Am Morgen

[57] 1884.


Fahler Morgenglanz,

Graues Dämmerlicht,

Und im Spiegel dort

Starrt mein Angesicht.


Von dem letzten Kuß

Bebt mein Mund noch bang,

Horch, noch tönt sein Schritt

Dumpf hinab den Gang.
[57]

Auf der Treppe knirscht

Leise noch sein Fuß,

Schwer die Thüre fällt

Wie ein Todesgruß.


Wie ein Todesgruß!

Und der Traum zerrinnt ...

In die heiße Nacht

Stöhnt der Morgenwind.


Eben noch so reich

An verliebter Gluth,

Jetzt so arm und leer,

Und verstört mein Muth.


Thränennaß mein Blick,

Und mein Kopf so schwer, –

Alles gab ich hin,

Und ich hab' nichts mehr.


Und besäß ich's noch,

Wieder gäb' ich's dir,

Träf dein Liebeskuß

Mund und Seele mir.


Dennoch weiß ich's wohl,

Aus den Nebeln dort

Webt in meinen Tag

Tod und Schmach sich fort.


Finster starrt mich an

Ein Medusenhaupt,

Meine Zukunft du,

Schlangenwirrumlaubt.


Zu so wenig Lust,

So viel Leid erkorn –

Mutter, Fluch auf dich,

Daß du mich geborn!
[58]

Fluch auf dich, du Welt,

Die so rasch verdammt,

Was durch die Natur

Ringsum gluthend flammt.


Liebe, du allein

Rette du dein Kind,

Streif mit deinem Mund

Meine Lippen lind.


Laß mich einmal ruhen

Noch in deinem Schooß,

Komme in mein Herz

Leuchtend, schön und groß.


Komme wie du willst,

Wie das Morgenroth,

Komm' in Nacht und Sturm

Gleich dem Würger-Tod.


Bleicht im Morgenglanz,

Rothe Rosen ihr, –

Liebe, bett' ein Grab

Unter Rosen mir!

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 57-59.
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