Zwölfter Gesang

[243] 1.

Als Ceres von der Mutter wiederkehrte

Vom Ida, eilig, in das stille Tal

(Wo Ätnas Last den Enkelad beschwerte,

Nachdem ihn rächend traf der Himmelsstrahl)

Und nicht die Tochter fand, die heißbegehrte,

Die fern blieb jedem Pfad, hat sie vor Qual

Sich Wang' und Brust zerfleischt, des Leids beflissen,

Und Augen – dann zwei Fichten ausgerissen.


2.

Die ließ sie durch die Glut Vulkans entzünden,

Und Dauer gab sie ihnen, die nicht schwand,

Daß sie als Fackeln ihr in Händen stünden

Im Wagen, dran zwei Drachen sind gespannt,

Und sucht in Wald und Feld, Berg, Flur und Gründen,

In Teich und Fluß und Strom und Sumpfesland

Und Erd' und Meer – und als die Welt durchzogen,

Ist sie zum Tartarus hinabgeflogen.


3.

Könnt' an Vermögen Roland sich vergleichen

Der Göttin, wie er's kann an Sehnsuchtsglut,

Er würde wahrlich Berg und Tal durchstreichen,

Angelika zu suchen, Wald und Flut

Und Erd' und Himmel, und den Ort erreichen,

Wo tief das ewige Vergessen ruht.

Doch weil er keinen Wagen hat mit Drachen,

Muß er, wie's eben geht, die Sache machen.
[244]

4.

Er forscht, so plant er – Frankreich ist durchzogen –,

Italien jetzt, sodann auch Deutschland aus,

Kastilien neu und alt und (durch die Wogen

Des Spaniermeers) auch Libyens Wüstengraus.

Grad als er dies hat still bei sich erwogen,

Hört er den Klageruf vom Wald heraus.

Er sprengt hinzu, und wen'ge Schritte weiter

Sieht er auf mächt'gem Renner einen Reiter,


5.

Der vor sich auf dem Sattel hält in Armen

Gewaltsam ein verzweifelt Mägdelein:

Sie sträubt sich, weint; der Klageruf der Armen

Klingt herzbewegend, und mit lautem Schrein

Fleht sie den Herrn von Anglant um Erbarmen;

Der blickt sie an und meint, sie müss' es sein,

Gerade sie, nach der bei Nacht und Tage

Durch Frankreich hin und drum herum er jage.


6.

Ich sage nicht: sie war's – nur daß er glaubte,

Die Vielgeliebte sei's, Angelika.

Daß man ihm seine Herrin, Göttin raubte

Und daß vor seinen Augen es geschah –,

Darob vor Zorn und höchster Wut er schnaubte

Und schrie den Reiter an: »Du, halte da!«

Er schrie ihn dräuend an mit graus'ger Stimme

Und spornte Güldenzaum ihm nach voll Grimme.


7.

Stumm bleibt der Dieb, ist nicht zum Stehn zu bringen,

Und nur für seine Beute hat er Sinn:

Schwer käm' der Wind ihm nach mit seinen Schwingen,

So pfeilschnell jagt er durch die Zweige hin.

Der flieht, der folgt – die tiefen Wälder klingen

Vom Klageruf der schönen Dulderin.

So kommen sie auf eine große Wiese;

Ein Schloß, gar reich und prächtig, zieret diese.
[245]

8.

Aus Marmor mannigfaltig, stolz und heiter

Das Haus, kunstvoll gebaut, gen Himmel ragt.

Zur goldnen Tür hinein ritt nun der Reiter,

Im Arme hielt er jene schöne Magd.

Auf Güldenzaum erscheint ein Weilchen weiter

Graf Roland trutziglich und unverzagt.

Ringsum im Kreis läßt der die Augen gehen:

Jungfrau und Krieger sind nicht mehr zu sehen.


9.

Ab steigt er rasch und fliegt nach allen Seiten

Wie Wetterstrahl durchs Haus, der Tiefe nach,

Wo hierhin, dorthin sich die Zimmer breiten:

Kein Raum entgeht ihm, Kammer noch Gemach.

Zum Oberstock ihn nun die Stufen leiten,

Weil jeden Anhalts unten es gebrach.

Doch war's vergebens unten, ist's auch oben;

Umsonst die Müh' – sie sind wie fortgestoben.


10.

Mit Seid' und Gold geschmückt sieht er die Betten,

Doch nichts von Mauern, nichts von einer Wand;

Sie, und wo Füße sich zu setzen hätten,

Der Boden, sind mit Teppichen bespannt.

Treppauf, treppab durchsucht er alle Stätten,

Doch wird ihm nicht der Augentrost gesandt,

Das Mädchen oder jenen Dieb zu schauen,

Der fortgeschleppt die schönste aller Frauen.


11.

Wie er den Schritt so hierhin, dorthin wandte,

Erfüllt von Sorgen, in Gedanken schwer,

Sah er Gradaß, den König, Sakripante

Und Brandimarte mit noch andern mehr,

Und jeder so wie er vergebens rannte

Treppauf und -nieder in dem Haus umher,

Und alle auf den bösen, unsichtbaren

Schloßherrn gar aufgebracht und wütend waren.
[246]

12.

Sie klagen, also suchend, unverhohlen,

Geraubt sei ihnen dieses oder das:

Dem ist sein Roß und dem sein Lieb gestohlen;

Sie sind voll Wut – so geht's ohn' Unterlaß;

Dem fehlt was andres –, alle stehn auf Kohlen,

Denn auch kein Ausgang ist aus dem Gelaß,

Und viele sind, von dieser List gefangen,

Schon Wochen, Monde lang herumgegangen.


13.

Umsonst war Roland auf und ab geflogen,

Vier-, sechsmal durch das sonderbare Haus;

Da sagt er sich: »Hier werf' ich – wohlerwogen –,

Wenn ich verweile, Müh' und Zeit hinaus:

Mit ihr inzwischen ist schon abgezogen

Der Dieb aus andrer Tür vom Haus heraus.«

So ging er jenem Wiesengrün entgegen,

Das rings um den Palast her war gelegen.


14.

Das stille Haus beginnt er zu umschreiten,

Dabei zum Boden stets das Haupt gebückt,

Und späht nach rechts, nach links, nach allen Seiten,

Ob neue Spuren nicht sind eingedrückt.

Da hört er seinen Namen, nicht vom weiten:

Er hebt die Augen auf und hört beglückt

Die Stimme, sieht die Züge auserlesen,

Die teuren, die verwandelt all sein Wesen.


15.

Angelika mit flehenden Gebärden

Ruft weinend: »Komm, o hilf mir, komm zu mir!

Mein Magdtum, mir das Teuerste auf Erden,

Mehr als das Leben selbst, empfehl' ich dir;

Soll ich von Räubern denn bewältigt werden,

Vor Augen meines lieben Roland hier:

Dann laß mich eher rasch des Todes sterben

Von deiner Hand, als schmählich so verderben!«
[247]

16.

Er sucht, durchsucht aufs neu das Schloß, das schlimme,

Wobei er in ein jedes Zimmer dringt,

Mit viel Beschwerd' und Müh' und voller Grimme;

Und Linderung allein die Hoffnung bringt.

Stehn bleibt er manchmal und vernimmt die Stimme,

Und ganz wie von Angelika sie klingt,

Und ist er hier, so wird sie dort vernommen,

Und dunkel bleibt, woher sie wohl mag kommen.


17.

Zu Roger nun, den ich auf schatt'gem Pfade

Dem Riesen und der Maid nachjagen ließ,

Und der bei jenes Räubers Retirade

Vom Wald heraus auf eine Wiese stieß!

Dieselbe ist's, die Roland sah gerade,

Wenn mich mein Ortsgedächtnis nicht verließ.

Dem Ungeschlachten, der ins Tor hinein eilt,

Voll Eifer folgend Roger hinterdrein eilt.


18.

Als auf der Schwelle seine Füße stehen,

Blickt er den Hof und Säulengang entlang:

Jungfrau und Riese sind nicht mehr zu sehen,

Soweit ringsum sein suchend Auge drang;

Und mocht' er auf und ab die Treppen gehen,

Was er ersehnte, niemals ihm gelang;

Es war in keiner Weis' herauszufinden,

Wo jene beiden konnten hin verschwinden.


19.

Als auf und ab durch Zimmer, Säle, Gänge

Viermal und fünfmal er gelaufen war,

Durchsucht er nochmals jedes Winkels Enge,

Sucht unterhalb der Treppe noch sogar.

Zuletzt, daß nicht der Ries' im Wald entspränge,

Ging er hinaus – da hört er, um ein Haar

Wie Roland, seinen Namensruf erschallen,

Der ihn zurücktreibt in des Schlosses Hallen.
[248]

20.

Dieselbe Stimm' und nämliche Person ist's,

Die für Graf Roland war Angelika:

Für Roger jetzt die Dame von Dordon ist's,

Durch die er sich sein Ich entrissen sah;

Für alle just der Frauen Preis und Kron' ist's,

So viel der Ritter sind im Schlosse da;

Ein jeder als die Schöne sie erachtet,

Für die sein Herz gerad in Sehnsucht schmachtet.


21.

Das waren neue seltne Zauberdinge,

Die jener Atlas von Karena bot,

Daß Roger hier geschützt die Zeit verbringe

In Liebesmühen süßer Pein und Not,

Damit der Einfluß so vorüberginge,

Der böse Einfluß, der den Tod ihm droht,

Nichts half die Stahlburg und auch nichts Alcine:

Drum sucht er, ob ihm dieses Mittel diene.


22.

Die Helden, die empor am höchsten ragen

Im Frankenreich an Mut und Armeskraft,

Hätt' er, damit sie Roger nicht erschlagen,

Gern all in dieses Zaubernetz geschafft.

Und daß sie niemals über Hunger klagen,

Derweil sie drin erdulden solche Haft,

Ins Schloß so viele gute Dinge kamen,

Daß sich behaglich fühlen Herrn und Damen. –


23.

Nun zu Angelika, die dank dem Funde,

Dem rückerlangten wunderbaren Ring,

Unsichtbar ward, wenn sie ihn trug im Munde

Und, wenn am Finger, Zauberein entging!

Gefunden hatte sie im Höhlengrunde

Ein Kleid, ein Pferd und Speisen, manch ein Ding,

Des sie bedurft, und jetzt war all ihr Streben,

Nach Indien in ihr Heim sich zu begeben.
[249]

24.

Sie hätte Roland oder Sakripante

Nun gern auf ihrer Reise zum Genoß;

Nicht daß ihr Herz sich mehr zu einem wandte:

Für beide kalt ihr Blut in Adern floß.

Doch führte ja der Weg nach der Levante

Durch gar so manche Stadt und manches Schloß,

Da wäre wohl zu brauchen ein Begleiter;

Und zuverlässig schien ihr keiner weiter.


25.

Lang ist sie suchend hin und her gezogen,

Eh' sie von jenen eine Spur erhält;

In Städten, Dörfern ist die Zeit verflogen

Und, wo es sonst noch sei, in Wald und Feld.

Da schickt das Glück sie, das ihr jetzt gewogen,

Hin, wo mit Roger Roland weilt, der Held,

Und sich Gradaß und Sakripant befinden

Und andre, die in Atlas' Netz sich winden.


26.

Sie tritt hinein, vom Zaubrer ungesehen,

Durchsucht, versteckt vom Ring, das ganze Haus

Und sieht da: Sakripant und Roland gehen,

Um sie zu finden, immer ein und aus;

Sieht Atlas an den beiden Trug begehen

Mit ihrem Bild von Fenstern dieses Baus,

Sie sinnt, wer als Genoß ihr nützt von beiden

Am meisten, und sie kann sich nicht entscheiden.


27.

Ist Roland auszuwählen wohl gescheiter?

Oder Zirkassiens König stolz und hehr?

Roland mag freilich als der stärkre Streiter

Sie schirmen in Gefahren wohl noch mehr;

Doch hat sie einen Herrn, wenn er Begleiter,

Und ihn zu ducken wäre sicher schwer.

Was tun, wenn sie von ihm genug wird haben,

Und wünscht, er möge heim nach Frankreich traben?
[250]

28.

Fortschicken aber kann sie den Zirkassen,

Wann's ihr gefällt – bis in des Himmels Aun,

Drum als Begleiter scheint er ihr zu passen,

Und Eifer will sie zeigen und Vertraun.

Sie nimmt den Ring, und ihre Züge lassen

Vor Sakripant sich ohne Schleier schaun.

Allein zu sein glaubt sie mit diesem Degen,

Doch Roland ist und Ferragu zugegen.


29.

Zugegen sind sie. Gleichen Eifers sprangen

Treppauf und -ab im Hause diese zwei,

Innen und außen, dahin zu gelangen,

Wo ihre Schöne, ihre Göttin sei.

Nachdem der Spuk des Zaubers nun vergangen,

Hin zu der Dame stürzen alle drei

(Weil an den Finger sie den Ring genommen,

Hat einen Riß des Magiers Plan bekommen).


30.

Den Harnisch alle, Helm nur zwei hier tragen

Der Helden, denen dieser Sang geweiht.

Sie legten ihren Helm in all den Tagen,

Seit sie das Haus betraten, nicht beiseit.

Sie brauchen über Schwere nicht zu klagen,

Weil sie an ihn gewöhnt sind lange Zeit.

Gewappnet ist auch Ferragu als dritter,

Doch keinen Helm will tragen dieser Ritter


31.

Als jenen, der dem Bruder ward entrissen

Trojans durch Roland einst, den Paladin;

Er schwur's, als er vergebens war beflissen,

Vom Strom den Zauberhelm ans Land zu ziehn.

Daß Roland hier sei, konnt' er noch nicht wissen

Und legte drum noch keine Hand an ihn;

Unmöglich war es, im Palast beim Wandern

Zu unterscheiden einen von den andern.
[251]

32.

So ganz verhext ist in dem Haus hier alles:

Die andern zu erkennen fehlt die Macht.

Man trennt sich von dem Harnisch keinesfalles,

Auch nicht von Schwert und Schild bei Tag und Nacht,

Und für die Pferde ist statt eines Stalles

Ein Zimmer dicht am Ausgang angebracht;

Gesattelt stehn sie, ohne Zaumesbanden:

Und Stroh und Hafer, die sind stets vorhanden.


33.

Ohnmächtig, hindert Atlas nicht durch Klagen,

Daß rasch zu Pferde stieg die kleine Schar,

Hinter den Rosenwangen drein zu jagen,

Dem goldnen Haar und schwarzen Augenpaar

Der Jungfrau, die von ihrer Stute tragen

Sich ließ, weil ihr es unlieb war,

Daß drei sich ihr gesellten um die Wette,

Die Mann für Mann sie wohl genommen hätte.


34.

Als fern vom Schloß so viel des Wegs gemacht ist,

Daß weiter zu Besorgnis kaum ein Grund

Und jeder sicher vor des Zaubrers Macht ist,

Ersinnt sie eine neue List jetzund: –

Den Ring, durch den ihr Hilfe oft gebracht ist,

Verschließt sie plötzlich in den Rosenmund

Und ist im Augenblick den drein entschwunden,

Die, ganz verwirrt, schier Wahnsinn drob bekunden.


35.

Ihr Plan war wohl gewesen, fortzugehen

Mit Roland oder König Sakripant,

Bis sie die Heimat würde wiedersehen,

Das Reich des Galafron im Morgenland –

Doch alle beide jetzt ihr widerstehen;

So hat auf einmal sich ihr Sinn gewandt:

Nur mit dem Ring, um sich nicht sonst zu binden,

Gedenkt sie weiter ihren Weg zu finden.
[252]

36.

Die drei Geprellten drehn, als sie verschwunden,

Ein dumm Gesicht nach dem entwischten Schatz

Und gleichen ganz, fürwahr, verblüfften Hunden,

Wenn Hase, Fuchs nach fast geglückter Hatz

Mit einemmal hat ein Versteck gefunden

In Höhle, Graben oder Dickichtplatz.

Angelika sieht mit vergnügten Sinnen,

Die Böse, unsichtbar, was sie beginnen.


37.

Nur eine Straße geht durch Waldesmitten:

Vermeinend, daß die Flüchtige da vorn

Vor ihnen sei auf diesem Weg geritten

(Kein andrer sonst führt durch Gebüsch und Dorn),

Eilt Roland; Ferragu läßt sich nicht bitten,

Und Sakripant braucht Gerte frisch und Sporn.

Angelika vergönnt sich größre Weile

Und folgt, die Zügel straff, in mindrer Eile.


38.

Gekommen waren sie mit ihrem Jagen

Hin, wo im Wald der Pfad gemach verschwand,

Und gingen dran, das Gras jetzt zu befragen,

Ob dort sich eine Spur von Pferden fand,

Als Ferragu, der hoch die Nas' zu tragen

Am besten von den dreien wohl verstand,

Mit bösem Blick und klirrend mit den Waffen,

Ausrief: »Ihr zwei, was habt ihr hier zu schaffen?


39.

Kehrt schleunigst um, mir diesen Weg zu lassen,

Wollt ihr nicht hier des blassen Todes sein!

Nicht will ich mit Gesellschaft mich befassen,

Ich lieb' und folge meiner Dam' allein.«

»Was könnte der«, sprach Roland zum Zirkassen,

»Wohl mehr noch sagen, säh' er in uns zwein

Die kläglichsten und feigsten Schwätzerinnen,

Die nur vom Rocken ihre Wolle spinnen?«
[253]

40.

Darauf zu Ferragu: »Du Grobgeselle,

Hielte mich nicht, daß du des Helmes bar,

So zeigte sich's gleich hier auf dieser Stelle,

Ob, was du sprachest, gut gesprochen war

Der Heide: »Was mir recht für alle Fälle,

Warum doch fändest du darin ein Haar?

Gegen euch zwei und frei von Helmesschutze

Verfecht' ich, was ich sagte, euch zum Trutze.«


41.

»Willst du nicht mir zulieb den Helm ihm leihen?«

Roland zum König von Zirkassien sprach:

»Bis ihm die Schrullen ausgetrieben seien,

Denn diesen stehn wohl alle andern nach.«

»Dann wär' ich selbst der größte Narr von dreien«,

Die Antwort ist: »scheint dir's ein Ungemach,

So leih ihm deinen; ich muß drauf beharren:

Ich züchtige wie du wohl einen Narren.«


42.

Doch Ferragu fiel ein: »Als ob, ihr Toren,

Zu tragen einen Helm, bequem mir wär'!

Ihr hättet euren eignen schon verloren;

Ich hätt' ihn mir erkämpft mit meiner Wehr.

Allein, damit ihr's wißt: ich habs geschworen,

Drum ohne Helm stets geh' ich jetzt umher

Und werde gehn, bis ich den Helm mir raubte,

Den Roland trägt, der Graf, auf seinem Haupte.«


43.

Der Graf spricht lächelnd – und die Brauen heben

Sich voller Spott: »Barhäuptig denkst du da

Im Kampfe Roland so den Rest zu geben,

Wie's Agolantes Sohn durch ihn geschah?

Doch käm' er wirklich, würdest du erbeben,

Vermein' ich schier, von Kopf zu Füßen ja,

Und keine Helmsgelüste weiter zeigen,

Nein, ihm die Waffen geben, die dein eigen.«
[254]

44.

Der span'sche Prahler rief: »Schon oft bezwungen

Hab' ich den Roland hier mit dieser Hand

Und hätt' ihm leicht nicht nur den Helm entrungen,

Auch, was sich sonst von Waffen an ihm fand.

Und tat ich's nicht, ist's meiner Laun' entsprungen,

Es wechseln ja Gedanken miteinand:

Einst hatt' ich nicht, nun hab' ich das Verlangen

Und denke leicht den Helm mir zu erlangen!«


45.

Jetzt kam dem Grafen die Geduld abhanden:

»Du arger Schuft und Lügner,« rief er, »sprich!

Zu welchen Zeiten und in welchen Landen

Besiegtest du in einem Kampfe mich?

Der Paladin, der schlecht vor dir bestanden

Und den du fern geglaubt hast, der bin ich!

Sieh zu, ob du den Helm dir kannst verschaffen

Oder auch nur behältst die andern Waffen!


46.

Und keinen Vorteil will ich hier im Streite.«

Damit löst er des Helmes Schuppenband,

Hängt ihn an einen Buchenzweig zur Seite

Und nimmt zugleich die Durendal zur Hand.

Herr Ferragu sucht keineswegs das Weite:

Er zieht das Schwert und deckt sich recht gewandt,

Daß Schild und Schwert gleichwie ein Dach ihm nützen

Und dergestalt sein nacktes Haupt beschützen.


47.

Im Kreis sich hurtig drehend auf den Rossen,

Als flinke Reiter stellten sie sich dar:

Zu treffen galt es, wo zusammenschlossen

Die Fugen, und das Eisen dünner war.

Es fände schwerlich würdige Genossen

Rings auf dem Erdenrund dies Kämpferpaar;

An Kraft und Mut einander beide gleichen,

Und beide trotzen allen Schwertesstreichen.
[255]

48.

Kaum nötig ist es, Herr, daß ich Euch sage:

Gefeit war Ferragu gen Hieb und Stoß,

Nur da nicht, wo zuerst in sichrer Lage

Das Kind sich nährt, das noch im Mutterschoß.

Drum trug er hier bis zu dem letzten Tage,

Stets, wenn ihm zweifelhaft erschien sein Los,

Aus Stahl gehärtet, sieben starke Platten,

Weil Waffen da nur Kraft zu schaden hatten.


49.

Bis auf nur einen Punkt war gleichermaßen

Durchaus gefeit der Ritter von Anglant:

Unter den Sohlen bloß war er zu fassen,

Doch diese schützt' er eifrig und gewandt.

Hat uns die Wahrheit nicht im Stich gelassen,

War alles andre hart wie Diamant.

Gewappnet gingen mehr des Schmuckes wegen

Als aus Bedürfnis diese beiden Degen.


50.

Grausamer geht der Kampf und wilder weiter,

Des Schreckens voll und grauslich anzusehn:

Es schlägt und sticht drauflos der span'sche Streiter,

Und niemals fehl die grimmen Stöße gehn:

Platten und Schuppen bricht der fränk'sche Reiter,

Bei jedem Hieb muß eine Lück' entstehn.

Angelika, allein noch gegenwärtig,

Unsichtbar, wird mit Staunen nimmer fertig.


51.

Der König von Zirkassien glaubt indessen

Angelika ein Stückchen noch voraus;

Er sieht die beiden dort auf Kampf versessen

Und will auf gleichem Wege jetzt hinaus,

Den, wie er meint, das Fräulein hat durchmessen,

Da sie dem Blick verschwindend nahm Reißaus.

So kann die Tochter Galafrons das Hauen

Und Stechen als allein'ge Zeugin schauen.
[256]

52.

Wüst und entsetzlich findet sie dies Streiten;

Ein Weilchen schaut sie noch den Fall sich an,

Der ihr gefährlich dünkt für beide Seiten

Und ihre Seele nicht erfreuen kann.

Sie möchte neuen Scherz sich jetzt bereiten

Und nimmt den Helm fort, um zu sehn, was dann

(Er soll nicht lang in ihren Händen bleiben),

Wenn er entschwunden ist, die Kämpfer treiben.


53.

Wohl mag der Graf ihn noch zurückerlangen,

Doch erst, nachdem ihr kleiner Spaß vollbracht;

Sie läßt den Helm auf ihrem Schoße prangen,

Schaut noch ein Weilchen zu der Reiterschlacht,

Und ohne Abschiedswort ist sie gegangen.

Sie hat ein gut Stück Weges schon gemacht,

Eh einer noch des Falles wahrgeworden;

So sind sie voller Wut erpicht aufs Morden.


54.

Zuerst bemerkt Herr Ferragu die Sache;

Von Roland reißt er sich und ruft: »Fürwahr!

Als dumme Kerls behandelt uns, und schwache,

Der Ritter, der noch eben mit uns war.

Was meinst du, welcher Lohn dem Sieger lache,

Sind wir durch Diebstahl jenes Helmes bar

Roland schaut um, kann keinen Helm erblicken

Am Zweige dort – und will vor Wut ersticken.


55.

Er muß mit Ferragu die Meinung teilen

(Und lenkt sein Pferd herum in lichtem Zorn):

Der Ritter nahm den Helm, den man verweilen

Dort sah, – nun fühlt der Hengst den Sporn.

Sogleich beginnt der Mohr ihm nachzueilen,

Und wie die beiden dort am Wege vorn

Zu jener neuen Spur im Gras gelangen,

Wo sie und der Zirkassier sind gegangen,
[257]

56.

Nimmt links der Graf den Weg von dieser Stelle

Talein, wo hingeritten Sakripant,

Und Ferragu hält sich ans Berggefälle,

Den Pfad hin, wo Angelika verschwand.

Die Jungfrau kam indes an eine Quelle

Mit schattigem und anmutreichem Rand,

Die Wasser dort in kühlem Schatten winken:

Kein Wandrer gehe, ohne da zu trinken.


57.

Das Fräulein bleibt am klaren Wasser stehen

Und wähnt sich hier geschützt vor aller Welt;

Sie meint, es könn' ihr Übles nicht geschehen,

Weil sie der Zauberring verborgen hält.

Der grüne Rand ist mit Gebüsch versehen:

Dorthin hat sie sogleich den Helm gestellt

Und geht darauf, den kühlsten Platz zu finden

Und dort das Pferd zum Grasen festzubinden.


58.

Da kommt der Spanierstreiter hergeritten,

Der ihrer Spur gefolgt, zum Quell heran.

Als ihn das Mädchen sieht in Waldesmitten,

Verschwindet sie und treibt die Stute an.

Der Helm, der auf das Gras herabgeglitten,

Liegt fern, so daß sie ihn nicht fassen kann.

Kaum sieht Angelika der Mohrendegen,

So sprengt er voller Freude ihr entgegen.


59.

Doch sie verschwand, just als er sie erkannte,

Wie beim Erwachen flieht ein Traumgebild;

Er sah sie nicht, ob er die Augen wandte,

Die leiderfüllten, weithin durchs Gefild;

Und jetzt dem Makon und dem Trivigante,

All seinen Göttern flucht er laut und wild

Und kehrt darauf zurück an jene Stelle,

Wo noch der Helm im Gras liegt bei der Quelle.
[258]

60.

Im Innern hat er eine Schrift gefunden –

Daran erkannt' er ihn – am Helmesrand,

Besagend, wen der Graf einst überwunden

Und wann und wie und wem er ihn entwand.

Der Heide hat ihn sich ums Haupt gebunden,

Weil ihm die Gier nicht durch den Ärger schwand,

Den Schmerz, daß ihm die Maid zerfloß soeben,

So wie Gespenster in der Nacht entschweben.


61.

Als er den schönen Helm nun umgeschlungen,

Schien alles gut – es fehlt' ein einzig Ding:

Sie aufzufinden (wär' ihm das gelungen!),

Die wie der Blitz des Himmels kam und ging!

Tief in den Wald ist er hineingedrungen,

Und als er sah, die Hoffnung war gering,

Daß jemals noch von ihr sich Spuren fänden,

Wollt' er ins Lager nach Paris sich wenden.


62.

Wenn jener Holden Reize ihm entschwanden,

Und Stillung seines Sehnens fehl ihm schlug,

War nur ein Trost für seinen Schmerz vorhanden:

Daß er ja nun den Helm des Grafen trug. –

Als Roland merkte, wie die Sachen standen,

Ging er den Spanier suchen lang genug;

Doch nahm er ihm den Helm nicht eh'r vom Haupte,

Bis er sein Leben bei zwei Brücken raubte.


63.

Angelika, unsichtbar und verlassen,

Geht ihres Wegs mit traurigem Gesicht:

Daß sie den Helm hat bei dem Quell gelassen,

Zu eilig, das beschwert sie, und sie spricht:

»Mit fremden Dingen mußt' ich mich befassen

Und nahm ja Rolands Helm; das ziemte nicht!

Recht hübschen Lohn hat er bei mir gefunden,

Die ich so sehr zu Dank ihm bin verbunden!
[259]

64.

Wohlmeinend ja, weiß Gott, im Herzen drinnen

Kam's anders auch und endet traurig nun –,

Nahm ich den Helm: es war mein einzig Sinnen,

Daß doch der Kampf der beiden möge ruhn,

Und nimmermehr wollt' ich durch mein Beginnen

Dem dummen Spanier nach Gefallen tun

So ritt sie ihres Wegs in bittern Klagen,

Daß sie den Helm des Grafen fortgetragen.


65.

Verstimmt und unzufrieden hin nach Morgen

Schlug sie die Richtung, die ihr gut schien, ein,

Teils sich den Menschen zeigend, teils verborgen,

So wie gerad die Leute mochten sein.

Gar manches Land durchstreifte sie voll Sorgen

Und kam zuletzt in einen Wald hinein;

Dort lag bei zwei Erschlagnen auf dem Grunde

Ein junger Knab', die Brust mit schwerer Wunde!


66.

Doch von Angelika sing' ich nicht weiter,

Mit ändern Dingen mach' ich Euch bekannt;

Auch kümmert uns nicht mehr der Mohrenreiter

Für lange Zeiten oder Sakripant.

Von ihnen holt mich fort ein andrer Streiter:

Ich künde von dem Ritter von Anglant,

Wie jene Sehnsucht Leid fand und Beschwerden,

Die nun fortan kein Ende nahm auf Erden.


67.

Er eilt, sich in dem ersten besten Flecken –

Denn unerkannt zu gehn ist er bedacht –

Das Haupt mit neuer Kappe zu bedecken;

Ob schwach, ob gut gestählt, hat er nicht acht.

Mag an Metallen drin, was wolle, stecken;

Er ist ja gegen Wunden fest gemacht.

So sucht er weiter fort auf seinen Wegen,

Sei's Tag, sei's Nacht, bei Sonnenschein und Regen.
[260]

68.

Die Stunde war's, da Phöbus' Rosse steigen

Mit Tau in Haaren aus dem Meer empor

Und rot und gelb sich Eos' Blumen zeigen,

Von ihr umhergestreut am Himmelstor;

Und schon beendet hatte seinen Reigen

Und scheidend sich verhüllt der Sterne Chor:

Als eines Tages wahre Wunderwerke

Tat Roland zu Paris mit seiner Stärke.


69.

Er traf zwei Feindesscharen: der bejahrte

Herr von Norizia ist's, der Sarazen,

Einst stolz und kühn, jetzund im weißen Barte

Durch Rat mehr als durch Taten angesehn;

Die andern mit der eigenen Standarte

Führt jener große Herr von Tremisen,

Der als erlesnen Helden sich erwiesen;

Alzirdo nannten seine Mohren diesen.


70.

Sie lagen mit den andern Heidenscharen

Bisher den ganzen Winter vor Paris,

Wo jene näher dran, die ferner waren,

Wie Dorf und Burg ein Obdach finden ließ,

Weil König Agramant, der längst erfahren,

Daß da zu stürmen nicht Erfolg verhieß,

Es mit Belagrung jetzt versuchen wollte,

Wenn noch die Stadt genommen werden sollte.


71.

Dafür besitzt er ungezählte Massen:

Nicht nur, was mit ihm selbst gekommen war,

Auch was Marsilius' Heeresreihn umfassen,

Von Spanien her die kriegerische Schar.

Aus Frankreich hat er viele kommen lassen,

Denn von Paris zum Strand von Arles, sogar

Mit Teilen der Gascogne – und den besten –

Besiegt ist alles bis auf wen'ge Festen.
[261]

72.

Als rasche Bäche nun in laue Wogen

Mählich verwandeln hartes, kaltes Eis

Und Wiesen stehn mit frischem Grün bezogen

Und auf dem Baume sproßt das junge Reis,

Hat Agramant das Heer herangezogen,

Das ihm gefolgt in seines Glückes Kreis,

Um Heerschau seiner Scharen abzuhalten

Und all das Seine besser zu gestalten.


73.

Wie nun die beiden sich dahin bewegen,

Um zeitig anzukommen auf dem Feld,

Wo es bald Rechenschaft gilt abzulegen,

Ob gut, ob schlecht es mit dem Heer bestellt,

Geschieht's, daß, wie gesagt, Roland der Degen

Urplötzlich auf den Schwarm der Mohren fällt

Bei seiner Suche, jene zu erlangen,

Die mit des Amors Netz ihn hält umfangen.


74.

Als diesen Grafen, der nicht seinesgleichen

An Heldenschaft hat auf dem Erdenrund,

Dem selbst der Kriegsgott – scheint es – müßte weichen,

Alzird, der junge Herrscher, sieht jetzund,

Bleibt er verblüfft bei solcher Größe Zeichen,

Dem stolzen Blick, dem grimmen, trutz'gen Mund:

Er fühlt: das ist ein Krieger, hoch zu loben,

Doch spürt er Lust, es selber zu erproben.


75.

Alzird war jung, zum Übermut verwegen,

Ob großer Kraft berühmt im ganzen Heer.

Dem Fremden spornt er rasch den Hengst entgegen –

O daß er in der Schar geblieben wär'! –

Durchs Herz gestoßen liegt der kühne Degen

Vom Ritter von Anglant beim Anprall schwer.

Voll Schrecken flieht der Hengst mit leerem Bügel:

Es lenkt ihm ja kein Reiter mehr die Zügel.
[262]

76.

Ein ungeheures Schreien hört man schallen,

Das weithin rings durch alle Lüfte klingt,

Wie man da sieht den jungen König fallen,

Und Blutstrom aus so reicher Ader springt.

Wutvolle Haufen sich um Roland ballen;

Ein Heer von Schwert und Lanzen ihn umringt,

Beschwingte Pfeile, schwarz wie Stürme, fliegen

Noch dichter, um dem Helden obzusiegen.


77.

So wie mit Lärm aus Bergen oder Auen

Die borst'ge Herde kreischend stürzt daher,

Wenn sich ein Wolf aus dunkler Schlucht ließ schauen

Oder vom Waldgebirg herab ein Bär

Mit einem zarten Ferklein in den Klauen,

Das mit Gegrunz und Quieken klagt gar sehr,

So lärmt's um Roland aus der Mohren Reihen,

Die alle wütend »Auf ihn! Auf ihn!« schreien.


78.

Der Harnisch hat an Pfeilen, Lanzenstücken

Und Schwertern tausend, ebenso der Schild:

Der schlägt ihn mit der Keule auf den Rücken,

Der droht von vorn, der von der Seite wild.

Doch ihn zu schrecken wollte niemals glücken;

Der wüste Heereshauf nicht mehr ihm gilt,

Als einem Wolfe gelten drin im Stalle

In Finsternis die vielen Schäflein alle.


79.

Das nackte Flammenschwert sieht man ihn tragen,

Das so viel Mohren schon hat Tod gebracht;

Drum wer hier Rechnung führen will und sagen,

Wie viel es sind, hat sich's nicht leicht gemacht.

Kaum faßt der Weg noch alle, die erschlagen;

Rot fließt ein Blutstrom durch den Leichenschacht.

Sturmhaube nicht und Tartsche können nützen,

Vor Durendal, der grimmigen, zu schützen,
[263]

80.

Nicht Baumwollkleid, nicht Leinwand, die in Falten

Sich um das Mohrenhaupt schlingt tausendfach.

Es fliegen Arm' und Köpfe rings, gespalten,

Und Schultern, nicht bloß Seufzer, Weh und Ach;

In vielen, lauter grausigen Gestalten

Zieht durch das Feld der Tod dem Schwerte nach

Und sagt sich: hundertmal will dies Gewaffen

Mehr Beute mir als meine Sensen schaffen.


81.

Fast eh ein Hieb sitzt, geht's an neues Morden;

Bald fliehn die Heiden all in wildem Graus;

Ihn zu verschlucken meinten diese Horden:

Er stellte ja sich ganz allein zum Strauß!

Ach, keiner fragt, was aus dem Freund geworden;

Und keiner wartet auf Geleit nach Haus.

Zu Pferd, zu Fuß den Fliehnden schlimm zumut ist,

Und niemand fragt, ob auch die Straße gut ist.


82.

Mochte die Tugend mit dem Spiegel gehen,

Das jedes Herzensfältchen macht bekannt,

Ein einz'ger Alter kam, hineinzusehen,

Dem Kraft, nicht Hochsinn, mit den Jahren schwand;

Statt sich zu retten und beschimpft zu stehen,

Reicht er dem Tode unverzagt die Hand:

Ich meine Manilart, der ohne Wanken

Den Speer hielt nach dem urgewalt'gen Franken.


83.

Er bricht ihn vorn am Schild des Feinds in Splitter,

Der bleibt im Sattel, gänzlich unbewegt.

Das nackte Schwert schwingt jetzt der Christenritter,

Der im Vorbeigehn nach dem König schlägt.

Doch sitzt der Hieb nicht scharf; durch Drehung glitt er

Und wurde auf die Seite so gelegt.

Man kann nicht immer nach dem Schnürchen hauen;

Doch außer Sattel ist der Mohr zu schauen.
[264]

84.

Betäubt am Boden streckt er seine Glieder.

Es wendet Roland nicht das Haupt um ihn;

Er spaltet, schneidet, säbelt, schmettert nieder;

Ein jeder meint, ihn sucht der Paladin,

Und flüchtet, wie mit ängstlichem Gefieder

Die Staare vor dem grimmen Falken fliehn.

Vernichtet ist der ganze Heereshaufen:

Sie ducken sich, sie fallen, und sie laufen.


85.

Des Schwertes Wüten wollte nimmer enden,

Bis leer das Feld von allem Leben stand.

Im Zweifel ist der Graf, wohin sich wenden,

Ob auch das ganze Land ihm wohlbekannt.

Mag er nach rechts, nach links die Blicke senden,

So bleibt das Herz dem Fortgehn abgewandt:

Es gilt, Angelika nicht zu verfehlen;

Er fürchtet immer, falschen Weg zu wählen.


86.

Stets fragend, Kunde von ihr zu erlangen,

Hielt er sich nun durch Felder hin und Wald:

Wie er sich selbst verloren war gegangen,

Den Weg verlor er und gelangte bald

Zu einem Berg; – wie flügelschlagend drangen

Lichter heraus aus einem Felsenspalt.

An diesen Felsen kommt heran der Recke,

Ob nicht Angelika sich dort verstecke.


87.

Wie man Wacholder in dem Waldgehege

Durchsucht und Stoppeln auch und freies Feld,

Wenn in durchwühlten Furchen ohne Wege

Man Jagd auf das erschrockne Häslein hält,

Zu jedem Busch geht, ob es drunter läge,

Und jeden Dornstrauch auf die Probe stellt –

So voller Mühe sucht der Graf und schreitet

Allüberall hin, wie die Hoffnung leitet.
[265]

88.

Eilig bewegt er sich und sieht, das Blitzen,

Das in den dunklen Wald sich dort ergießt,

Kommt just aus diesem Berg durch schmale Ritzen,

Der eine weite Höhle in sich schließt,

Und als ein Wall davor, mit scharfen Spitzen,

Wildes Gesträuch, wo Dorn und Dickicht sprießt

Zum Schutz für jene in der Höhle drinnen

Vor solchen, die von draußen Schaden sinnen.


89.

Am Tage hätte niemand sie gefunden,

Doch nachts zog dieses Licht den Blick hinein.

Gern Weitres möchte Roland nun erkunden,

Obwohl vermutend, was es möge sein.

Nachdem er Güldenzaum hat angebunden,

Tritt er ganz leise in die Höhl' hinein

Durch jene Öffnung mit dem Dorngezweige

Und ruft sich keinen, der den Weg ihm zeige.


90.

Die Gruft, in der sich Lebende begraben,

Stieg viele Stufen in den Grund hinab.

Herausgemeißelt aus dem Felsen, gaben

Wölbungen größre Weite diesem Grab.

Auch etwas Tageslicht wohl mocht' es haben,

Wiewohl der Eingang nur geringes gab.

Doch bot ein Fenster rechts an einer Stelle

Der Wand in einem Loch genügend Helle.


91.

Ein Mädchen sitzt in jener Höhle Mitten

Beim Feuer; Huld und Reiz war ihr verliehn:

Und kaum die Fünfzehn hat sie überschritten,

Meint auf den ersten Blick der Paladin.

Sie war so schön, das Antlitz fein geschnitten,

Daß dieser Ort ein Paradies erschien,

Blinkt gleich im Auge eine bittre Zähre,

Als ob groß Leid ihr widerfahren wäre.
[266]

92.

Ein altes Weib war da; wie Weiblein pflegen,

So saßen sie gerade streitend dort.

Jedoch zur Höhle steigt herab der Degen,

Und sieh, verstummt ist plötzlich Zwist und Wort.

Er tritt den zwein mit feinem Gruß entgegen,

Wie sich's zu Fraun gebührt an jedem Ort,

Worauf alsbald die beiden sich erheben,

Um freundlich ihm den Gruß zurückzugeben.


93.

Anfangs erbleichten sie ja wohl vor Schrecken,

Als unversehns erscholl die fremde Stimm'

Und sie gewappnet vor sich sahn den Recken:

Der schien ein mächt'ger Krieger, stark und grimm.

Er fragt: »Wer mag sich so mit Schmach bedecken,

Ein Wütrich grausam, ungerecht und schlimm,

Um ein Gesicht, dran sich die Augen laben,

In dieser finstern Höhle zu begraben?«


94.

Mühsam gab ihm Bescheid darauf die Traute,

Doch unterbrochen oft von Schluchzen heiß,

Das durch die süßen abgerißnen Laute

Aufstieg aus Perlen- und Korallenkreis.

Die Träne, bis kein Aug' sie mehr erschaute,

Hinab sie rann durch Ros' und Lilien weiß.

Vernehmt im nächsten Sang die weitern Sachen:

Zeit ist's, mit dieser hier ein End' zu machen.

Quelle:
Ariosto, Ludovico: Der rasende Roland. In: Sämtliche poetischen Werke, Berlin 1922, Band 1, S. 243-267.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der rasende Roland
Die Historia vom Rasenden Roland
Ludovico Ariosts Rasender Roland nacherzählt von Italo Calvino

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