XC.

[90] 1. Ich habe so lange gestanden,

ich stund in sorgen gros,

ich meint du hest meiner vergessen,

und nicht an mich gedacht.


2. Wie sol ich deiner vergessen,

mein trost und zuversicht,

dieweil ich hab das leben,

wil ich gedencken an dich.


3. Dein diener wil ich bleiben,

bis an das ende mein,

für dich so wil ich sterben,

und leiden schwere pein.


4. Da ich sie erst erkandte,

truckt sie an meine brust,

da empfieng ich viel freud und wonne,

nach all meins hertzen lust.


5. Schöns lieb du wilst auffschließen,

das junge hertze dein,

du wöllest auch erkennen,

hertz mut und sinne mein.


6. Mein hertz wil ich dir auffschließen,

zu einem rosengertelein,

darin soltu spacieren,

nach all dem willen dein.


7. Sie kam daher geritten,

nach aller jungfrewlein art,

von gold tregt sie ein krone,

nach adelicher art.


8. Venus du hast verwundet,

das junge hertze mein,

und sol ich darumb sterben,

und leiden grosse pein.[91]


9. Sie wandte sich zu mir herumme,

bot mir ein freundlichen grus,

adelich bistu gezieret,

von der scheitel bis auff den fuß.


10. Sein rößlein wand er herumme,

das rößlein thet ein sprung,

wir zwey müssen uns scheiden,

nu spar dich Gott gesundt.


11. Und scheid ich mit dem leibe,

so bleibt das hertz bey dir,

daran soltu gedencken,

du adeliche zier.


12. Wenn ich an sie gedencke,

mein hertz das thut mir weh,

und krenckt all mein sinne,

das ich sie nit mehr sehe.


13. Dis liedlein sey dir gesungen,

zu tausent guter nacht,

zu leid der kläffer zungen,

sey dir dis lied gemacht.

Quelle:
[Anonym]: Das Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582. Stuttgart 1845, S. 90-92.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon