Geheime Geschichte

[302] DER GESANDTE: Sie mögen in Massenbachs neuesten Werken viel berichtigen, noch mehr hinzufügen können, die eine Gerechtigkeit müssen Sie ihm doch widerfahren lassen, daß er unter deutschen Generalen neuerer Zeit ...

DER INVALIDE: Verzeihen Sie, er war nur Oberst.

DER GESANDTE: Also unter den Obersten, die wirklich mehr wissen konnten als die andern, hat er zuerst Lust gezeigt, Memoiren oder Erinnerungen während eines tätigen Lebens zu sammeln und darzustellen, sein Beispiel wird eine Kunst fördern, ohne welche die schönste Tat, nur zum Einfall eines einzelnen und nimmer zur Entwickelung eines Volks wird, die noch Jahrhunderte fortlebt, eine Kunst, die bei uns eben so selten, als unter den Franzosen häufig ist. Es ist eine seltene Kraft etwas Erlebtes darstellen, weil in der Geschichte das Beste meist nicht wahr ist.

DER INVALIDE: Ei, kennen Sie nicht Berlichingens, Schärtlins, Zinzendorffs, Platers, Jungs, Moritzens und Naturdichter Hillers Selbstbiographien.

DER GESANDTE: Ei wohl, aber selbst unter diesen mühsam zusammengesuchten, sind doch eigentlich nur die drei ersten in einem großen öffentlichen Leben entstanden, die übrigen sind nur merkwürdig wegen der Eigentümlichkeit und haben mit der Geschichte sehr wenig Berührung. Nun zählen Sie einmal die Memoiren der Franzosen von Ludwig dem Heiligen an?

DER INVALIDE: Und Friedrichs Memoiren dazu.

DER GESANDTE: Die würde ich wie manche andre ausnehmen, es[302] sind schätzbare geschichtliche Übersichten, in einer Zeit, die durch ihre Zeitungen hinlängliche Nachricht von den Ereignissen zu haben glaubt, es fehlt aber beinahe alles darin, was der König allein wissen konnte. Wie wenig und wie falsch aber die Zeitungen sind, das weiß jeder, der nur einer großen Begebenheit selbst nahe zugesehen, und nichts erscheint dann lächerlicher, als die kritischen Auszüge der Professoren aus den Weltgeschichten, denn da will ich einen Eid ablegen von allen denen Zahlen und Ansichten, die sie ausziehen, ist keine einzige wahr; unter den Einzelnheiten, die sie wie ausgedrückte Zitronenhäute wegwerfen, bleibt hingegen das meiste unbezweifelbar und einzig der Mühe wert, sich um die Vorzeit zu bekümmern. Memoiren im weitesten Sinne sind das Wesen, das Höchste der Geschichte.

DER INVALIDE: Nun, ich meine, Sie kommen auch einige Jahre zu spät mit Ihren Warnungen gegen die Zeitungen, glaubt doch kein Mensch daran, sie sind ja nur vorhanden, daß jeder dem Übereinkommen gemäß seine eigenen Erwartungen und Wünsche damit erregen lassen kann, wie einen die Kinder bitten, wenn man sich ihnen einmal gut versteckt hat, noch einmal an denselben Fleck zu treten, damit sie das Vergnügen des Findens doppelt haben. Ich meine, es wird eine Geschichte unsrer Zeit künftig ganz unmöglich sein, sie wird so da stehen wie die Völkerwanderung, ein Glück, wenn am Ende ein episches Gedicht den Geist, der sich aus dieser Gärung entwickelt, dem erhöhten menschlichen Geschlechte versinnlichen kann.

DER GESANDTE: Sie sprachen da, als wenn Sie schon tot wären; warum lassen Sie untergehen was Sie allein berichtigen können? Doch kann ich Ihnen versichern, das viele öffentliche Geschreibe über die letzte Zeit, das Sie so gründlich hassen, ist mir ein guter Beweis, daß außer diesen noch eine Menge zur geheimen Geschichte unsrer Zeit sammeln.

DER INVALIDE: Es haben wenige genug Ausdauer und Achtung gegen ihre Zeit dazu.

DER GESANDTE: Ich will nicht behaupten, was sich nicht beweisen läßt, aber ich will Ihnen heute, damit Sie es selbst tun, ein Geschichtsbild nach dem berühmten Froissart aufstellen, der die Geschichte ganz als Memoiren behandelte wie Herodot, und mir als Vorbild einer geheimen Geschichte unsrer Zeit vorschwebt, die noch geschrieben[303] werden muß. Alles suchte er, wie Herodot, an Ort und Stelle auszufragen, anzusehen; Reisebekanntschaften, Hofversammlungen, nichts ließ er unbenutzt um seine Chronik der merkwürdigen Zeit, die er durchlebte und die sicher nicht viel reizender für den untätigen Beobachter als die unsre war, nach aller Eigentümlichkeit den Nachkommen zu überliefern.

DER INVALIDE: Glauben Sie mir nur, die wichtigen Leute sind jetzt vorsichtiger und unwahrer gegen solche anerkannte Geschichtschreiber ihrer Zeit, Sie würden wenig herausbringen.

DER GESANDTE: Nicht alle und nicht immer.

DIE FRAU VOM HAUSE: Doch wissen Sie, daß Geschichte im strengsten Sinne von uns ausgeschlossen.

DER GESANDTE: Das wollte ich erinnern; ich bin deswegen dem guten Froissart nicht so treu geblieben, wie er es sich gegen seine Erzähler beflissen; ich habe zusammengebracht, was mir taugte, mir war es mehr zu tun um das Bild der Zeit, einiger Männer und einer ihrer wunderbarsten Abenteuer, als um geschichtliche Vollständigkeit.

Quelle:
Achim von Arnim: Sämtliche Romane und Erzählungen. Bde. 1–3, Band 2, München 1962–1965, S. 302-304.
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