Abendlied

[199] 1818.


Der Tag ist nun vergangen,

Und dunkel schläft die Welt,

Die hellen Sterne prangen

Am blauen Himmelszelt;

Nur in den grünen Zweigen

Singt noch die Nachtigall,

Im weiten, tiefen Schweigen

Der einz'ge Lebensschall.


Ich aber, Vater, stehe

In meiner Hüttentür

Und schau' hinauf zur Höhe

Und schau' hinauf zu dir;

Wie gerne möcht' ich klingen

Als helle Nachtigall,

Dir Preis und Dank zu bringen

Mit tiefem Schmerzenschall.


Ja, mit dem Schall der Schmerzen:

Denn geht die Nacht herauf,

So springt in meinem Herzen

Ein Quell der Tränen auf,

Der Tränen und der Klagen –

Du, Vater, weißt es best,

Was singen nicht und sagen,

Was sich nicht sprechen läßt.


Du kennest meinen Kummer,

Der auf gen Himmel blickt,

Wann für den süßen Schlummer

Die ganze Welt sich schickt,

Womit so schwer beladen

Mein Herz nach oben schaut,

Nach deinem Born der Gnaden,

Der Labsal niedertaut.
[199]

Ja, deine süße Liebe,

Die tröstet mir den Schmerz,

Ja, deine süße Liebe,

Die stillet mir das Herz,

Die löst in heißen Tränen

Das Eis des Busens auf

Und stellet Sinn und Sehnen

Zum hohen Sternenlauf.


O laß mich ewig schauen

Im stillen Kindersinn

Zu jenen güldnen Auen,

Woher ich kommen bin!

O richte Herz und Sinne,

Mein Vater, für und für

Zu deiner süßen Minne,

Zum Himmel hin, zu dir.


So mag ich froh mich legen

Nun mit der Welt zur Ruh',

Mein Amen und mein Segen,

Mein Wächter, das bist du;

So mag in deinem Frieden

Ich fröhlich schlafen ein,

Dort oben und hienieden

Im Schlaf und Wachen dein.

Quelle:
Ernst Moritz Arndt: Werke. Teil 1: Gedichte, Berlin u.a. 1912, S. 199-200.
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