Die Herzogin von Orlamünde

[229] Nach einer chronikalischen Erzählung von Nikolaus Dumman, abgedruckt in Ch. Ph. Weldenfels Selecta antiquit. lib. II. c. XXXIII. p. 469, Herr Heinze bemerkte, daß die Kinder in der Niederlausitz sich der Worte beym Abzählen bedienen: Engel, Bengel laß mich leben, ich will dir einen schönen Vogel geben.


Albert Graf von Nürnberg spricht:

»Herzogin ich liebe nicht;


Bin ein Kind von achtzehn Jahren

Und im Lieben unerfahren,


Würde doch zum Weib dich nehmen,

Doch vier Augen mich beschämen;


Wenn nicht hier vier Augen wären,

Die das Herze mein beschweren.«[229]


Orlamündens Herzogin

Spricht zu sich in ihrem Sinn:


»Witwe bin ich schön vor allen,

Aller Fürsten Wohlgefallen;


Wenn nicht hier vier Augen wären,

Würde seine Lieb mich ehren.«


»Kinder ihr vom schlechten Mann,

Der mich hielt in strengem Bann;


Weil ihr meine Land ererbet

Wenn ihr nicht unmündig sterbet.«


Also Oehl in Flammen wüthet,

Das statt Wasser aufgeschüttet.


Also deutet sie die Rede

Auf zwey eigne Kinder schnöde,


Die im Saal zum Spiel abzählen,

Unter sich den Engel wählen:


»Engel, Bengel, laß mich leben,

Ich will dir den Vogel geben.«


Nadeln aus dem Wittibschleyer

Zieht sie, daß er falle freyer,


Zu dem wilden Hager spricht:

»Nimm die Nadeln und verricht,[230]


Schwarzer Hager, du mein Freyer

Fürchtest nicht den schwarzen Schleyer,


Fürchtest du nicht auch vier Augen,

Die zum Zusehn hier nicht taugen,


Setz' dich mit zu ihren Spielen,

Daß sie keine Schmerzen fühlen,


Daß die Wunden niemals sprechen,

Must du in das Hirn sie stechen.«


Herulus zum Hager spricht,

Eh der ihm das Hirn einsticht:


»Lieber Hager, laß mich leben,

Will dir Orlamünde geben,


Auch die Plassenburg die neue,

Und es soll mich nicht gereuen.«


Herula zum Hager spricht,

Eh er ihr das Hirn einsticht:


»Lieber Hager laß mich leben,

Will dir meine Docken geben,


Engel, Bengel laß mich leben,

Will dir meinen Vogel geben.«


Hager sich als Mörder nennt,

Eh er sich das Hirn einrennt.[231]


»Gott ach Gott, wo werd ich ruhen,

Höre schon den Vogel rufen,


Gott ach Gott, wo soll ich fliehen,

Sehe schon den Vogel ziehen.«


Albert spricht zur Herzogin:

»Das war nicht der Rede Sinn,


Meinte unsre eignen Augen,

Wie wir nicht zusammen taugen.«


Beyde Kinder unverweset

Liegen noch im Marmorsarge,

Als wär heut der Mord gewesen,

Recht zum Trotze allem Argen.


Quelle:
Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Band 2, Stuttgart u.a. 1979, S. 229-232.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Des Knaben Wunderhorn
Ludwig Achim's von Arnim sämtliche Werke: Band XVII. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Band 3
Sämmtliche Werke, Neue Ausgabe. Herausgegeben von Bettina von Arnim und Wilhelm Grimm. Band 06: Des Knaben Wunderhorn I und II. - Reprint der Ausgabe von 1857
Des Knaben Wunderhorn Band 2
Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L.A.v. Arnim und Cl. Brentano. Neu bearbeitet von Anton Birlinger und Wilhelm Crecelius; ... in Holz geschnitten von C.G. Specht: Band. 1
Ludwig Achim's Von Arnim Sämmtliche Werke: Des Knaben Wunderhorn. T. 3 (German Edition)

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Agrippina. Trauerspiel

Agrippina. Trauerspiel

Im Kampf um die Macht in Rom ist jedes Mittel recht: Intrige, Betrug und Inzest. Schließlich läßt Nero seine Mutter Agrippina erschlagen und ihren zuckenden Körper mit Messern durchbohren. Neben Epicharis ist Agrippina das zweite Nero-Drama Daniel Casper von Lohensteins.

142 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon