Sechster Gesang

[104] 1.

Dem Frevler wehe, der da meint, es werde

Die Missetat bedeckt für alle Zeit!

Wenn alles schweigt, so spricht die Luft; die Erde,

Wo sie verscharrt ist, in die Weite schreit.

Verschiebt auch Gott dem Sünder die Beschwerde,

Er lenkt die Schuld, der er die Kraft verleiht,

Daß sie den Täter muß von selber zwingen,

Den Frevel unversehns ans Licht zu bringen.


2.

Der Unglücksel'ge war im Wahn befangen,

Die Untat sei begraben ganz und gar,

Und dachte fortzuleben ohne Bangen:

Nur in Dalinda sah er die Gefahr.

Dem ersten Frevel weitre so entsprangen;

Beschleunigt ward, was noch gekommen war.

Vielleicht aufschieben könnt' er's und vermeiden

Und fügt nun selbst, daß er den Tod muß leiden.


3.

Freund', Güter, Leben werden ihm genommen,

Dazu die Ehre – Schlimmres gibt es nicht. –

Als man den Fremden bat (Ihr habt's vernommen),

Daß er das Antlitz biete frei dem Licht,

Hebt er den Helm, und sieh: zum Vorschein kommen

Bekannte Züge, ein geliebt' Gesicht:

Arïodant ist's, den im Grab man meinte,

Der Edle, den das ganze Land beweinte.
[105]

4.

Arïodant, um den Ginevra klagte

Und König, Hof und Volk in Trauer stand,

Der als ein Turm der Rittertugend ragte

Und teuer war rings allem Schottenland.

So war es falsch, was jener Bauer sagte?

Noch hielt den Edlen nicht des Todes Hand?

Nein, Wahrheit sprach er; denn den Hochgemuten

Sah er vom Fels sich stürzen in die Fluten.


5.

Doch wie es geht: man ruft den Tod vom weiten,

Willkommen scheint er uns in hohem Maß;

Sieht man ihn aber wirklich näherschreiten,

So hat man bald genug von solchem Spaß.

Als um ihn Wasser floß von allen Seiten,

Da sehnt der Ritter sich nach fester Straß'.

Und kühn, geschickt, entreißt er sich dem Bade

Und schwimmt voll Kraft zurück nach dem Gestade.


6.

Er schilt sich töricht jetzt und schier von Sinnen,

Zu scheiden aus dem Dasein freundlich hell;

Durchweicht und triefend macht er sich von hinnen

Und kommt gemach zu einer Klausnerzell'.

Er denkt, in aller Stille nun hierinnen

Zu weilen, bis man hör' an dieser Stell',

Ob sich Ginevra des Geschehnen freue,

Ob sie vielleicht Betrübnis zeig' und Reue.


7.

Zunächst vernimmt er, daß sie, schmerzzerrissen,

Dem Tode nahe sei, gebeugt vom Gram

(Davon zu reden, war man so beflissen,

Daß kaum die Red' im Land auf andres kam):

Es stimmt zu allem, das er glaubt zu wissen

– Ach, ihm zum Jammer! –, freilich wundersam.

Dann hört er, daß Lurcan, so wie man sagte,

Ginevra bei dem Vater selbst verklagte.
[106]

8.

Zorn auf den Bruder regt sich, ein so grimmer,

Wie er für sie vor Liebe will vergehn,

Denn nichts erscheint ihm grausamer und schlimmer,

Wiewohl er weiß, es ist für ihn geschehn.

Darauf erfährt er, daß die Schranken nimmer

Den Kämpen für Ginevra werden sehn

(Lurcanios Taten waren unvergessen,

Daß jeder Scheu trug, sich mit ihm zu messen).


9.

Als klug ihn und besonnen zu erheben,

Hat keiner, der ihn kannte, noch verfehlt:

Derart gefährden würd' er nicht sein Leben,

Wenn unwahr wäre, was der Held erzählt!

Drum die Verteid'gung lieber aufzugeben,

Hat als das Klügste jedermann erwählt.

Arïodant nach langem Überlegen

Beschließt, er stellt dem Bruder sich entgegen.


10.

»Vor meinem Ende jene sehen sterben«,

Sprach er bei sich, »es würde schrecklich sein;

Erlitte sie um mich den Tod, den herben,

Das machte meinen Tod zu bittrer Pein.

Um andre Herrin könnt' ich nimmer werben:

Sie bleibt mir Göttin, meiner Jugend Schein.

Mit Recht und Unrecht muß ich, sie zu retten,

Im Kampf für sie mich zu den Toten betten.


11.

Mit Unrecht, gut! – So muß ich dem willfahren.

Ich sterbe – wohl! Doch eins schafft bittre Not:

Ich schütze sie dadurch nicht vor Gefahren;

Erst recht vielmehr bringt der Verlauf ihr Tod.

Den einen Trost mag ich im Sterben wahren:

Daß Polineß, der ihr doch Liebe bot,

Nicht im geringsten – deutlich muß sie's sehen –

Den Fuß nur regt, der Holden beizustehen.
[107]

12.

Ich aber, dem das Herz sie wollte brechen,

Mich sieht sie sterben, auf ihr Heil bedacht!

Am Bruder werd' ich dann zugleich mich rächen,

Der diesen Brand hat grausam angefacht:

In seinem Herzen wird die Reue sprechen,

Sieht er zu solchem Ziel sein Tun gebracht,

Daß er dem Bruder, den er rächen wollte,

Mit eigner Hand Verderben bringen sollte.«


13.

Als die Gedanken zum Entschlusse reifen,

Ein' andre Rüstung und ein Pferd er fand,

Ein schwarz Gewand auch; schwarzen Schild mit Streifen

Grüngelber Farbe nahm er drauf zur Hand.

Und einen fremden Knappen sah er schweifen;

Den nahm er, weil ihn niemand kannt' im Land.

So stellte sich – wo keiner ihn erkannte –

Dem Bruder dann zum Kampf Arïodante.


14.

Wie's weiter ging, habt Ihr bereits erfahren,

Und was nach der Erkennung noch geschah:

Der lieben Tochter Rettung aus Gefahren

Den König nicht in größerm Jubel sah.

Sie finde, meint er, nie so treuen, wahren,

So edeln Ehgemahl wie diesen da:

Die, wie er wähnt, ihn tödlich hat beleidigt,

Gegen den Bruder hat er sie verteidigt!


15.

Und wie der Held ihm selber hat gefallen

Und weil's dem ganzen Hofe gut erschien,

Und weil Rinald es wollte so, vor allen

Als Eidam grüßt er ihn mit froher Mien'.

Ein Herzogtum, Albanien, heimgefallen

Von Polineß, kam grade recht für ihn,

Fiel ihm anheim zur besten Zeit im Leben:

Er konnt' es seinem Kind zur Mitgift geben.
[108]

16.

Dalinda – durch Rinald – erhielt Verzeihen;

Frei ging sie aus, die große Sünderin.

Der Welt entsagen, künftig Gott sich weihen

Und Frieden finden, darauf stand ihr Sinn.

Sie schied aus Schottland: in der Nonnen Reihen

Zu büßen ging sie, weit nach Dazien hin. –

Nun ist es Zeit, nach Roger auszuschauen,

Der auf dem Flügeltier hinfährt im Blauen.


17.

Man sieht ihn oben keineswegs erblassen:

Er ist ein kühner Held – allein ich glaub',

Es mag doch größrer Schauer ihn erfassen,

Als man bemerken kann am Espenlaub.

Europa hat er hinter sich gelassen

Und macht sich immer weiter aus dem Staub.

Das Zeichen ist weit unter ihm geblieben,

Das Herkules hat Schiffern vorgeschrieben.


18.

Der Hippogryph, ein Vogel nur zum Teile,

Führt ihn dahin auf Flügeln alsoschnell:

Des Blitzes Träger käm' erst eine Weile

Nach ihm, vermein' ich, an dieselbe Stell'.

Es gibt kein Tier, das fliegend ihn ereile

Oder an Schnelligkeit sich ihm gesell'.

Auch Pfeile, glaub' ich, – selbst die Blitze dringen

Vom Himmel kaum herab mit raschern Schwingen.


19.

Nachdem der Vogel weiten Raum durchflogen

(Im Zickzack nie, gradaus ohn' Unterlaß),

Senkt er sich leis, von Luft nun vollgesogen,

Im Kreise auf ein Inselland wie das,

Wo Arethusa vor dem Gott der Wogen,

Den sie, gar spröd, geplagt in ihrem Haß,

Nach unterseeisch dunklem Weg voll Schrecken

Vergebens lange sann sich zu verstecken.
[109]

20.

Er schaut, was Liebliches die Welt kann schenken

– Nichts Ähnliches hat noch sein Flug gesehn –;

Sollt' er die Erde zu durchsuchen denken,

Doch würde unerreicht das Eiland stehn,

Zu dem des Vogels Schwingen jetzt sich senken;

Bedächtig läßt er sie im Kreise drehn –.

Bebautes Land, der Hügel sanft Gefälle,

Wiesen und schatt'ger Strand und Bächlein helle:


21.

Sieh dort des sanften Lorbeers Büsche prangen!

Und Myrten hold und Palmen rings im Hag!

Zitronen und Orangen golden hangen

Und Frucht und Blüten, was es geben mag;

Der Blätter Dächer bieten Schutz: sie fangen

Den Sonnenstrahl am heißen Sommertag,

Und im Gezweige hüpfend läßt erschallen

Sein schmelzend Lied ein Chor von Nachtigallen.


22.

Rotröselein und Lilie weiß der Heiden,

Frisch in den Lüften schmeichelnden und laun,

Sehn Hasen und Kaninchen sicher weiden

Und Hirsche stolz und ernst auf grünen Aun,

Die sonder Furcht, Verfolgung zu erleiden,

Die Gräser rupfen oder wiederkaun.

Damwild und Böcke fliegen hin in Sätzen;

Gar zahlreich sind sie dort an stillen Plätzen.


23.

Als sich der Erde nahn des Tieres Schwingen,

Daß man wohl einen Sprung darf wagen hier,

Alsbald vom Sattel muß sich Roger schwingen –

Weich fiel er in ein blumiges Revier.

Die Zügel fest noch in der Hand ihm hingen,

Daß nicht das Roß sich in die Luft verlier'.

An eine Myrte fesselt er's durch Bande

Grad zwischen Ficht' und Lorbeerbaum am Strande.
[110]

24.

Dann legt er, wo sich nah um eine Quelle

Zitronenbäum' und hohe Palmen reihn,

Handschuh und Schild an eine grüne Stelle,

Vom Helm darauf die Stirne zu befrein:

Er blickt zum Berg, auf Wogen, blaue, helle,

Und Kühlung frische Lüfte ihm verleihn,

Die um die mächt'gen Wipfel raunend weben

Und Tann' und Buche lassen wohlig beben.


25.

Nunmehr in klaren, frischen Fluten kühlt er

Die trocknen Lippen, und im Händebad

Aus seinen Adern fort die Gluten spült er,

Die ihm der Harnisch brachte nachgerad.

Kein Wunder, diesen ganz empfindlich fühlt er:

Was er vollbracht, war keine Promenad'!

In ganzer Rüstung, ohne je zu weilen,

Hat er zurückgelegt dreitausend Meilen.


26.

Da sieh, der Renner, den er dort gelassen,

Wo dichtes Blattwerk frischen Schatten bringt,

Bäumt auf, zu fliehn, als woll' ihn Schrecken fassen

Durch etwas, das aus jenen Büschen dringt;

Zerrt an der Myrte, beugt sie übermaßen,

Daß er mit Zweigen sich den Fuß umschlingt;

Die Blätter fallen und die Äste krachen;

Doch nicht gelingt es ihm, sich frei zu machen.


27.

Wie in dem Klotze, hohl und marklos innen,

Den man ans Feuer brachte auf dem Herd,

Nachdem die Luft, die dumpfe, die ihn drinnen

Erfüllte, ward durch Hitze aufgezehrt,

Ein Sieden und Rumoren mag beginnen,

Bis schließlich sich die Wut nach außen kehrt,

So zischt und murrt, als ob sie Zorn empfinde,

Die Myrte: sieh, da öffnet sich die Rinde,
[111]

28.

Und eine Stimme klingt in flehnden Klagen,

Und deutlich fügt es sich zu Worten gar:

»Bist du so gut und edel«, hört man's sagen,

»Wie es die schönen Züge stellen dar,

Wolle dies Tier von meinem Baume jagen!

Was schon mich peinigt, das genügt fürwahr!

Nicht weitre Schmerzen, traun, braucht man zu wählen,

Um auch von außenher mich noch zu quälen.«


29.

Beim ersten Ton sprang Roger auf und wandte

Sich nach der Richtung, wo er das vernahm;

Versteinert blieb er stehn, als er erkannte,

Wie aus dem Baum heraus die Stimme kam.

Nachdem er rasch von dort das Pferd entspannte

(Die Wangen fingen an zu glühn vor Scham),

Sprach er: »Wer du auch sein magst, was ich fehle,

Verzeih, Waldgöttin oder Menschenseele!


30.

Daß hier ein Geist sich barg, nicht konnt' ich's denken,

Als ich das schöne Laubhaar dir verwirrt,

Und daß in knorr'ger Rind' er sei zu kränken;

So schuf ich Unheil der lebend'gen Myrt'.

Der Bitte wolle nun Erfüllung schenken:

Sprich, wer hat sich in strupp'gen Leib verirrt,

Daß er, mit Stimm' und Seele, lebend leide? –,

So wahr des Himmels Hagel dich vermeide!


31.

Und fügt es sich, daß ich für mein Vergehen

Ersatz dir leisten kann zu einer Zeit,

So soll es – heilig schwör' ich's dir – geschehen;

Bei jener, der mein beßres Teil geweiht,

Mit Worten und mit Taten, sollst du sehen,

Erring' ich dann von dir Zufriedenheit.« –

Als so der Ritter hat geendet eben,

Sieht man den Baum vom Fuß zum Wipfel beben.
[112]

32.

Die Rinde schwitzt, wie Holz aus Waldgehegen,

Das frisch geschlagen ward in seinem Saft,

Der Feuerglut setzt Widerstand entgegen

Und sich vergebens wehrt mit aller Kraft.

Es klingt darauf: »Du zwingst mich darzulegen

Und zu entdecken, wer ich vor der Haft,

Gewesen bin und wer mich hier zum Baume

Verwandelt hat am schönen Meeressaume.


33.

Ich hieß Astolf, war Paladin, mich kannte

Frankreich als wohlbewährt im Kriegesspiel.

Rinald und Roland waren mir Verwandte,

Sie, deren Ruhm nicht Ende hat noch Ziel.

England, das mich des Reiches Erben nannte,

War mein, wenn Otto dem Geschick verfiel.

Schön war ich auch, stand bei den Fraun in Gnaden

Und schuf doch schließlich mir allein den Schaden.


34.

Heim kehrt' ich von den fernen Inselstranden,

An die von Ost die Meerflut Indiens floß.

Rinald und ich mit andern, wir befanden

Uns in dem Kerkerraum, der uns umschloß.

Da brachte Rettung aus den schnöden Banden

Mit seiner Riesenkraft der Milonsproß,

Worauf wir westwärts längs der Küste fuhren,

Die oft des Nordwinds Wüten schon erfuhren.


35.

Das Schicksal will, daß wir auf unsern Wegen,

Als wir uns in der Früh' am Strand ergehn,

Ein Schloß, hübsch nach dem Meere zu gelegen

– Der Hex' Alcina war's gehörig –, sehn.

Wir finden sie, – nicht in den Burggehegen,

Nein, einsam am Gestad' des Meeres stehn,

Und ohne Netz und ohne Angel brachte

Sie Fisch' ans Land, so viel ihr Freude machte.
[113]

36.

Da huschen flinke Haufen von Delphinen;

Mit offnem Maule kommt der dicke Thun,

Walroß und Robben mit den greisen Mienen,

Emporgeschreckt aus ihrem faulen Ruh'n:

Lachs, Barbe, Butt und Meeraal, und zu ihnen

Die größten aus der Herde des Neptun,

Wal, Pottfisch, Butzkopf, Narwal sich gesellen;

Die Riesenrücken ragen aus den Wellen.


37.

Da ist ein Wal, der mächtigste von allen,

Die je gesehen wurden in dem Meer;

Fettlagen dick um seinen Hals sich ballen,

Die Schulter ragt elf Schritt empor und mehr;

So daß wir insgesamt dem Wahn verfallen,

Wir kommen hier zu einem Eiland her:

Es stand; man sah's sich rühren nicht noch wenden;

Groß war der Zwischenraum der beiden Enden.


38.

Die Fische lassen ihre nassen Bahnen,

Sobald die Hex' ein Wort, ein Sprüchlein sagt.

Sie kam zur Welt als Schwester von Morganen,

Ob früher, später – hab' ich nicht erfragt.

Alcina sah mich an – schon mocht' ich ahnen

(Nach ihrem Antlitz), ich hab' ihr behagt;

Mich schlau hinwegzulocken, zu berücken,

Sann sie mit List; zu gut nur sollt' es glücken.


39.

Sie trat heran mit Anstand edler Sitten,

Anmutig, höflich und mit heitrem Wort;

Sie sprach: ›Ihr werten Herrn, darf ich euch bitten:

Nehmt Herberg' heut bei mir an diesem Ort!

Ich zeig' euch, was die Jagd aus Meeres Mitten

Mir brachte, schöne Fische jeder Sort';

An schupp'gen, weichen, rauhen ein Gewimmel

Und mehr, als oben Sterne sind am Himmel!‹
[114]

40.

Eine Sirene drauf uns anzusehen,

Die Stürme stillt mit süßen Melodie'n,

Zum anderen Ufer wir hinübergehen,

Wo sie zu dieser Stunde stets erschien,

Als wir mit einemmal vorm Walfisch stehen,

Der, wie gesagt, ein kleines Eiland schien.

Fürwitzig stets – wie sollt' ich es beklagen! –

Mußt' ich hinüber auf den Fisch mich wagen.


41.

Und ob Rinald mir Warnerzeichen machte,

Dudo desgleichen, half es mir nicht mehr;

Alcina ließ – hei, wie die Hexe lachte! –

Die andern, sprang geschwinde zu mir her.

Gleich regte sich der auf sein Amt bedachte

Walfisch und schwamm hinaus ins salz'ge Meer.

Jetzt reuten mich wohl meiner Torheit Bande,

Doch allzuweit schon waren wir vom Strande.


42.

Rinald war, mich zu retten, nachgeschwommen

Und hätte selbst sich fast den Tod gebracht,

Denn wütend war ein Sturm heraufgekommen,

Der Meer und Himmel hüllte tief in Nacht.

Was aus ihm ward, ich hab' es nicht vernommen.

Alcina war auf meinen Trost bedacht.

Mitten im Meer, ans Ungetüm gebunden,

Hielt sie mich Tag und Nacht, viel bange Stunden,


43.

Bis wir zuletzt hier an das Ufer steigen;

Der Zaubrerin gehört zumeist das Land,

Das einer Schwester war vom Vater eigen,

(Eh sie es nahm mit räuberischer Hand),

Weil die als echtes Kind sich konnte zeigen,

Derweil (ich hab's von einem, dem bekannt

Die weitren Einzelheiten allzusammen)

Die beiden andern vom Inzeste stammen.
[115]

44.

Und wie in Schand' und Sünden diese leben

Und voll sind jedes Lasters auf der Welt,

Hat jene Maid, der Keuschheit hingegeben,

Auf hohe Tugend ihren Sinn gestellt.

Doch als die zwei sich gegen sie erheben

Und Heer auf Heer entsandten in das Feld,

Sind mehr als hundert Schlösser ihr entrissen;

Sie zu verjagen, sind sie jetzt beflissen.


45.

Und jene, die sie Logistilla nennen,

Besäße kaum mehr einen Fuß breit Land,

Wär' hier nicht ein Gebirg', das wen'ge kennen,

Und dort ein Meeresgolf die Scheidewand,

So wie das Schottenreich von England trennen

Die Bergeshöhen und der Meeresstrand.

Doch auch das Wenige, das ihr geblieben,

Zu rauben, ist das Ziel von jenen Dieben.


46.

Weil lasterhaft das Paar ist, muß es hassen

Sie, die voll Züchten stets und heilig war.

Doch will ich diesen Gegenstand nun lassen;

Wie ich zur Pflanze wurde, werde klar.

Alcine ließ mich schwelgen übermaßen

Und stand in Liebesfeuer ganz und gar.

Sie selber, schön und artig anzusehen,

Ließ bald auch mich für sie in Flammen stehen.


47.

Sie gönnet mir der zarten Glieder Wonnen;

Ich bin es, der in vollem Zug genießt,

Was Menschenkindern beut der Glückesbronnen,

Der stets nur spärlich, niemals reichlich fließt.

Frankreich und alles sonst ist wie zerronnen;

Ich hang' am Antlitz, das mein Heil umschließt.

Sie ist das Ziel – dort endigt Tun und Trachten –,

Der Grenzstein, den ich nimmer kann mißachten.
[116]

48.

Und so geliebt ward ich von ihrer Seite;

Sie kümmert nimmer sich um andre mehr:

Die sonst'gen Buhlen schickt sie in die Weite

(Denn früher waren freilich andre mehr).

Mich als Berater will sie stets zur Seite,

Mich als Gebieter ob der andren Heer,

Mir glaubte sie, ich war ihr der Vertraute,

So daß sie nie nach einem andern schaute.


49.

Warum, ach, rühr' ich an die alten Wunden,

Wo keine Hoffnung für den Schmerz bereit?

Der Lust gedenkend, die dahingeschwunden,

Derweil ich dulde hier unsäglich Leid?

Ich wähnte schon das Glück an mich gebunden

Und ihre Liebe größer allezeit,

Als sich ihr Herz auf einmal von mir wandte

Und neu in Glut für einen andren brannte.


50.

Gleichzeitig – spät erkannt' ich's – war das Lieben

Und Nimmerlieben ihrem Flattersinn:

Als ich zwei Monde war im Land geblieben,

Schloß einen neuen Bund die Buhlerin.

Mich hat sie schmählich von sich fortgetrieben;

All ihre Gunst und Huld war nun dahin.

Behandelt hatte sie mit gleichem Spiele,

Hört' ich, ohn' Anlaß, schon der Buhlen viele.


51.

Zögen die Abgesetzten nun von dannen,

So hörte ja die Welt den argen Brauch,

Drum werden sie verwandelt hier in Tannen,

Ölbäume oder Palmen, Zedern auch,

Und wieder andre läßt sie grausam bannen,

Wie mich du siehst, in grünen Myrtenstrauch,

In Quellen andre oder wilde Tiere,

Wie's grad der Zaubrin paßt, im Waldreviere.
[117]

52.

Du aber, der auf ungewohnten Wegen,

Herr, in dies Unglückseiland dringst herein,

Daß irgendein Galan um deinetwegen

Verwandelt werd' in Wasser oder Stein,

Nimm Reich und Zepter eine Weil' entgegen,

Um mehr als alle Menschen froh zu sein;

Allein auch du trittst dann auf alle Fälle

In Holz, in Fels, in Tier ein oder Quelle.


53.

Ich habe gerne dir Bescheid gegeben,

Wenn's auch nicht grad von Nutzen für dich ist;

Gut ist es stets, gewarnt voranzustreben:

Denk, daß du nun des Brauches kundig bist.

Wenn das Gesicht verschieden ist im Leben,

Mag auch Verstand verschieden sein und List:

Dem Schaden, den die andern nicht vermieden,

Vielleicht ist ihm zu trotzen dir beschieden.«


54.

Roger, dem Astolf, seiner Dame Vetter,

Schon längst bekannt vom Hörensagen war,

Betrübte sich, als er in Holz und Blätter

Ein Antlitz sah verwandelt ganz und gar.

Und Bradamant zuliebe gerne hätt' er

(Wär' ihm dabei das Wie nur offenbar!)

Ihm Beistand hier geleistet; doch zur Stunde

Konnt' er nichts tun als trösten mit dem Munde.


55.

Er tat's nach Kräften, um sodann zu fragen,

Ob nicht ein Weg – durch Tal, durch Berge – sei

Zum Reiche Logistillas einzuschlagen,

Am Lande der Alcina hübsch vorbei.

Wohl gäb' es den, hört' er die Myrte sagen,

Doch nur durch eine stein'ge Wüstenei;

Ein wenig rechtshin mög' er sich bewegen,

Aufwärts, dem Alpengipfel dann entgegen.
[118]

56.

Doch leicht geschäh' es, daß Gefahr ihm drohte,

Zög' er auf diesem einen Wege fort;

Denn wilde Menschen, rechte Schlagetote,

Und eine böse Sippschaft hausen dort.

Sie stehn der Fee statt Mauern zu Gebote,

Wenn einer fliehen wolle von dem Ort.

Roger hat seinen Dank dem Baum entrichtet

Und scheidet dann, belehrt und unterrichtet.


57.

Er geht zum Pferd, löst es und nimmt die Zügel,

Geht selbst zu Fuß, das Roß trabt hinten sacht.

Denn nicht wie früher steigt er in die Bügel:

Leicht hätt' es ihn zu anderm Ort gebracht.

Auf sichren Wegen über Tal und Hügel

Dem Reiche dort zu nahn ist er bedacht.

Und fest vor Augen hat er eins vor allen:

Nicht in die Macht der Zaubrerin zu fallen.


58.

Er dachte freilich sich aufs Roß zu schwingen

Zu neuem Ritte durch das Luftrevier,

Doch könnte dies ihm größres Übel bringen,

Denn allzu störrisch war das Flügeltier.

»So werd' ich mit Gewalt das Ding erzwingen«,

Sprach er bei sich – doch anders kam es hier.

Zwei Meilen weit kaum ging er an der Küste,

Als ihn die schöne Stadt Alcinens grüßte.


59.

Fern sieht er eine lange Mauer scheinen,

Die in der Runde vieles Land umspannt;

Sie will an Höh' dem Himmel sich vereinen

Und ist aus Gold von unten bis zum Rand.

Wenn jemand, andrer Ansicht als der meinen,

Es Messing nennt – ob minder sein Verstand,

Ob mehr als mir ihm die Minerva hold ist –,

Weil es so glänzt, behaupt' ich, daß es Gold ist.
[119]

60.

Als Roger näherkommt der großen Mauer,

Der in der Welt der erste Platz gebührt,

Läßt er den breiten Weg, der in genauer

Gerader Richtung zu den Toren führt;

Rechts strebt der sichre Pfad empor an rauher

Felswand: er ist es, den der Held erkürt.

Bald aber tauchen auf die Waldgesellen,

Die sich mit Wüten in den Weg ihm stellen.


61.

Nie sah man noch so wunderliche Fratzen,

Bildungen seltsam, scheußlich und verzwickt:

Köpfe von Affen hier und dort von Katzen,

Abwärts vom Hals man Menschenleib erblickt.

Bocksfüße stampfen hier, dort Bärentatzen,

Kentauren gibt es, hurtig und geschickt,

Und Burschen frech und stumpfe alte Leute,

Die nackt, die greulich eingehüllt in Häute.


62.

Der reitet, zügellos, gleich Blitzesstrahle,

Langsam auf Ochs und Esel dort ein Paar;

Der springt auf den Kentaur mit einem Male,

Und viele reiten Kranich, Strauß und Aar;

Der setzt ein Horn ans Maul, der eine Schale,

Hier ist ein Mann, hier Frau, hier beides gar.

Der trägt den Haken, der die Leiterseile,

Stemmeisen jener, der die stille Feile.


63.

Dickbackig kam ihr Hauptmann angeritten,

Dem war als Zier ein fetter Wanst geschenkt;

Er saß auf einer Schildkröt' in der Mitten,

Die gar bedächtig ihre Schritte lenkt'.

Zwei, rechts und links, um ihn zu halten, schritten:

Er war berauscht und trug den Kopf gesenkt;

Einer hat Stirn und Kinn ihm abzuwischen,

Einer muß fächeln, um ihn zu erfrischen.
[120]

64.

Ein Ungetüm mit Menschenfuß und -leibe,

Doch Hundehals und -ohr und -schädelstück,

Bellt gegen Roger an und meint, es treibe

Ihn zu der schönen Zauberstadt zurück.

Da ruft der Ritter: »Nimmermehr, ich bleibe,

Solange dies noch mein zum guten Glück!«

Und zeigt sein gutes Schwert und droht dem Wichte,

Die Spitze scharf vor dessen Angesichte.


65.

Nun eilt der Unhold, seinen Speer zu schwingen,

Doch plötzlich stürzt der Ritter auf ihn los,

Und in den Wanst läßt er das Eisen dringen,

Heraus zum Rücken ragt es händegroß.

Den Schild am Arm will Roger vorwärts springen –

Ja, hätt' er Raum sich zu bewegen bloß!

Der sticht ihn vorn, der fällt ihm in den Rücken –

Er wehrt sich wild, schlägt alles rings in Stücken.


66.

Durchschnitten bis zum Maul muß der erkalten,

Zerhaun liegt jener bis aufs Brustgebein,

Denn alles mag die gute Klinge spalten,

Helm, Schild und Panzer haut sie kurz und klein.

Doch wird der Held so eingeengt gehalten,

Daß, fortzuscheuchen all der Feinde Reihn

Und Raum zu schaffen im verruchten Schwarme,

Mehr nötig wären als Briareus' Arme.


67.

Ja, wenn des Schilds er jetzt gedenken wollte,

Des herrlichen vom alten Nekromant!

Der Blendung gab, wenn man das Tuch entrollte,

Und den am Sattel ließ des Atlas Hand!

Wie rasch er das Gesindel zwingen sollte!

Blind würden alle stürzen miteinand!

Vielleicht war grade dies ihm widerwärtig:

Kraft bringe, nicht Betrug, die Siegtat fertig!
[121]

68.

Sei's, wie es sei, er hat sich Tod geschworen,

Müßt' er so niedren Volks Gefangner sein –

Doch sieh, da kommen aus der Mauer Toren

(Hell leuchtend, wie gesagt, in Goldes Schein)

Zwei Mägdlein hold, voll Anstand auserkoren,

Auch nach der Kleidung hochgestellt und fein;

Erwachsen nicht in dürft'ger Hirtenklause,

Nein, wonniglich in stolzem Königshause.


69.

Auf einem Einhorn weiß wie Hermeline

Gelagert beide, zogen sie heran,

So reich geschmückt und von so holder Miene,

Fremdartig hoheitsvoll, daß einem Mann

Es Aufgab' eines Götterauges schiene,

Zu sagen, welche hier den Preis gewann.

Wenn Reiz und Schönheit jemals leibhaft walten

Und Anmut, wär's in diesen Huldgestalten.


70.

Wie beide zu der Wiese nun gelangen,

Wo Roger im Gedräng des Haufens stand

(Der Schwarm war rasch auf und davon gegangen),

Da boten sie dem Ritter fein die Hand.

Ihm färbten rosenrot sich jetzt die Wangen,

Als für die Huld er Dankesworte fand.

Dann, ihnen einen Wunsch nicht zu verwehren,

Willigt er ein, zum Tor zurückzukehren.


71.

Zum Schmuck des Architraves sich vereinen

– Überm Portal ragt er ein wenig vor –

Endlose Zahl von seltnen Edelsteinen,

Wie nur das Morgenland sie bringt hervor.

Aus eitel Demant dicke Säulen scheinen,

Die an vier Seiten tragen dieses Tor.

Ob das nun unecht oder ob es echt ist,

Für höchste Augenlust es just so recht ist.
[122]

72.

Über die Schwelle hin und Säulenhallen

Gehn üpp'ge Mädchen scherzend aus und ein;

Wollt' ihnen Züchtigkeit nur mehr gefallen,

So könnten sie vielleicht noch schöner sein.

Grünfarbne Kleider sieht man schier an allen,

Die Häupter tragen frische Kränzelein.

Entgegenkommend, nett in jeder Weise,

Führen sie Roger nach dem Paradeise.


73.

Denn also kann man wohl den Ort begrüßen,

Wo Amor, mein' ich, seine Heimat hat;

Und Tanz und Spiel der Stunden Flucht versüßen,

Der frohen Feste wird man niemals satt.

Grauhaar'ge Weisheit und der Wunsch zu büßen –

Die haben in den Herzen keine Statt.

Nicht Mangel naht hier mit den leeren Händen,

Nur Überfluß will stets sein Füllhorn spenden.


74.

Hier, mit der Stirne heiter stets und helle,

Für ewig, scheint's, lacht lieblicher April,

Sind Jünglinge und Frauen; nah der Quelle

Süßinnig der sein Liedchen singen will;

Der unterm Baum, am Berg, an schatt'ger Stelle

Spielt oder tanzt, vergnügt wohl auch sich still;

Und der, den andern fern, vertraut dem Herzen

Des Freundes seines Liebesleides Schmerzen.


75.

Wo Buchen hoch und Pinienwipfel wiegen,

Und bei dem Lorbeer strupp'ge Tannen stehn,

Hold tändelnd junge Liebesgötter fliegen:

Der hat ein Herz für seinen Pfeil ersehn,

Und jener triumphiert nach schnellen Siegen;

Der zielt, und diesen sieht man Schlingen drehn;

Im Bach Geschosse härtet jener Kleine,

Und der da spitzt sie zu auf glattem Steine.
[123]

76.

Man führt für Roger einen feurig flinken,

Gewalt'gen Hengst – ein Brauner ist's – herbei;

An dem Geschirre Prachtjuwelen blinken

Und pures Gold in schöner Stickerei.

Und einen Knaben holen sie durch Winken,

Daß er des Flügeltieres Hüter sei;

Hinter dem Helden, mit geringrer Eile,

Am Zaum gehalten, trabt es alleweile.


77.

Die beiden Holden, die entweichen machten

Den wilden Haufen dort am Bergesrand

Und Ungetüme, die den Weg bewachten,

Der rechts hin weiterführte durch das Land,

Sie sprachen: »Edler Ritter, die vollbrachten

Großtaten deines Arms sind uns bekannt;

Drum bringen wir die Bitte dir entgegen,

Auch uns jetzt beizustehn mit deinem Degen.


78.

In zwei getrennte Teile, wirst du sehen,

Scheidet die Ebne hier ein sumpf'ger Spalt;

Dort pflegt das Weib Eriphyle zu stehen

Und sperrt da stets mit Tücke und Gewalt

Die Brücke allen, die hinübergehen;

Und eine Riesin ist sie von Gestalt,

Mit langen Zähnen, gift'gem Biß und Tatzen,

Scharfen, die ganz wie Bärenklauen kratzen.


79.

Und dieses nicht allein muß uns empören,

Daß sie gesperrt die freie Straße hält;

Auch in den Garten läuft sie, zu zerstören

Bald dies, bald das, was in die Hand ihr fällt.

Und denk, als Kinder viele ihr gehören

Vom Schwarm, der dir sich in den Weg gestellt.

Ihr folgen alle, sind gleich ihr abscheulich,

Ungastlich, räuberisch, kurzum ganz greulich.«
[124]

80.

Sprach Roger: »Nicht, daß eine Schlacht ich schlage,

Nein, hundert möchte ich für euch bestehn.

Ich und was Gutes nur man von mir sage,

Soll, wie ihr wollt, euch ganz zu Diensten stehn;

Wenn ich als Ritter Schien' und Harnisch trage,

Will ich nicht Geld und Gut errungen sehn,

Nein, lediglich den andern Beistand leisten

Und schönen Frauen so wie euch am meisten.«


81.

Wie sich's geziemt genüber hohem Degen,

Ward jetzt anmut'ger Dank ihm ausgedrückt;

So plaudernd gingen sie dem Ort entgegen:

Sie fanden dort die Ufer überbrückt.

Schon sahen sie das Mannweib sich bewegen

In goldner Rüstung, edelsteingeschmückt.

Ob Roger hat mit dieser angebunden,

Das wird im nächsten Sange vorgefunden.

Quelle:
Ariosto, Ludovico: Der rasende Roland. In: Sämtliche poetischen Werke, Berlin 1922, Band 1, S. 104-125.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der rasende Roland
Die Historia vom Rasenden Roland
Ludovico Ariosts Rasender Roland nacherzählt von Italo Calvino

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