[148] 1884.
1.
Kein rückwärts schauender Prophet,
Geblendet durch unfaßliche Idole,
Modern sei der Poet,
Modern vom Scheitel bis zur Sohle.
2.
Verruchtes Epigonenthum,
Egypter- und Teutonenthum,
Daß dich der Teufel brate!
Schon längst sind wir fascikelsatt,
Grinst doch durch jedes Titelblatt
Das Dante'sche »Lasciate«!
3.
Ihr armen Dichter, die ihr »Philomele«,
In jedem Lenze rythmisch angeschwärmt,
O wenn ihr wüßtet, wie sich meine Seele
Um ihre gottverlassnen Schwestern härmt![148]
Dreht ihr auch noch so ernsthaft eure Phrase,
Der Teufel setzt sie lustig in Musik,
Denn eine ungeheuer lange Nase
Hat seine Großmama, die Frau Kritik.
4.
Nicht wahr, Du bist ein großes Thier?
So sprich, was ist zum Dichten nütze?
Eine Perryfeder, ein Stück Papier,
Ein Tintenfaß und – ein Schädel voll Grütze!
5.
Ihr schwatzt befrackt hoch vom Katheder
Von alter und von neuer Kunst,
Von Fleischgenuß und Sinnenbrunst,
Und gerbt nur Leder, altes Leder.
Ihr laßt um jede Attitüde
Ein weißgewaschnes Hemdchen wehn;
Denn um die Schönheit nackt zu sehn,
Sind eure Seelen viel zu prüde.
6.
Ja, unsre Zeit ist eine Dirne,
Die sich als »Mistreß« producirt,
Mit Simpelfranzen vor der Stirne
Und schauderhaft decolletirt.
Sie raubt uns alle Illusionen,
Sie turnt Trapez und paukt Klavier –
Und macht aus Fensterglas Kanonen
Und Kronjuwelen aus Papier!
7.
Urewig ist des großen Welterhalters Güte,
Urewig wechselt Herbstblatfall und Frühlingsblüthe,
Urewig rollt der Klangstrom lyrischer Gedichte:
Ein jedes Herz hat seine eigne Weltgeschichte.
[149]
8.
Ich bin ein Dichter und kein Papagei
Und lieb es drum, in unsre Zeit zu schauen;
Und doch mißfällt an ihr mir dreierlei,
Und dieses Factum kann ich nicht verdauen.
Die junge Dame weint sich nicht mehr »blind«,
Die jungen Herrn sind meistens eitle Schöpfe,
Und – »last not least« – die echten Thränen sind
Noch seltner heute als die echten Möpse.
9.
Die Simpeldichter hör ich ewig flennen,
Sie tuten alle in dasselbe Horn
Und nie packt sie der dreimal heil'ge Zorn,
Weil sie das Elend nur aus Büchern kennen.
Buchempfehlung
1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.
220 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro