Gewürme.

Das Vieh rennt unbesonnen her,

Das Wild lauft aus den Löchern,

Die Vögel werden matt und schwer

Und fallen von den Dächern.


5

Des Mondes silbern Angesicht

Wird blutrot vor Erschrecken.

Die Sonn verblaßt, ihr Thron zerbricht,

Ihr Viergespann bleibt stecken,

Die Sterne sieht man allzumal

In ängstlichen Gebärden,

O weh, sie falln in großer Zahl

Herunter auf die Erden.


6

Das wunderschön gefärbte Tuch

Ums himmlische Gewölbe

Kriegt hin und wieder einen Bruch,

Wird runzlig, schwarz und gelbe.

Der Morgenröte goldnes Kleid

Ist ganz und gar zerrissen,

All Anmut, alle Zier der Zeit

Ist hin und ist zerschlissen.


7

Ein Feur steigt auf, das alls verzehrt,

Auch selbst die Elemente.

Es brennet alls, wird alls verheert

Auch in dem Firmamente.[230]

Es ist ein Jammer, eine Not,

Ein unaussprechlichs Klagen,

Es wünscht sich alls Geschöpf den Tod

In Ansehn solcher Plagen.


8

Der Engel machet einen Schall

Aus seiner Erztrompete,

Den Bösen tönt es überall

Aus einer Trauerflöte:

Steht auf ihr Toten, kreucht herfür,

Erscheinet vors Gerichte,

Der Richter ist schon vor der Tür,

Kommt vor sein Angesichte.


9

Da fängt sich ein Gekrappel an

In allen Totenhäusern,

Ein jedes macht sich auf die Bahn,

Kein Bein kann sich entäußern.

Die Knochen hängen sich an Rump

Und fangen an zu leben

Und das Geripp wird umb und umb

Mit seinem Fleisch umgeben.


10

Die Gräber alle tun sich auf,

Die Särge, die zerspringen,

Das Meer muß mit dem schnellsten Lauf

Die Toten wieder bringen.

Die Hölle speiet wieder aus

Mit ungestümem Krachen

Diejengen, die ihr Teufelshaus

Verschlungen und ihr Rachen,
[231]

11

Der Himmel lässet auch mit Gunst

Die selgen Seeln hernieder

Und gibt ihn'n mit behender Kunst

Die heilgen Leiber wieder.

Die Toten beide, groß und klein,

Die Bösen und die Guten,

Versammeln sich all insgemein

Wie große Wasserfluten.


12

Darauf erscheint ans Himmels Thron

Mit frischem Blut bespritzet

Das Kreuz, an dem sich Gottes Sohn

Für uns zu Tod geschwitzet.

Man sieht die Geißeln und den Draht,

Mit dem man ihn geschmissen,

Den Draht, mit welchem man ihm hat

Den zarten Leib zerrissen.


13

Die Nägel, die durch Füß und Händ

Ihm eingetrieben worden,

Der Speer, der ihn nach seinem End

Auch tot hat solln ermorden,

Die sind noch alle rot vom Blut,

Als wär es erst geschehen;

Das Rohr, die Säul erscheint auch gut,

Ein jeder kann es sehen.


14

Die Krone, die von einem Dorn

Zusammen war gewunden

Und ihm sein Haupt, meins Heiles Horn,

Zerstochen und beschunden;[232]

Die Ketten, Strick und was er mehr

Für uns hat ausgestanden,

Ist alls vor Augen, ihm zur Ehr,

Der Welt zu Spott und Schanden.


15

Da geht es in ein Zeterschrein,

Da wird ein Heuln und Weinen,

Da winselt auch der härtste Stein

Und alles Mark in Beinen.

Da wünschet mancher, daß ihn bald

Der größte Berg erdrucke,

Ein andrer, daß ihn mit Gewalt

Die Hölle selbst verschlucke.


16

Dort schreit der: Wär ich nie geborn

Noch je geschaffen worden!

Wär ich im Mutterleib verlorn,

Könnt ich mich selbst ermorden!

Ja alle, die sich an der Pein

Des Herren schuldig finden,

Die wünschen ihnen insgemein

In Abgrund zu verschwinden.


17

Indessen kommt des Menschen Sohn,

Der Richter, angezogen,

Er sitzt auf einem neuen Thron,

Der wie ein Regenbogen.

Ein bloßes Schwert, des Zornes Zeug,

Erscheint in seiner Linken,

Den gnadenreichen Lilienzweig

Sieht man zur Rechten blinken.
[233]

18

Er kommt in großer Herrlichkeit

Mit göttlichem Gepränge,

Voll Blitz und Feuer ist sein Kleid,

Die Engel in der Menge.

Erschrecklich ist sein Angesicht,

Doch aber nur den Bösen,

Voll Trost scheint seiner Augen Licht

Dem, den er will erlösen.


19

So bleibt er in den Wolken stehn

Vor allen Adamskindern!

Da wird ihm keiner nicht entgehn,

Noch seinen Spruch verhindern.

Und stracks schafft er den Engeln an,

Daß sie sich abwärts schwingen

Und sein Erwählten zu dem Fahn

Der Überwindung bringen.


20

Die Engel lassen sich behend

Herunter auf die Erde

Und sammelen an allem End

Dem Herren seine Herde.

Sie lesen ihm die Lämmer aus,

Führn sie zur rechten Seiten,

Die Böcke schleudern sie im Strauß

Zum Arm der Strengigkeiten.


21

Da wird manch Weib von ihrem Mann,

Manch Mann vom Weib gerissen,

Da nimmet man den Vater an

Und stößt den Sohn mit Füßen.[234]

Hinwiederum steht mancher Sohn

Den Selgen zugeschrieben,

Der Vater aber wird davon

Mit höchstem Spott getrieben.


22

Da muß der Bruder voller Leid

Bei Teufels Böcken stehen

Und sehn die Schwester voller Freud

Mit Gottes Schafen gehen.

Da wird ein Freund (doch nun nicht Freund)

Vom andern abgeschnitten,

Der eine lacht, der andre weint,

Gar ungleich sind die Sitten.


23

Sobald er seine Schäfelein,

Der süße Gott, ersiehet,

So ist er sie zu benedein

Mit schönem Gruß bemühet.

Komm her, ruft er, geweihte Schar,

Vom Vater auserkoren,

Besitzt das Reich, das euer war,

Noch eh ihr wurdt geboren,


24

Mich hungert und ihr macht mich satt,

Mich dürst, ihr gabt mir trinken,

Ich klagte weh, ihr schafft mir Rat

Zur Rechten und zur Linken.

Ihr habt mich Nackenden bekleidt,

Nahmt mich in eure Hütte,

Ihr kamt zu mir zur bösen Zeit

In' Stock mit Trost und Güte.
[235]

25

Sie sprechen: Herr, wann haben wir

Dir etwas Guts erzeiget,

Wann haben wir denn uns zu dir

Mit solchem Dienst geneiget?

Er spricht: was ihr erwiesen habt

Den kleinsten meinen Brüdern,

Will ich, als hätt ihr mich gelabt,

Euch ewig nun erwidern.


26

Es werden Stühle hingestellt,

Darauf die Heilgen sitzen,

Die Heiligen, die in der Welt

Mit Christo mußten schwitzen.

Sie hatten hier den Bösewicht,

Die Welt und sich bezwungen,

Drum sitzen sie jetzt zum Gericht.

Dieweil sie durchgedrungen.


27

Was muß für Grimm und was für Schmach

In' Schuldigen entstehen,

Wenn sie die sehen nach und nach

Auf den Gerichtsstuhl gehen!

Wie wird dir da zu Mute sein,

Du Bluthund Maximine,

Was fällt dir, Hadrian, jetzt ein

Bei dieser Wunderbühne?


28

Was muß der Unmensch Commodus,

Was Nero da gedenken?

Wie wird Sever und Decius

Sich in dem Herzen kränken![236]

Wie muß manch Schnarcher und Tyrann

Vertieft stehn und gebucket,

Wenn er da sieht den armen Mann,

Den er hier hat verdrucket.


29

Dies sind die (murmeln sie bei sich),

Die wir für Narren hielten,

Mit deren Blut wir häufiglich

Die wilden Tier erfüllten.

Dies sind, die wir als einen Schaum

Des ganzen Volks verachten,

Dies sind, die wir wie einen Traum

Und blauen Dunst verlachten.


30

Der ists, spricht jener, der vor mir

Nicht einmal durfte mucken,

Der bettelte vor meiner Tür,

Dem trat ich auf den Rucken.

Den hab ich einst ans Rad gebracht,

Den aus der Stadt verjaget,

Den hab ich weidlich ausgelacht

Und jenem 's Recht versaget.


31

Wie, daß es ihnen jetzt so geht,

Daß sie so hoch ankommen!

Daß sie so trefflich sind erhöht

Und herrlich aufgenommen!

Ach, ach, wir Narrn, wir haben nie

Den rechten Weg gewandelt,

Wir haben Unrecht spät und früh

Zu unsrem Spott gehandelt.
[237]

32

Die Bücher werden aufgetan

Und alles draus gelesen,

Was auf der Welt vor jedermann

Verborgen ist gewesen.

Da werden kund und offenbar

Die innersten Gedanken,

Da macht man alle Schandtat klar

Vor allen, die im Schranken.


33

Wie blutrot wird da manche Dirn,

Die hier für Jungfer gangen,

Wie runzelt jener seine Stirn,

Der sich an sie gehangen!

Wie bleich steht mancher große Dieb,

Wie schlägt ers Antlitz nieder!

Wie schämt sich der der falschen Lieb,

Wie zittern ihm die Glieder!


34

Insonderheit wird aufgetan

Das schwarze Schuldregister,

Draus klagt sie Satan sämtlich an

Als schändliche Verwüster.

Er lieset, wie sie ihre Seel,

Den Himmel Gotts, zerrüttet

Und in den Leib, seins Geistes Höhl,

Geraset und gewütet.


35

Sie wußten nicht, schreit er mit Macht,

Vor Hoffart und Stolzieren,

Mit was für neuer Kleiderpracht

Sie sich nur sollten zieren.[238]

Niemand war ihnen gut und gleich,

Ihr Stand, Geschlecht und Gaben,

Die mußten sein bei Arm und Reich

Mit Übermut erhaben.


36

Sie warn im Geiz und Geldbegier

Mit Herz und Sinn ersoffen,

Kein Bettler durft an ihrer Tür

Je werden angetroffen.

Wenn sie zu deines Namens Her

Ein Gröschlein sollten geben,

Da war in ihnen kein Gehör,

Kein Pfennig zu erheben.


37

Sie waren neidisch und sogar

Mißgünstig wie die Hunde,

Wer reich und wohlgesegnet war,

Den nagten sie zur Stunde.

Wo sie gekonnt mit Rat und Tat

Des Nächsten Glück verhindern,

Da warn sie emsig früh und spat

Und halfen es vermindern.


38

Sie konnten nichts als purrn und murrn

Und in den Nächsten wüten,

Sie waren stets voll Grimm und Zorn

Und sagten nichts in Güten.

Sie fluchten, daß die Luft erschrak

Mit grausamem Getümmel,

Sie schmäheten Gott Tag für Tag

Und lästerten den Himmel.
[239]

39

Sie lebten fort und fort im Fraß

Vom Abend bis zum Morgen,

Ihr Schlund war stets vom Weine naß,

Ob sies gleich mußten borgen.

Sie haben oftmals die Vernunft

Dreimal im Tag ersäufet

Und also mit der Wiederkunft

Das Sündenmaß gehäufet.


40

Sie waren unkeusch und dem Wust

Der Unzucht ganz ergeben,

Sie führten in des Fleisches Lust

Ein ärgerliches Leben.

Sie reizten auch noch andre an

Mit ihrem Schandgegäcke

Und brachten fast nichts auf die Bahn

Als sündiges Gepläcke.


41

Zum Guten waren sie beschwert,

Faul, langsam, träg, verdrossen,

Kein Dürftiger hat auf der Erd

Ihrs Dienstes viel genossen.

Zum Beten konnten sie gar kaum

Die Sündenposten rühren,

Was Guts zu denken, war kein Raum

In ihrem Sinn zu spüren.


42

In Summa, es war keine Lieb

In ihrer Brust zu finden,

Noch Hoffnung, die deins Geistes Trieb

Im Herzen pflegt zu gründen.[240]

Bei vielen war der Glaub allein

Und doch nur in dem Munde,

Ihr ganzes Leben war ein Schein,

Kein Wesen in dem Grunde.


43

In aller dieser Schändlichkeit,

Da durften sie noch denken,

Daß du sie würdst mit ewger Freud

In deinem Reich beschenken.

Sie sündigten auf dein Verdienst

Und auf deins Geistes Güte,

Sie zechten auf deins Tods Gewinst

Mit frevelndem Gemüte.


44

Dies alls und mehr hat diese Schar

Mit Wust und Willn begangen.

Du weißts, o Richter, daß es wahr,

Ich hab sie so gefangen.

Sie sind nun mein, sprich sie mir zu,

Verdamme sie zur Höllen,

Ich will sie noch in diesem Nu

Den Teufeln zugesellen.


45

Der Richter, weil er voller Glimpf.

Der hält ein wenig inne,

Ob jemand auf die Schmach und Schimpf

Zu tädigen beginne.

Es will sich aber keiner rührn,

Es drückt sie ihr Gewissen,

Man sieht, daß sie sich schuldig spürn

Und recht verstummen müssen.
[241]

46

Drauf sieht er seine Heilgen an

Und fraget mit Gebärden,

Ob auch, was dieses Volk getan,

Entschuldigt könne werden.

Es muß ein jeder nach der Reih

Sein Urteil von sich geben

Und vor ihm reden rund und frei

Von dieser Sünder Leben.


47

Die Heilgen biegen ihre Knie

Und falln aufs Angesichte

Mit Lob und danken, daß er sie

Gewürdigt zum Gerichte.

Sie sprechen all einhellig: Nein,

Was die an dir verbrochen,

Das muß mit ewger Schmach und Pein

An ihnen sein gerochen.


48

Wir lebten auch im Fleisch und Blut,

Im Zunderzeug der Sünden,

Wir mußten auch in unsrem Mut

Des Satans Pfeil empfinden.

Wir waren Menschen gleich wie sie,

Wir hatten auch die Sinnen,

Wir wurden aber spät und früh

Des Schlangenstachels innen.


49

Und dennoch haben wir durch dich

Die Laster überwunden,

Wir haben auf den Schlangenstich

Dein heilsams Öl gebunden.[242]

Wir sind zum Leben durch den Tod

Gewaltsam eingedrungen

Und haben unser Herz zu Gott

Vom Bösen abgezwungen.


50

Dies konnten auch die Schälke tun,

Sie konnten ihren Willen

Vom Bösen abziehn, konnten ruhn

Und die Begierden stillen.

Sie folgten aber dir, Herr, nicht,

Sie wollten schändlich leben,

Drum kannst du sie mit rechtem Gricht

Dem Satan übergeben.


51

Der Richter, welchem alls bekannt,

Der billigt ihre Stimme:

Sie sollen ewig sein im Brand

Und unter Teufels Grimme.

Das Urteil ist bald abgefaßt,

Er sprichts mit eignem Munde,

Er sprichts, daß auch das Blut erblaßt

In ihres Herzens Grunde:


52

Geht hin und weichet weg von mir,

Ihr Grundvermaledeiten,

Geht hin, trollt euch von meiner Tür,

Bleibt weg zu ewgen Zeiten.

Geht hin ins Feur, ins ewge Feur,

In Schlund der grundten Höllen

Mit Beelzebub, dem Ungeheur,

Und seinen Rottgesellen.
[243]

53

Ich war vor Hunger von Gewalt

Und allen Kräften kommen,

Ich hatt an Leib und an Gestalt

Aus Mangel abgenommen.

Ihr habt mir nicht ein Bißlein Brot,

Nicht ein gut Bein gegeben,

Daß ich nur hätte vor dem Tod

Beschützt mein armes Leben.


54

Ich litte Durst, daß mir die Zung

Am Gaumen kleben bliebe.

Der Mund war trocken und die Lung,

Ich sucht an euch die Liebe.

Ihr habt mir einen Trunk versagt,

Ihr habt mich nicht gelabet,

Ihr habt mich von euch weggejagt

Und gar mit nichts begabet.


55

Ich war ein Fremdling und ein Gast,

Mußt auf der Straße liegen,

Ich dacht ein wenig Ruh und Rast

In eurem Haus zu kriegen.

Ihr habt mich nicht so wert geacht,

Daß ihr mich aufgenommen,

Ich konnte nicht auf eine Nacht

Bei euch zur Herberg kommen.


56

Ich ging elende, bloß und nackt,

Mein Kleid war mir zerrissen,

Das Haupt war naß und unbedackt,

Kein Schuh an meinen Füßen.[244]

Ihr habt mir nicht ein altes Kleid,

Nicht ein Paar Schuh geschenket,

Ihr habt mich nicht zur Winterszeit

Mit einem Fleck behenket.


57

Ich lag im Kerker, ich war krank,

Ich winselte vor Schmerzen,

Es war mir Zeit und Weile lang,

Ich hatte Pein im Herzen.

Ihr habt mich nicht einmal besucht,

Ihr seid nie zu mir gangen,

Ich habe niemals eine Frucht

Noch Trost von euch empfangen.


58

Herr, wann ists, sprechen sie, geschehn,

Daß du hast Not gelitten?

Wann haben wir dich nackt gesehn,

Mit was für Weh bestritten?

Wann bist du fremde hergereist,

Wann in dem Stock gelegen,

Daß wir dir keinen Dienst beweist

Noch deiner wollten pflegen?


59

Was ihr, spricht er, nicht habt getan

Dem Kleinsten, der mich liebet,

Das habt ihr auch nicht, schaut mich an,

Einst gegen mich geübet.

Trollt euch nun fort, ihr habt verlorn,

Das Urteil ist gesprochen,

Ihr findt nicht Gnad bei meinen Ohrn,

Der Stab, der ist gebrochen.
[245]

60

Da fallen sie mit großem Schrein,

Mit Prasseln und mit Krachen

Wie Klötze in den Schlund hinein

Und in der Höllen Rachen.

Die Frommen aber gehn bereit

In ihres Herren Freude,

Ins Schloß der ewgen Seligkeit

Zur wahren Seelenweide.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 3, München 1952, S. 228-246.
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