Wahn und Wirklichkeit

[224] Als der Duft der ersten Veilchen

Ueber meine Stirne flog,

War es, daß ein wundersamer

Traum in meine Seele zog.


Und zwei Sterne sah ich leuchten,

Stilles Blinken heilger Nacht;

Und mein Auge mußte schauen

Hingebannt nach solcher Macht.


Wie das Angesicht der Göttin

Sah der Mond herab so gut

Und mein Herz wallt' ihm entgegen

Wie die liebevolle Fluth.
[224]

Eine Sonne sah ich glänzen,

Schönres wurde nie mir kund

Und ihr Glänzen war wie Lächeln

Von melodischestem Mund.


Und der Sonne warme Strahlen

Spielten mir um meine Brust,

Sorgsam so wie Mutterarme

Hoben sie mich auf vom Dust.


Trugen mich durch leichte Lüfte

Nach dem Glanz, dem Himmelslicht

An das heiße Herz der Sonne,

Aber ich verbrannte nicht.


Unzerstörbar meine Glieder,

Unversiegbar heiß mein Blut,

Ohne Leiden meine Seele,

Unbesiegbar hehr mein Muth;


Ohne Gränzen die Gedanken,

Unverschleiert war die Welt, –

Da hat eine böse Krähe,

Mich aus allem Traum gegellt:


»Thor, was närrst du deine Seele

Mit dem nächtlich eitlen Trug?

Tag ist's; gehe hin und schaffe,

Denn zu schaffen giebt's genug!«


Und ich schlich beschämt nach Hause,

Hatte wahrlich wenig Lust,

Denn noch spielten Veilchendüfte

Mir um meine Stirn und Brust.


Ach, was ist mit allem Mühen,

Was mit aller Qual gethan!

Und mein Traum erschien mir wirklich

Und die Wirklichkeit ein Wahn.

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 224-225.
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