Memnons Lied

[130] Morgenstunde – noch ist Frieden

Rings im Thal der Pyramiden,

Feurig durch des Ostens Thor,

Flammen malen ihre Strahlen

An den Riesengräbermalen,

Steigt das Morgenroth empor.


Und nun setzt es seinem Sohne

Memnon eine güld'ne Krone

Auf das Fürstenhaupt von Stein:

Durch des Göttersohnes Glieder

Geht ein Zittern, Klagelieder

Schallen schwermuthreich landein.


Mutter, tönt es von den kalten

Lippen des Jahrtausendalten,

Ist er noch nicht da der Gott,

Der der Dunkelmänner Kronen

Bricht und Schächer stürzt von Thronen

Und die Großen macht zum Spott?
[130]

Naht noch nicht der Wahrheitsender,

Kommt noch nicht der Segenspender

Ormuzd auf der Lichtes Bahn,

Daß er in des Orkus Klüfte,

In des Weltalls fernste Grüfte

Bannt den Todfeind Ahriman! –


Höher steigt der Sonne Wagen,

Und in Weinen, leises Klagen

Endet Memnons Morgenlied;

Und so wird es weiter tönen

Bis herauf am gold'nen schönen

Weltenmorgen Ormuzd zieht.


Lange lag die Welt im Wahne,

Keiner hielt empor die Fahne

Jenes Lichtgotts; nur allein

Meldete des Lichts Gefunkel

In der Weltnacht tiefem Dunkel

Memnons kalter Mund von Stein.

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 130-131.
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