Zur Weihnachtszeit

[184] Was leuchtet durch die Nacht so helle

Und weckt das Haus mit heilgem Graus?

Ein Kind tritt aus des Himmels Schwelle

Und klopft an's ird'sche Lebenshaus.


Wer hat die Thür so fest verschlossen,

Daß es so lange harren muß?

Das Kindlein klopfet unverdrossen

Der Mutter scheint's ein Todesgrus.


Mit Schmerz und Tod hat sie gerungen

Weil ihr das Kind verloren schien,

Und unverhofft ist's eingedrungen,

Sie sieht in ihm ihr Leben blühn.


Ja, wo ein Kind der Welt geboren,

Da scheint die Nacht wie Tag so klar,

Die Nachbarn grüßen an den Thoren,

Als finge an ein neues Jahr.


Nur Hirten kennen ganz den Segen,

Der durch Geburt die Welt erneut,

Wenn sie das Lamm zur Mutter legen,

Die Mutter sich am Anblick freut.


Der Anfang lag im Ew'gen Geiste,

Im Menschenwillen lag er nicht,

Und wie der Hochmuth sich erdreiste,

So bildet Kunst kein Angesicht.


Ein jedes Kind ist neuerfunden

Und überrascht das Mutteraug',

Verborgne Zukunft wird entbunden

In seinem ersten Lebenshauch.


Die Mutter freut sich nun der Erde,

Von der sie schon der Schmerz erhob,

Und schnell vergessen ist Beschwerde

In dieser Schöpfung erstem Lob.[185]


Es fließen ihre Wonnezähren,

Sie tritt zurück ins Paradies,

Das Weib wird selig durch Gebären

Und die Erlösung ist so süß.


Doch Keine, die nicht ist geweihet

Durch Gottes Geist, durch Engelgrus,

Erträgt, was heut Maria freuet

In ihres Kindes erstem Kuß:


Was Hirten Engeln nachgesungen,

Was himmlisch ihr verkündet ist,

Daß sie von Gottes Geist durchdrungen,

Und daß ihr Kind der heilge Christ.


In Freudentaumel würde brechen

Das stärkste Herz in Weibesbrust,

Wenn Engel aus dem Himmel sprechen,

Dein Kind ist Gott, des Himmels Lust.


Nur eine Jungfrau kann's ertragen,

Der ird'sche Lust noch unbewust,

Daß diese Weihe heilger Sagen

Jetzt ruht an ihrer keuschen Brust.


Maria selbst muß sich in Sorgen

Zerstreun beym heilgen Kind im Stall,

Daß sie erträgt den freudgen Morgen,

Sie winket still dem Hirtenschall.


Sie winkt, daß sie ihr Kind nicht wecken

Mit ihrem Jubel auf der Flur,

Sie muß das Kind im Frost zudecken,

Den Frühling menschlicher Natur.


Es kann die Welt noch nicht erlösen

Von ihres Winters harter Zeit,

Sie dient noch neben ihm dem Bösen,

Zur Prüfung dient ihr noch der Streit;[186]


Und alle Weisen werden kommen

Und biethen ihm Geschenke dar

Und haben doch noch nicht vernommen,

Was dieses Kind urewig war.


Allmälig wird die Welt sich stärken

Zu schaun sein göttlich Angesicht,

Wenn sich in treuer Liebe Werken

Das Auge weiht dem neuen Licht.


Doch keiner kann voraus verkünden

Wann diese Welt dem Ewgen reift,

Wann Er von Tugenden und Sünden

Mit Richterhand die Hülle streift.


Wer wagt von uns mit irdschen Ohren

Zu hören dieses Tags Gebot,

Wenn aus den hohen Himmelsthoren

Vernichtung unsrer Erde droht,


Wenn ewger Frühling dort geboren,

Und hier des Winters ewges Reich,

Und die erkoren, die verloren

Sich scheiden für die Ewigkeit.


Quelle:
Achim von Arnim: Sämtliche Werke. Band 23: Gedichte, Teil 2, Tübingen und Berlin 1976, S. 184-187.
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