CCLV.

[368] 1. Ich weis ein graffen töchterlein,

sie wohnet zu Straßburg auff dem Rhein,

sie hat ein bulen verborgen,[368]

dann durch der kleffer zungen frey,

kamen sie beyde in sorgen.


2. Das megdlein war drey sieben jar alt,

sie hat einen freyer von hertzen stoltz,

sie wolt nicht lenger beiten,

sie nam den reuter bey der hand,

und giengen sich zu lustieren.


3. Er legt sie in den rosengarten,

dar so manch vögelein war vergadert,

sie sungen von hertzen beyde,

wie das des graffen töchterlein

sol kommen in grosses leiden.


4. Der reuter breit den mantel ins graß,

das megdlein sprach auff selbig bas,

mein schöns lieb außerkoren,

wann du deinen willen hast vollenbracht,

so las mich nicht verloren.


5. Der reuter sprach sonder verdries,

schöns lieb so fürcht euch nicht,

das ich euch solt lassen in schanden,

ich wolt lieber mein lebenlang,

gehn dollen achter landen.


6. Sie sprachen so manches freundlichs wort,

das haben die falschen zungen gehört,

zum graffen seind sie gegangen,

wie das sein jüngstes töchterlein

gieng spacieren mit einem manne.


7. Der graff war ein zornig man,

er hat dis so bald verstahn,

er gieng mit seinen knechten gar kühnen,

da fand er sein jüngstes töchterlein

bey dem reuter in dem grünen.


8. Der graff mit zornigem mut,

er warff den reuter unter die füß,

seine knecht namen jn gefangen,[369]

er sprach zum reuter, hab guten mut,

morgen zu mittag soltu hangen.


9. Das wort thet der reuter so bald verstahn,

er lies so manchen heissen thran,

des mus sich Gott erbarmen,

und das ich armer junger held,

mus sterben umb ein jungfrawen.


10. Es geschach auff einen montag,

das der reuter ward vor den graffen gebracht,

man solt jhm sein haupt abhawen,

da entferbet sich der junge held,

vor megden und jungfrawen.


11. Der reuter gieng knien für das schwerdt,

sein schönes lieb kam dar ungefehrt,

man hört das volck schreyen und weinen,

steh auff, sprach sie, mein schönes lieb,

ich wil auch für dich sterben.


12. Die jungfraw die gieng knien auff ein seidt,

sie kniet vors schwerdt mit hertzenleid,

ach vater last mir mein haupt abhawen,

und spart den allerliebsten mein,

so sprach die schön jungfrawen.


13. Der reuter sprach zu der liebsten sein,

steh auff hertzallerliebste mein,

ich wil so frömlich vor dich sterben,

all tregstu ein kleines kindlein von mir,

ich bitt las es nit verderben.


14. Der graff sprach mit worten gut,

steh auff reuter, bis wolgemut,

ich geb dir mein jüngstes töchterlein,

zu einer ehelichen frawen.


15. Urlaub jr knechten und megd all sampt,

die bey der nacht aus freyen gand,

all hastu eins reichen mans tochter lieb,

so hüt dich vor den kleffern quat,

so kompstu nimmer in schande.


Quelle:
[Anonym]: Das Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582. Stuttgart 1845, S. 368-370.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wette, Adelheid

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

1858 in Siegburg geboren, schreibt Adelheit Wette 1890 zum Vergnügen das Märchenspiel »Hänsel und Gretel«. Daraus entsteht die Idee, ihr Bruder, der Komponist Engelbert Humperdinck, könne einige Textstellen zu einem Singspiel für Wettes Töchter vertonen. Stattdessen entsteht eine ganze Oper, die am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wird.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon