I

Die Glocken hatten vor langem geklungen, dann sang die Gemeinde in der Kirche, und jetzt ist alles stille; jetzt ist die Predigt.

Am Fuße des Hügels, auf welchem das Gotteshaus über das weite Tal emporragte, lag eine kleine Schenke; Klang und Sang waren dort an das Ohr der Greisin gedrungen, die unter dem Vordache im Gärtchen saß, bald vor sich nach den leeren Tischen und Bänken blickte, bald seitwärts nach einem schmalen Blumenbeete. Es hätte weder des Läutens bedurft, unter dem Sanktus und beim Offertorium, noch des Singens der Leute, sie hätte es auch ohne das recht gut gewußt, wie weit die heilige Handlung vorgeschritten sein konnte, nach dem Schatten des Vordaches, wie derselbe über die Gelbveigelstöcke zu ihren Füßen hinschlich – ei ja, scharfe Sinne hatte sie noch, aber an den Kräften, an den Kräften fehlte ihr's halt, sonst wär sie heut auch nicht heimgeblieben, um das Haus zu hüten; sie mußte selbst darüber lächeln, daß sie dazu bestellt war, die es keinem hätte wehren können, das ganze Haus fortzutragen.

Aber heut will die Predigt kein Ende nehmen. Unter dem alten Pfarrer, der vor kurzem verstorben war, war lang schon die Kirche leer und die Tische und Bänke rings von lärmenden Leuten besetzt; es ist halt eben ein neuer, der will sein Sach besonders schön machen, sonderlich, daß er so viel Wort aufwendt, und hat doch auch nur 's liebe Christentum zu bereden, wird er doch nichts aus eigenem dazutun?[282]

Jetzt sah die alte Frau, wie es oben an der Kirchentüre rege ward, erst kamen einzelne daraus hervor, blieben nach ein paar Schritten zögernd stehen oder eilten hastig davon, dann quoll es in einem breiten, wimmelnden Strome hintennach, wie ein Schwarm aufgestörter Ameisen aus einer Erdritze. Allen vorauf aber war der Wirt, ihr Sohn, mit dem Enkel, dem kleinen Anton, an der Hand; die langen Schöße des Sonntagsrockes des Alten flogen im Winde, und der Junge machte gezwungen die gewagtesten Sprünge, hinterher lief die Kellnerin Liese, die mit ihren kurzen Beinen immer ein paar Schritte zurückblieb.

»Gotts Donner, Liesel, wo bleibst?« rief der Wirt, in den Garten stürzend und sich behend wie ein Kreisel umdrehend. »Mein Janker, mein Fürtuch! Lei, lei!« Dann wandte er sich zur Mutter. »Die Kirch is aus.«

»Du Narrisch«, lachte die Alte, »seh's wohl. Nun, wie is er denn, der Neuche?«

»Ah, ein gscheiter Herr, ein rechter Herr schon, nur ein wengl resch, ein wengl resch halt.«

Die alte Frau streichelte die erhitzten Wangen des Knaben, der zu ihr getreten war. »Hast dir auch gmerkt, Tonl, was der geistlich Herr gsagt hat?«

»Wer alls in d' Höll kommt, hat er gsagt«, antwortete das Kind.

»Na, wer denn alls?«

»Die Ketzer, dann die Freimaurer, dann die Juden, dann die ... die ...«

»Die Lauen, die Lauen«, ergänzte der Wirt, indem er das Vortuch umband und den Rock der Liese über den Arm hing.

»Ja«, lachte die, während sie ins Haus ging, »nur die Warmen kommen in Himmel, zun Auskühlen!«

Die Alte sah der Dirne, über die lose Rede mißbilligend den Kopf schüttelnd, nach, dann murmelte sie: »So, so, also wieder einer, der 'm Teufel z' schaffen gibt.« Sie saß eine Weile sinnend. »Unser alter Kaplan geht auch fort?« wandte sie sich an den Sohn.[283]

»Ja, ich hör, morgen mitm frühsten.«

»So, so, schau, schau, muß der auch fort! Wär mer doch lieb gwesen, der wär verbliebn, war ihn und 'n seligen Herrn Pfarrer schon so gwöhnt, wann ich amal doch hab zur Kirchen hinkriechen können. Dreimal habn mich dö schon versehn, wer weiß, wie der Neuche mit einm herumtut? Ich schick mich so viel schwer in fremde Leut. Hätten's doch erwarten können, die zwei, der eine mitn Versterbn, der andere mitm Fortgehn, hätt kein so Eil ghabt; zwegn der klein Weil, die ich's noch mitmachen kann, wär's auch nit ausgwesen.«

Indessen hatten sich Gäste eingefunden, es begann ein geschäftiges Hinundherrennen in der kleinen Wirtschaft, und an den Tischen erhob sich ein Gemurmel und Gesumme.

»Mir gfallt er nit, gar nit, gar nit gfallt er mir, der Neuche«, sagte ein schmächtiger, bleich aussehender Bursche zu den umsitzenden, gleichfalls jungen Leuten. »Werdet sehen, jetzt kommt wieder eine Zeit, wo jeds zu Ostern wird sein Beichtzettel auf -weisen müssen.«

So leise er das gesagt hatte, so war es am Tische nebenan, wo eben der Wirt das Getränk auftrug und dadurch das Gespräch stocken machte, doch verstanden worden. Ein hagerer Mann, dessen schmales Gesicht scharfe Züge zeigte, wandte sich rasch nach dem Sprecher um. »Glaub's schon, Tomerl, daß dir das leid tut«, sagte er, »aber dem Zsammleben in der wilden Eh mit deiner Kathl, dem dürft jetzt a Ziel gsetzt sein, und auch d' andern solln sich gfreun, wie denen wird 's Gasselgehn abgwöhnt werdn! Hast ganz recht graten, wann d' meinst, daß gegen 'n Vorherigen der Neuche ein härtern Striegel führt.«

»Es hat's wahrlich auch schon not«, sagte ein anderer, »daß wieder ein Zeit ins Land kehrt, wo die Sünder zun zappeln anhebn müssen.«

»Wo drent eh Heuln und Zähnscheppern is?« klang es vom Burschentische herüber. »Sollt mer herent noch 's Zapplete kriegn? Dös is unbillig!«

»Ös Lotter ös«, schrie ein Weißhaariger über ein paar[284] Tische herüber, »spotts noch! So a Zeit, wie die jetzig Zeit is, hat's noch gar niemal gebn! Was mer aus einer heutign Zeitung lest, wie's in der Welt zugeht, so was hat mer in mein jungen Tagn nit z' lesen kriegt!«

»Weil's in dein jungen Tagn gar kein Zeitung gebn hat!« schrie ein Bursche dagegen.

Da fuhr der Lange am Nachbartische wieder empor. »Wird euch schon vergehn, der Spaß, und uns kann's nur lieb sein, wenn wieder da am Ort ein Zucht, ein Ordnung und ein Christentum is.«

»Ich denk, an die drei hat's unterm Seligen auch nit gfehlt«, sagte ein dickes, behäbiges Männlein, das neben dem Eiferer saß. »Ich hab nix gegen den Neuchen – bewahr –, aber allz' scharf macht leicht schartig. Nur ein Einsehn! Der Alte hat sich allzeit um sein Sach rechtschaffen angnommen.«

»Ei ja«, lachte der Hagere, »daß du uns 'n Alten vorruckst, dös versteht sich. Hat er ja doch, wie dein Dirn Hochzeit ghalten hat, ein Aug drüber zudruckt, daß die mitm Kranzl und mit Begleitjungfern vorn Altar geht. Gelt, jetzt gibst dich? Is auch gscheiter. Alle, die 'm Alten 's Wort reden, wissen wohl, warum sie's tun; freilich, du und deinesgleichen habt euch wieder ein seinsgleichen erhofft, aber 's hochwürdig Konsisturi weiß schon auch, warum's den Neuchen hergsetzt hat.«

»Wohl, wohl«, schrie der Dorfschuster, »so ein Herr taugt uns, der keine Übelständ duldt, nit geistlich, nit weltlich, wie auch recht is. Denn wie da aufm Bühel 's Gotteshaus über dem Gmeindhaus und über allem steht, so soll auch der Herr Pfarrer zuoberst in der Gmein stehn! Die paar Tag schon, seit er im Ort, hat er 'm Burgermeister ganz gute Einschläg in Gmeinsachen geben, und der, wie er gscheit is, ordnet sich ihm auch unter; auch der Schulmeister darf sich nit sperren, schon in der Schul muß der Grund glegt werdn ...«

Der Dorfschneider wollte nicht zurückbleiben und fiel dem Schuster ins Wort: »Jawohl, schon bei 'n Kindern! Das laue[285] Wesen und die laxe Mural, die sein am Rand, ein scharf Regiment und ein streng Zucht hebt an, und wir, denen schon lang all die Neuerungen nit anstehen, wir sein jetzt die Herren da am Ort.«

»Nit nur am Ort«, nahm der Lange wieder die Rede auf; »laßt's euch sagen, Manner, dös verbleibt nit in einm Sprengel, dös is für weiter anglegt, nit nur da im Ort, bald im ganzen Land werdn wir, die wir der Ärgernis müd sein, die Herren spielen können, und dieselben, die's uns jetzt noch z' Trutz meinen möchten, solln's wohl verspüren!«

Da erklang vom Burschentisch eine Zither, und einer hob zu singen an:


»Geht's mer christlich nimmer zsamm.

Druckt's mich wie die Trud,

Heiß ich mich halt Abraham

Und werd a Binkljud!«


Sofort sang ein zweiter:


»Und wenn eppa drauf ich kimm,

Daß ich da nix wirk,

Heiß ich mich halt Ibrahim

Und werd gar a Türk!«


Eben griff ein dritter Bursche präludierend in die Saiten, die künftigen »Herren im Lande« schimpften laut, und es dürfte nicht lange mehr angestanden haben, so hätte wohl mancher Gerechte manchem Sünder Reu und Leid erwecken gelehrt und mancher Sünder manches Gerechten Geduld im Leiden erprobt, wäre nicht plötzlich am Zaune ein Mann vorbeigeschritten, bei dessen Erscheinen sofort Stille eintrat.

Die Bursche standen auf und rückten die Hüte, die Anhänger des neuen Seelsorgers neigten die Köpfe gegeneinander und begannen angelegentlich zu flüstern, um von dem Ankömmling keine Notiz nehmen zu müssen, und etliche Bauern, die, unbehaglich genug, mitten unter ihnen saßen, griffen an den Filz, ohne sich vom Sitz zu erheben, und lächelten verlegen;[286] nur der vorher geängstigte Wirt stürzte jetzt, aufatmend, herzu. »Ah, hochwürdig Herr Kaplan, das is schön, daß mer dich noch sieht vor der Reis. Also moring schon is's ernst, hörn wir, moring schon? Na, nit a bissel hereingehn auf a Abschiedströpferl?«

Der Angeredete war ein kleiner, beleibter alter Mann, ging in hohen Stiefeln, einem langen Rock von ziemlich grobem Tuche, wie ihn die Dorfschneider für die Landgeistlichen gewöhnlich fertigen, und das Kollare sah, gerade nicht sehr reinlich, unter dem verschobenen Kragen hervor; das runde, gutmütige Gesicht war von einem breitkrempigen Filzhute, wie ihn die Bauern tragen, beschattet, eine schwarzseidene Zipfelmütze guckte darunter hervor.

»Dank schön«, schnarrte der Kaplan, denn er behielt auch unterm Reden den kurzen Pfeifenstummel, aus dem er qualmte, zwischen den Zähnen. »Bin stark gangen, und lang kann ich mich nit aufhalten. Steig seit fruh in der Gegend hrum, hab mir noch mal alls angschaut und Abschied gnommen. Von 'n Leuten hab ich das nit not, is eh denen meisten lieb, daß s' mich ausn Gsicht kriegn. Na, geh ich halt jetzt schön stad nachm Pfarrhof und fang fein sauber langsam zun einpacken an.«

»Nimmst deine Vieher auch mit?« fragte der Wirt.

»Meine Käfer und Schmetterling? Die Fauna vom ganzen Viertel? Na, die werd ich doch nit dalassen?«

»Ei mein, so Schachtel- und Kistelwerk mitschleppen, mach doch a rnentische Unglegenheit.«

Diesmal nahm der Kaplan gar die Pfeife aus dem Munde, eh er den Wirt anfuhr: »Wo d' ein blauen Teufel von Wert einer Sach weißt, red nit!«

Da kam die Mutter des Wirtes, auf den Stock gestützt, an den Zaun geschlichen. »Na, du«, sagte sie, »du bist mir ein schöner hochwürdig Herr! Mich laßt du da ganz alleinig und gehst in d' Stadt.«

»Je, alte Martha, was tust denn du dich hermühen? Grüß Gott! Na, brauchst mer's nit z' neiden; wenn auch[287] nach der Stadt, ins Priesterhaus, in d' Versorgung halt, geh ich.«

»Dös kann ich dir wohl sagen«, flüsterte die Greisin, »mir gschieht völlig hart, daß du gehst. 'm Reden nach, obwohl viel mit ihm einverstanden sein, weiß ich mich mitm Neuchen nit aus, eh möcht ich 'n schier fürchten.«

»Brauchst kein Angst z' haben«, murmelte der Kaplan, »er is halt noch jung, sein Jahrn sind die unsern wie a Ratsel, da muß er erst auch so lang allweil im Kreis hrumgangen sein, dann begreift er's schon, wie eins müd wird, hinsitzt und der Welt zuschaut, wie's auch ohne seiner fortkommt. Er wird schon älter werdn.«

»Ja freilich wird er's amal, aber das erleb ich nit, und wie werdn mer sich wohl in der Zwischenzeit reden?«

»Laß ihm halt sein Freud und red nix dawider.«

»Meinst leicht, ich soll mer denken, ›du redst mer lang gut‹?«

»Gedanken sein zollfrei.«

»Gott verzeih mer d' Sünd, aber d' heilig Weih von euch abgrechnet, da seids ös wie weltliche Hallodri, einer 'm andern aufsässig.«

»Jetzt is Zeit, daß ich geh«, sagte der Kaplan; er reichte ihr die Hand, »na, bhüt Gott! Mach halt noch dein Weil mit und bleib fein riegelsam dabei. Bhüt Gott, Wirt! Bhüt Gott, Leuteln!« setzte er für die wenigen hinzu, die ihn grüßten.

»Bhüt Gott! Bhüt dich Gott, Kaplan!« Die Alte schlich nach ihrem Bänkchen zurück.

»Glück auf d' Reis und ein schön Wetter«, rief der Schuster.

»Is eh gut, daß er fortkommt«, schrie der Schneider hintennach, »war sein Zeit nix mit ihm und jetzt schon gar, ein Junger muß an sein Stell, den sich der Herr Pfarrer ziehn kann, wie er 'n braucht.«

»Ho«, sagte einer am Burschentische und erhob sich und machte einen langen Hals. »Was beugt denn der Kaplan 'm Steig aus? Mein Seel, er nimmt d' Straßen, rundum und um, um die ganze Anhöh!«[288]

»Siehst denn nit«, sagte ein anderer, »daß vom selben Steig hrunter der Pfarrer und der Bürgermeister daherkommen?«

»Na, daher werdn s' doch nit kommen?« war die mehrstimmige Frage.

»'s macht aber keiner ein Trittl nach rechts oder nach links, sie halten sich gradzu.«

»Wirtshaus! Zahln!« lärmten die Bursche, warfen das Geld auf den Tisch und flüchteten fast unter den Augen des Gefürchteten.

Der Pfarrer war eine stattliche Erscheinung, von hoher, kräftiggebauter Gestalt, die Härte seiner Züge wurde durch die Völle und Frische seines Gesichtes gemildert; bleich und welk hätte dieses Antlitz mit den dunklen, feurigen Augen, der scharf gebogenen Nase, dem starken Kinn und den weit abstehenden Backenknochen wohl Scheu erweckt, während es jetzt nur den Eindruck überlegener Willensstärke machte. Aber nur in dem Sinne, wie es der Kaplan gemeint hatte, der eben über zwanzig Jahre älter war, konnte der Pfarrer für jung gelten, denn er zählte wohl fünfundvierzig.

Gar kläglich nahm sich neben ihm der Bürgermeister des Ortes aus; trotz er über Mittelgröße maß, war er doch bei seinem gedrungenen Körperbau, dem Klotzigen und Ungefügen jeder einzelnen seiner Gliedmaßen eher für klein und zurückgeblieben anzusehen. Seine Augen hatten sich durch eine längere Übung gewöhnt, über den Wülsten der unteren Lider eine eigene Achsenstellung anzunehmen, welche, seiner Meinung nach, dem Ausdrucke besonderer Pfiffigkeit entsprechen sollte; hätten nun auch nicht die Hängebacken und der breite Mund mit der vordrängenden Unterlippe dem entgegengearbeitet, die Nase allein würde alles verdorben haben, die fürchterliche Nase, so derb und so knollig, daß sie im ganzen Orte vertraulicherweise nur das »Heft« genannt wurde, und die so rücksichtslos aus dem Gesichte hervorsprang, als wollte sie aller Welt bedeuten, wie leicht der ganze Mann an ihr zu führen sei. Der Bürgermeister verdankte seine Ehrenstelle lediglich nur dem Umstande,[289] daß er der »Schwerste«, das heißt der Reichste, im Orte war.

Als die beiden in den Wirtsgarten traten, schoß der letzte, der unbehendeste der Bursche, an ihnen vorüber, ärgerlich lachend den Kameraden »Halts aus! Halts aus!« nachrufend.

Alle erhoben sich. Der Wirt behielt für eine Weile die Kappe in der Hand, die Kellnerin knickste und glättete ihre Schürze, selbst die alte Martha stand auf ihren Stock gestützt, sie mochte eben dem »reschen Neuen« keinen Anlaß zum Übelnehmen geben.

Der Pfarrer dankte mit einem kurzen Kopfnicken, einen scharfen Blick sandte er den Entflohenen nach, dann wandte er sich an den Bürgermeister: »Also das sind Eure Bursche? Von der Unmanierlichkeit will ich absehen, aber diese Eile, ihrem Seelsorger aus dem Gesichte zu kommen, deutet auf schlechte Gewissen und üble Aufführung. Sind alle so?«

Der Bürgermeister versuchte es, eine sorgenvolle Miene anzunehmen. »Es sein wenig anders«, sagte er. »Wär eh nit d' Halbscheid von sö in der Kirchen z' sehen gwesen, hätt s' nit d' Neugier hneintrieben, weil halt heut Euer Hochwürden erste Predigt war.«

»Auch das Kommen und Gehen der Leute hierorts gefällt mir nicht. Da tritt der eine verspätet ein, und der andere verliert sich mitten unter der heiligen Handlung. Ich sehe das sehr ungerne und werde es abstellen.«

»Schon recht, schon recht«, pflichtete der Bürgermeister bei. »Das is alles so eingrissen unterm Frühern, der hat derlei gar nit beredt; im Gegenteil, sein Wort war, wer nit freiwillig käm, der bleibet gscheiter weg.«

Der Pfarrer runzelte die Stirne.

»Ja, und alles ist überhaps gnommen worden«, fuhr der Bürgermeister fort. »Meßlesen überhaps, Beichthören überhaps, Predigen und Bußgäng, alls halt überhaps. Na, und der alte Kaplan, der hat dabei gar nit zählt, der war nur froh, wann er mit sein Fliegennetz hat recht fleißig herumsteigen[290] können. Is a seltsamer Herr, mit allm Gwürm und Viechwerk, was sechs Füß und Flügel hat, is er auf meilnweit bekennt, ordentliche Freithöf – Gott verzeih mer die Sünd – hat er daheim fürs Unziefer eingricht, da sein s' der Reih nach auf Nadeln aufgspießt, und wie große Herren haben s' a lateinische Grabschrift drunter stehn.«

»Ich weiß«, sagte der Pfarrer, »er ist ein leidenschaftlicher Entomolog.«

»Ja, ja, so einer is er, wie Euer Hochwürden sagen, ein leidenschäftlicher Entenmoloch. Gar kein Zeit hat er übrigbhalten, daß er sich um was Rechts hätt annehmen können. Ei wohl, durch die zwei sind wir dahin kommen, wo wir jetzt stehen; Hochwürden werden schwere Müh habn, dös alls wieder auf gleich z' bringen.«

»Die scheue ich nicht, und mit Gottes Hilfe will ich's bald dahin gebracht haben, daß ihm hier am Ort und unter meiner Seelsorge eine der eifrigsten und frömmsten Gemeinden im Lande dienen soll.«

»Ei wohl, da ist mir nit bang. Wir werden's schon machen.«

»Wir?« fragte der Pfarrer und sah den Vierschrötigen mit großen Augen an.

Dessen Nase zeigte sich mit einmal kupferig wie die eines Weinsäufers; das war seine Art zu erröten. »Bewahr«, stotterte er, »nit im Traum, daß ich dran denk, mich mit Hochwürden auf ein Staffel zu stelln, dös wär doch aus der Weis; ich wollt nur sagen, wir werdn schon tun, was Hochwürden anschaffen, wir werdn schon sorgen, daß in allem gehorsamt wird, wir, was mer die Ersten von der Gmeind sein.«

»Das erwarte ich auch«, sagte, sich hoch aufrichtend und im Kreise um sich blickend, der Pfarrer, »denn ich verlange, daß jedem einzelnen wie der Gemeinde die Religion über alles geht, ohne die ja doch das ganze Leben nur ein wüster Durcheinander wär, in dem sich keiner auskennen möcht; sie allein gibt uns durch ihre Offenbarung ein klares Bild von[291] Zweck der Schöpfung und Bestimmung des Menschen, und zwar von Erschaffung der Welt an bis zum Jüngsten Tag, und nun weiß sich ein jeder aus, wozu eigentlich er und alles andere auf Erden ist. Und wenn wir die Obrigkeit fragen, warum wir ihr gehorchen sollen, muß sie sich nicht auch auf die Religion berufen, die uns lehrt, daß die Obern von Gott eingesetzt sind? Darum gehört auch geistlich Regiment über das weltliche, und die Mächtigen sollten sich wohl hüten, ruhig zuzusehen, wie man täglich mehr und mehr Gott und die Vorsehung hinwegzuleugnen versucht; wär man erst mit dem Herrn im Himmel und den göttlichen Einrichtungen fertig, dann würde man hinterher mit den Herren auf Erden und den irdischen Einrichtungen wenig Umstände machen.«

Unter den Anhängern des »Neuen« erhob sich ein beifälliges Gemurmel: »Wohl, wohl, is eh a so!« – »Dös leucht ein, dagegen kommt keiner auf!« – »Der versteht's halt, der hochwürdige Herr, der versteht's halt!«

»Darum die Religion über alles«, fuhr der Pfarrer fort, seine Wangen röteten sich und seine Augen blitzten. »Es ist das eine notwendige und heilsame Unterordnung, und wie ich die mir anvertrauten Seelen zu leiten und zu führen gedenke, steh ich nicht an, offen herauszusagen, und mag es ein jeder hören. Durch den Satan zu Gedankenhochfahrt und Sinnenlust verführt, hat der Mensch schon im Paradies sich diese Welt verderbt; daß er nun nicht durch Lauheit und Liederlichkeit auch noch die andere Welt verspiele, die ihm durch Christi Blut erkauft worden ist, dafür zu sorgen, ist die Kirche eingesetzt! Ich werde streng darauf achten, daß das Gebet im Hause nicht verabsäumt wird, daß jeder die Andachtsübungen in der Kirche mitmacht, daß keiner von Bitt- und Bußgängen fernbleibt, daß alle die gebotenen Fasttage halten und die Gnadenmittel, die heiligen Sakramente, in vorgeschriebenen Zeiten und bei sonstigen Anlässen gebrauchen. Darüber soll mir nur ja keiner Klage führen, daß er dadurch Zeit und irdische Freud einbüßt; ein solches Opfer kann man ihm wohl auferlegen, da ihm dafür die[292] Ewigkeit und himmlische Freud in Aussicht steht. Räudige Schafe dulde ich in meiner Herde nicht, und ich hoff, daß wir darüber alle eines Sinnes sein werden. Wir wollen es nicht fehlen lassen an eifrigen Ermahnungen und eindringlichen Vorstellungen, will sich aber einer durchaus nicht bessern, so scheiden wir ihn lieber aus; ist es Bauer oder Bäuerin, so sollen sie unter uns keine Ansprache und nachbarliche Hilfeleistung mehr finden, ist es Knecht oder Magd, so soll ihnen der Dienst aufgesagt werden, ist es Sohn oder Tochter, wie hart es auch fallen mag, so soll ihnen nach den Worten der Schrift geschehen: ›Wenn dich ein Auge ärgert, so reiße es aus und werfe es von dir!‹ Mögen sie in die weite Welt laufen, wo sie die Prüfung durch Not und Elend, wie wir hoffen, zu Gott zurückführt, und wenn sie reuig heimkehren, werden wir sie mit offenen Armen aufnehmen, aber Ärgernis und bös Beispiel darf hier am Orte nicht zurückbleiben, wenn wir uns rechtschaffen des Widerchrists und der Widerchristen erwehren wollen!«

Er schloß mit einer kurzen Bewegung der Hand, gleich einer Abdankung der Hörer, und ging mit raschen Schritten auf den Tisch zu, den die Bursche verlassen hatten.

Bisher hatten sie alle gestanden, nun duckte wieder einer nach dem andern nieder. »Amen« und »Vergelt's Gott« murmelten etliche, wie nach einer Predigt.

Die alte Martha zupfte die Kellnerin am Rocke. »Sag mal, Liesl, wie heißt er denn, der hochwürdige Herr?«

»Eisner!«

»No schau, richtig, Eisner«, flüsterte die Alte vor sich hin. »Kann ich mich halt doch noch auf meine Augen und mein Gedächtnus verlassen. Da kenn ich 'n wohl, da kenn ich 'n eh. Daß aber er's is!« Sie kopfschüttelte. »Daß er's sein kann! Das macht mer erst recht bang.«

Plötzlich verstummte an den Tischen das wieder laut gewordene Gespräch. Am Eingange des Gartens zeigte sich ein etwa fünfundzwanzigjähriger Bursche, er ging barfuß und ohne Kopfbedeckung, trug lange, städtische Beinkleider und[293] eine Jacke, beide Kleidungsstücke von grobem Tuche, stark abgenützt und stellenweise grob geflickt, doch reinlich gehalten. Er schleppte sich mit einem großen Tonkruge. Sein feingeschnittenes Gesicht, das bleich und finster sah, war von langen Haaren, die ihm bis auf die Schulter fielen, umrahmt, und ein Flaum, der an den Wangen spärlich gedieh, aber über den Lippen und am Kinne kraus und wollig sich entwickelte, gab ihm das Ansehen, als trüge er einen gepflegten Schnurr- und Kinnbart. Er hielt den Kopf gesenkt und die großen, dunklen Augen unter den Lidern versteckt; nur jetzt, wo er unentschlossen stillestand, tat er einen einzigen raschen Blick vor sich hin, es war ihm der Eindruck nicht entgangen, den sein Erscheinen hervorbrachte, und es schien, daß nicht nur er vor den Leuten scheute, sondern auch diese vor ihm.

»Herrgotts Sakra«, brummte er, »vergiß ich wieder, daß heut Sonntag is, und komm da mitten in den Schwarm hnein.« Er trat ein und ging, ohne einen Blick seitwärts zu werfen, geradewegs auf den Wirt zu.

»Was willst denn du da?« fragte der unfreundlich.

»Der Proviant ist mer ausgangen. Füll mer mein Krug und gib mir ein Laib Brot mit; schau dir ja selber gern, daß ich wieder fortkomm.«

Der Wirt nahm ihm den Krug ab und schritt, von dem Burschen gefolgt, in das Haus.

»So, so«, sagte der lange Eiferer, »da habts 'n Einsam auch wieder herunt im Ort. No, heißt's wohl 'm Teufel ein Kerzen anzünden, oder gschieht bald a Unglück.«

»Wer ist denn der verwahrloste Bursche?« fragte der Pfarrer den Bürgermeister.

Der Gefragte seufzte tief auf. »Der? U mein, daß ich sag, das is wohl a Pfahl in unserm Fleisch, halt ja, a Pfahl! Wir heißen ihn ›den Einsam‹, weil er sich da oben auf einer hohen Felswand in einer Höhln eingwohnt hat, kein Ansprach sucht, auch nit leicht eine fand. Er hat einmal ein im Zorn erschlagen, und seit er ausm Strafhaus freigangen is, haust er in derer Weis; wohin er eigentlich zuständig is,[294] darnach hat niemal wer gfragt, er auch nit, er hat sich halt dahergmacht.«

Der Pfarrer sah erstaunt auf. »Und das duldet die Gemeinde?«

»Ja, Hochwürden, da sein noch andere Sachen. Man traut sich nit gegen ihn. Wann ihm 's Geld ausgeht, tragt er sich wohl ein Bauern zur Arbeit an, und die erst Zeit habn wir gmeint, mer könnt ihm von der Seit zu, und habn ihm 's Tagwerk verweigern wölln, wie aber paar Scheuern über Nacht in Feuer aufgangen sein, da hat ihm keiner mehr nein gsagt.«

»Na ja, ja, Burgermeister, schon recht«, mengte sich gutmütig der dicke Behäbige ein, der früher vom Langen so garstig abgeführt worden war, »nur mußt auch sagen, erwiesen is nix, kann leicht ein Zufall gwesen sein.«

»Erwiesen is nix, weil er schlau ist«, rief es von mehreren Seiten. »Wär's erwiesen, wärn wir 'n los!«

»Ihr hättet das eben von allem Anfange an nicht leiden und euch nicht einschüchtern lassen sollen! Wie kann man sich denn nur diese aufgezwungene Nachbarschaft und diese fortwährende Bedrohung des Eigentums gefallen lassen?« fragte erregt der Pfarrer, und seine feine, zarte Rechte krampfte die Finger in sich. »In der Kirche sieht man den Menschen wohl auch nicht?«

»Nie hat ihn keiner mit kein Aug drin gsehn, solang mer sich auf ihn besinnen.«

»Das geht nicht an! So ein Mensch, der weder nach Gott noch Welt frägt und wie das liebe Vieh dahinlebt, gibt ein Beispiel, durch das die ganze Gegend verwildern könnte. Dem muß ein Ende gemacht werden! Ich werde den Burschen ins Gebet nehmen, und wenn er zu Kreuz kriecht –«

»Hochwürden, der kriecht nit!«

»Nun, wenn nicht, so könnt ihr euch darauf verlassen, daß ich ihn fortzuschaffen weiß.«

»Wenn das gschäh«, meinte froh der Bürgermeister, »dann saget ich wohl ›Vergelt's Gott‹ im Namen der Gmeind.«

Jetzt kehrte der Wirt mit dem gefüllten Kruge und einem[295] Laib Brot unter dem Arme zurück, der »Einsam« tänzelte um ihn herum. »So gib mer's doch her«, sagte er, »so laß mer's nur tragn, laß mer's tragn!«

»No no, nur stad«, sagte der Wirt. »Da hast! Gib dein Geld und mach, daß d' fortkommst.«

»Fort werd ich gleich sein«, sagte der Bursche, »Geld aber kann ich dir keins gebn, weil ich keins hab, du weißt aber, daß d' es noch allmal kriegt hast. Muß halt wieder auf a Zeit ins Tagwerken gehn.« Jetzt hob er den Kopf, drehte den Hals und musterte mit einem schnellen Blick die Umsitzenden. »Ja, ja, ich muß ins Tagwerken gehn; wer nimmt denn dösmal 'n Einsam?«

»No, antragn wird dir keiner d' Arbeit«, sagte der Dorfschuster.

»Mußt dich halt einm anbieten«, sagte der Schneider.

Der Lange aber fuhr vom Sitze empor und schrie: »Tagwerken, sagst, tätst du? Tagwerken, du Tagdieb? Unheil stiftst, und 's Geld nimmst 'n Leuten dafür ausn Sack! Aber hüt dich, bald wirst nimmer der Gfürchte im Ort sein; der hochwürdig Herr da, unser neucher Pfarrer, hat's grad Red ghabt mitm Burgermeister, wie mer dir dein Unwesen ver-leidt; jetzt kimmt a neu Regiment.«

»Was kümmert mich der Pfarrer und der Burgermeister?« sagte der Einsam. »Oben in meiner Felslucken kenn ich kein Kirch und kein Gmeind, und was 's neu Regiment angeht, wenn's nur euch taugt, mir kann's gleich sein, ob alt oder neu, ob der Ochs im Joch oder im Kummet geht. Nur gegen mich darf sich keins zviel herausnehmen, 's könnt übel ausgehn, hüts euch, hüt sich jeder, der 'n Einsam noch nit kennt!« Er wandte sich zum Gehen.

»Halt, Bursche!« rief ihm der Pfarrer nach.

»Der Herr Pfarrer will mit dir reden«, schrie der Bürgermeister.

»Kann sein, aber ich will 'n nit hörn.«

Da riß es alle in die Höhe. »Halten wir ihn auf!« riefen sich mehrere zu. »Halten wir 'n auf!«[296]

»Haha«, lachte der Bursche. »Nur zu! Greifts mich! Kikeriki! Wer will sich denn 'n roten Hahn aufs Dach hetzen?!«

Der Pfarrer aber stieß die im Wege Stehenden zur Seite und stürzte bis zum Eingange vor. »Du lachst zu früh«, schrie er, »wir treffen uns schon noch!«

Da hielt der Bursche inne, wandte sein von Zorn und Trotz entstelltes Gesicht gegen ihn und rief heiser: »Wär vielleicht besser für uns allzwei, es unterbleibet!« Damit kehrte er den Rücken und schritt unangefochten seines Weges weiter.

Quelle:
Ludwig Anzengruber: Werke in zwei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21977, S. 282-297.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Weiße, Christian Felix

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon