Fünfunddreißigste Rune.

[136] Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Er, der Knab' mit blauen Strümpfen,

Lebte von da an zu Hause,

In der Obhut seiner Eltern;

Konnte nicht verständig werden,

Mannes Einsicht nicht erlangen,

Da er unrecht ward erzogen

Und gewiegt auf Torenweise

Bei dem fehlgesinnten Pfleger,

Bei dem unverständ'gen Wärter.


Arbeit suchte sich der Knabe,

Machte sich an manche Dinge,

Ging um Fische einzufangen,

Um das Fischnetz auszustellen,

Redet' selber diese Worte,

Sprach, das Ruder in den Händen:

Soll aus aller Kraft ich ziehen,

Rudern mit der ganzen Stärke,

Oder soll ich mäßig ziehen,

Rudern nur so viel als nötig?


Von dem Steven sprach der Steurer,

Redet Worte solcher Weise:

Ziehest du aus aller Kraft auch,

Ruderst mit der ganzen Stärke,[137]

Wirst du doch das Boot nicht brechen,

Wirst die Pflöcke nicht zerschlagen.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Zieht nunmehr aus allen Kräften,

Rudert mit der vollen Stärke,

Rudert ganz entzwei die Pflöcke,

Bricht die Rippen von Wacholder,

Sprengt das Espenboot in Stücke.


Kam Kalerwo nachzuschauen,

Redet Worte solcher Weise:

Nicht verstehest du zu rudern,

Hast die Pflöcke ganz zerrudert,

Hast die Rippen von Wacholder

Und das Espenboot zerbrochen;

Treib die Fische in das Netz nun,

Taugst vielleicht zum Treiben besser.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Ging nun in das Netz zu treiben,

Hielt schon in der Hand die Stange,

Redet Worte solcher Weise:

Soll ich mit der Kraft der Schultern,

Mit der Mannesstärke schlagen,

Oder soll ich mäßig schlagen,

Treiben nur so viel als nötig?


Sprach der Netzezieher also:

Wäre das ein rechtes Treiben,

Würd' es ohne Kraft der Schultern,

Nicht geübt mit Mannesstärke?


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Treibt nun mit der Kraft der Schultern,

Scheucht nunmehr mit Mannesstärke,

Rührt zu dickem Brei das Wasser,[138]

Schlägt zu lauter Werg das Schleppnetz

Und zerquetscht zu Schleim die Fische.


Kam Kalerwo nachzuschauen,

Redet Worte solcher Weise:

Taugest keineswegs zum Treiber,

Schlägst zu lauter Werg das Schleppnetz,

Brichst in Stücke mir die Pfropfen

Und zerbröckelst mir die Stricke;

Geh die Steuer zu entrichten,

Geh den Grundzins zu bezahlen!

Bist vielleicht zum Reisen besser,

Auf dem Weg vielleicht verständ'ger.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Er, der Knab' mit blauen Strümpfen,

Mit den schönen gelben Locken,

Mit den Schuhn aus feinem Leder,

Ging die Steuer zu entrichten,

Ging die Abgab' zu bezahlen.


Als die Steuer er entrichtet

Und die Abgabe bezahlet,

Schwang er sich in seinen Schlitten,

Ließ sich nieder auf dem Sitze,

Wandte nun die Fahrt nach Hause,

Zog zurück in seine Heimat.


Rasselnd fuhr einher der Schlitten

Und durchmaß auf seiner Reise

Wäinämöinens weite Fluren,

Längstbebaute Ackerfelder.


Kam ein Mädchen ihm entgegen,

Gleitet gelbgelockt auf Schneeschuhn,

Auf den Fluren Wäinämöinens,

Auf den längstbebauten Äckern.[139]


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Hält nun an mit seinem Schlitten,

Fängt zum Mädchen an zu sprechen,

Spricht zu ihr und lockt sie dringend:

Steige, Mädchen, in den Schlitten,

Ruhe hier auf meinen Fellen!


Bei dem Laufen spricht das Mädchen,

Bei dem Gleiten diese Worte:

Steig' der Tod in deinen Schlitten,

Krankheit ruh' auf deinen Fellen!


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Er, der Knab' mit blauen Strümpfen,

Schlägt das Roß mit seiner Gerte,

Mit der perlenreichen Peitsche.

Rasch enteilt das Roß des Weges,

Auf dem Wege knirscht der Schlitten;

Fährt dahin mit lautem Lärmen,

Eilend seine Bahn durchmißt er

Auf dem klaren Meeresrücken,

Auf den weiten Eisgefilden.


Kommt ein Mädchen ihm entgegen,

Schönbeschuht, den Schnee durchwatend,

Auf dem klaren Meeresrücken,

Auf den weiten Eisgefilden.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Läßt sein muntres Roß da halten,

Fein zurecht legt er die Lippen,

Setzt gar klüglich seine Worte:

Steige, Schönste, in den Schlitten,

Zier des Landes, in mein Fuhrwerk!


Antwort gibt ihm da das Mädchen,

Scheltend so die Schönbeschuhte:[140]

Tuoni steig' in deinen Schlitten,

Manalainen fahre mit dir!


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Er, der Knab' mit blauen Strümpfen,

Schlägt das Roß mit seiner Gerte,

Mit der perlenreichen Peitsche.

Rasch enteilt das Roß des Weges,

Auf dem Wege knirscht der Schlitten;

Fährt dahin mit lautem Rasseln

Und durchmißt auf seiner Reise

Nordlands ausgedehnte Heiden,

Lapplands weitgestreckte Grenzen.


Kommt ein Mädchen ihm entgegen,

Eine Zinnesspang' am Busen,

Auf den Heiden von Pohjola,

An der Lappen weiten Grenzen.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Hält die Zügel seines Rosses,

Fein zurecht legt er die Lippen,

Setzt gar klüglich seine Worte:

Komm, o Maid, in meinen Schlitten,

Holde, unter meine Decke,

Meine Äpfel sollst du essen,

Meine Nüsse du zerbeißen!


Antwort gibt ihm so das Mädchen,

Mit der Zinnesspang' am Busen:

Speie, Wicht, auf deinen Schlitten,

Auf dein Fuhrwerk, Taugenichts du;

Kalt ist's unter deiner Decke,

Schauerlich in deinem Schlitten.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Er, der Knab' mit blauen Strümpfen,[141]

Reißt das Mädchen in den Schlitten,

Rafft sie hin zu seinem Sitze,

Setzt sie auf das Fell des Schlittens,

Zieht sie unter seine Decke.


Spricht das Mädchen diese Worte,

Zornig so die Zinngeschmückte:

Laß mich los von diesem Sitze,

Laß das Kind aus deinen Händen,

Daß ich nicht die schlechten Worte,

Nicht des Bösen Bitten höre,

Oder ich durchstoß' den Boden,

Spreng' entzwei des Schlittens Kufen,

Schlag' in Stücke dir den Sitzkorb,

Schlag' den Plunder dir zuschanden.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Er, der Knab' mit blauen Strümpfen,

Öffnet nun die Geldeskiste,

Machet auf den bunten Deckel,

Zeigt ihr dort das schöne Silber,

Breitet aus die schmucken Tücher,

Strümpfe mit den goldnen Kanten,

Gürtel voller Silberzierat.


Schnell entführt das Tuch die Sinne,

Ändert Gold des Mädchens Meinung,

Silber bringt sie ins Verderben,

Gold berücket ihre Einsicht.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Er, der Knab' mit blauen Strümpfen,

Schmeichelte darauf dem Mädchen

Und betörte sie mit Scherzen,

Eine Hand hielt fest die Zügel,

Doch des Mädchens Brust die andre.[142]


Darauf kost' er mit dem Mädchen,

Machte matt die Zinngeschmückte

Unter erzverzierter Decke,

Auf dem schöngefleckten Felle.


Schon schickt Jumala den Morgen,

Bringt empor der Tage zweiten,

Also spricht darauf das Mädchen,

Redet fragend diese Worte:

Welchem stolzen Stamme bist du,

Welchem Hause du entsprossen?

Scheinst mir aus gar großem Stamme,

Von gar hohem Vatersitze.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Redet Worte solcher Weise:

Nicht bin ich aus großem Stamme,

Nicht aus großem, nicht aus kleinem,

Bin fürwahr aus mittelmäß'gem,

Bin Kalerwos armer Knabe,

Bin sein Sohn, der unverständ'ge,

Ein untauglich Kind und töricht;

Aber sag' mir deine Herkunft,

Nenn' mir dein Geschlecht, das stolze,

Ob du bist aus großem Stamme,

Ob von hohem Vatersitze.


Antwort gibt ihm so das Mädchen,

Redet Worte dieser Weise:

Nicht bin ich aus großem Stamme,

Nicht aus großem, nicht aus kleinem,

Bin fürwahr aus mittelmäß'gem,

Bin Kalerwos armes Mädchen,

Seine unverständ'ge Tochter,

Ein untauglich Kind und töricht.[143]


Als ich noch als Kindlein weilte

In dem Haus der lieben Mutter,

Ging ich in den Wald nach Beeren,

Zu des Berges Fuß nach Himbeern,

Sammelt' Erdbeern auf dem Boden,

An des Berges Fuße Himbeern,

Sammelt' einen Tag, und ruhte,

Sammelt' einen Tag, den zweiten,

An dem dritten Tage aber

Fand ich nicht den Weg nach Hause;

Waldwärts führten mich die Wege,

Zu dem Dickicht alle Pfade.


Dorten saß ich, dorten weint' ich,

Weinte einen Tag, den zweiten,

Endlich an dem dritten Tage

Stieg auf einen hohen Berg ich,

Auf die allerhöchsten Hügel,

Dorten rief ich, dorten klagt' ich,

Antwort gaben mir die Wälder,

Brauste mir die Heide wider:

Rufe nicht, du tolles Mädchen,

Ende doch dein sinnlos Lärmen,

Keineswegs kann man dich hören,

Nicht zu Hause dich vernehmen!


An dem dritten, vierten Tage,

An dem fünften, sechsten endlich

Rüstete ich mich zum Tode,

Überließ mich dem Verderben,

Dennoch konnte ich nicht sterben,

Ich Unsel'ge und Verdammte.


Wär' ich Arme doch gestorben,

Wär' ich Schwache umgekommen,

Hätte dann im zweiten Jahre,[144]

Oder doch im dritten Sommer

Als ein zartes Gras gegrünet,

Wär' als Blume aufgeblühet,

Wär' als Beer' emporgeschossen,

Als ein rotes Preiselbeerchen,

Ohne dieses Greul zu hören,

Diese Schande zu erfahren.


Kaum hat also sie gesprochen,

Diese Worte kaum geredet,

Sieh, da springt sie aus dem Schlitten,

Stürzet in des Flusses Strömung,

In den Schwall des Wasserfalles,

In des Wirbels wildes Brausen;

Dort verfiel sie ihrem Tode,

Fiel anheim dem Untergange,

Fand im Reiche Tuonis Ruhe,

Fand Erbarmen in den Fluten.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Fuhr empor aus seinem Schlitten,

Fing dann an, gar laut zu weinen,

Laut aus voller Brust zu klagen:

O ich Ärmster ob der Tage,

Ob des kläglichen Geschickes,

Daß ich meine Schwester also,

Meiner Mutter Kind geschändet!

Wehe, Vater, wehe, Mutter,

Wehe euch, ihr meine Eltern,

Wozu habt ihr mich gezeuget,

Mich in diese Welt gesetzet!

Besser wäre es gewesen,

Wäre niemals ich geboren,

Nie in diese Welt gediehen,

Nie gestellt auf diese Erde;[145]

Nicht war's recht vom Tod gehandelt,

Von der Krankheit nicht geziemend,

Daß sie mich nicht schon getötet,

Als ich zwei der Nächte zählte.


Löst das Kummet mit dem Messer,

Schneidet ab die Lederriemen,

Springt auf seines Pferdes Rücken,

Auf das Kreuz des weißgestirnten,

Jagt ein kleines Strecklein Weges,

Eilet eine kurze Weile,

Hält auf seines Vaters Hofe,

Auf den Fluren des Erzeugers.


In dem Hofe stand die Mutter:

Mutter, die du mich getragen,

Hättst du mich, o teure Mutter,

Gleich, nachdem du mich geboren,

In der Badstub' Rauch gestellet,

Dann die Türen zugeriegelt,

In dem Rauche mich ersticket,

In der zweiten Nacht getötet,

In dem Bettuch mich ertränket,

Mit der Decke mich versenket,

Hättst die Wiege in das Feuer,

In den Ofen du geworfen!


Hätte dich das Dorf gefraget:

Wo denn blieb der Stube Wiege,

Weshalb ist das Bad verriegelt?

Hättest Antwort du gegeben:

Hab' verbrannt die Wieg' im Feuer,

In den Ofen sie geworfen,

Lasse Korn im Bade keimen,

Mache Malz dort aus Getreide.[146]


Eilig fragte ihn die Mutter,

Forscht' ihn aus die greise Alte:

Was ist, Sohn, dir widerfahren,

Welches Greuel ist zu hören?

Bist, als kämst du von Tuoni,

Aus den Gegenden Manalas.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Redet Worte solcher Weise:

Wohl sind Greuel nun zu hören,

Wohl ein Frevel vorgefallen,

Da ich meine eigne Schwester,

Meiner Mutter Kind geschändet.


Als die Abgab' ich bezahlet

Und die Steuer ich entrichtet,

Kam ein Mädchen mir entgegen,

Welches ich nach Lust liebkoste;

Diese war die eigne Schwester,

Meiner Mutter Kind war diese.


Schon hat sie den Tod gefunden,

Ist dem Untergang verfallen

In dem Schwall des Wasserfalles,

In des Wirbels wildem Brausen;

Selber kann ich nun nicht einsehn,

Nicht begreifen und erraten,

Wo ich mir den Tod nun finden,

Wo ich, Armer, sterben könnte:

In dem Maul des Wolfs, des Heulers,

In dem Schlund des brumm'gen Bären,

Oder in dem Bauch des Walfischs,

Durch den Zahn der Meereshechte?


Antwort gibt ihm so die Mutter:

Gehe nicht, o liebes Söhnchen,

In das Maul des Wolfs, des Heulers,[147]

In den Schlund des brumm'gen Bären,

Geh nicht in den Bauch des Walfischs,

Zu der Hechte grimmen Zähnen!

Groß genug ist Suomis Landzung',

Sawos Grenzen weitgestrecket,

Um des Mannes Schmach zu bergen,

Seine Untat zu verdecken,

Sie zu bergen sechs der Jahre,

Ja, gar neun in einem Zuge,

Bis die Zeit ihm Frieden bringet,

Jahre seinen Kummer lindern.


Kullerwo, der Sohn Kalerwos,

Redet Worte solcher Weise:

Gehe nicht mich zu verbergen,

Nicht der Untat zu entfliehen,

Gehe zu des Todes Rachen,

Zu der Tür am Hofe Kalmas,

Zu den großen Kampfgefilden,

Zu dem Streitplatz mut'ger Männer:

Noch ist Unto auf den Beinen,

Ungetötet noch der Böse,

Ungerächt des Vaters Wunden,

Unbezahlt der Mutter Tränen,

Andrer Qual nicht zu gedenken,

Meines eignen guten Loses.

Quelle:
Kalewala. 2 Bände, Berlin [o.J.], Band 2, S. 136-148.
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