XI

[101] Als der Prinz A. in dem Moment, als er von Alicen getrennt wurde, das Militär anrücken und den Platz besetzen sah, bemächtigte sich seiner eine tiefe Bestürzung. Er konnte diese Maßregel in diesem Augenblicke – der enthusiastischen Freudigkeit der Menge gegenüber – nicht begreifen. Er eilte um das Schloß herum, um von jener Seite den Versuch zu machen, zu dem König zu dringen und ihm den Stand der Dinge wahrheitsgetreu zu schildern. Aber wie erstaunte er, als er, nach dem Lustgarten eilend, auch hier dasselbe Schauspiel fand, nur daß es nicht Musketiere waren, die mit gefälltem Bajonette in das wehrlose Volk eindrangen, sondern Kürassiere, welche[101] ihren Pferden die Sporen einsetzend mit geschwungenem Säbel wie Rasende um sich hieben. – Die Verwirrung und das Geschrei war sinnebetäubend. –

Der Prinz starrte sprachlos auf das Gemetzel; dieser plötzliche Umschwung der Dinge überstieg seine Fassung. Da dämmerte ein furchtbarer Gedanke in ihm empor. Es schien ihm, als habe er jetzt einen schrecklichen Zusammenhang gefunden.

– Das ist Verrätherei! murmelte er, und blickte, vor seiner eigenen Ahnung erbleichend, mit trostlosem Blicke zum Schlosse empor. Doch hier galt es zu handeln. Sein Inkognito aufgebend, gelangte er leicht in das Innere des Schlosses. Rasch stürmte er die Wendeltreppe empor, eilte den Corridor hinab in die Vorzimmer des Königs. Eine Menge Deputationen hatten sich bereits versammelt. Auch Herrn v. M. erblickte er unter ihnen.

– Ich komme so eben vom Könige – sagte dieser, ihn auf die Seite ziehend. – Es ist Alles vergeblich. Auch Sie werden Nichts ausrichten.[102] Der König ist durch einen mächtigen Einfluß in seinen besten Entschlüssen schwankend geworden.

– Wer ist bei ihm?

– Der Prinz von Preußen, die Königin, der Prinz Karl und einige Minister.

– Welche Minister?

– Bodelschwingh, Thiele und –

– Genug. Ich werde das Aeußerste versuchen. Er öffnete ohne Weiteres die Thür. Der König saß mitten im Zimmer auf einem weiten Lehnsessel, mit dem Gesicht nach dem Fenster, so daß er die Aussicht auf die Kurfürstenbrücke hatte. Sein mit spärlichem Haar bedecktes Haupt war etwas nach vorn herübergebeugt, als erliege es unter der Gewalt des Augenblicks. Neben ihm, die Hand auf die Rücklehne seines Sessels gestützt, stand die Königin. Ihr bleiches, thränenvolles Gesicht beugte sich auf den König. Mit unaussprechlicher Angst in den leidenden Zügen blickte sie auf ihn herab, als erwarte sie ein unheilvolles Wort aus dem Munde des Königs.[103]

Auf der andern Seite des Sessels, doch etwas entfernter, stand ein kleiner feister Mann mit herabhängenden Armen und niedergeschlagenen Augen. Auch er schien einen Entschluß zu erwarten. Er schien eben zum Könige gesprochen zu haben und jetzt das Resultat seiner Worte abwarten zu wollen. Es war der fromme Herr Minister v. Th.

Einige Schritte von dieser schweigenden Gruppe entfernt standen in einer Fensternische im eifrigen, aber leisen Gespräch begriffen fünf Männer. Es handelte sich auch hier um die große Frage des Augenblicks, das lehrte ein Blick auf ihre theils consternirten, theils zornigen Gesichter. Nur Einer unter ihnen blickte, scheinbar ohne andere als passive Theilnahme an der Unterhaltung, mit aufmerksamem Auge auf die Straße hinab.

Der Prinz A. trat mit raschen Schritten auf diese Gruppe zu.

– Wozu ist der König entschlossen? – fragte er den Prinzen Carl, welcher ihm zunächst stand. Dieser zuckte die Achseln und schwieg.[104]

– Man muß die Hand zur Versöhnung bieten; es erfordert die Klugheit, jenes unselige Mißverständniß durch schnelle Nachgiebigkeit vergessen zu machen – sagte ein schmächtiger, hoher Mann mit aristokratischen Zügen.

– Sprechen Sie nicht von Mißverständnissen, Graf A. – sondern von Mißgriffen, erwiederte zornig ein dritter Herr, mit schwarzen, schlichten Haaren und einem breiten, gutmüthigen Gesicht, dessen Züge in diesem Augenblicke von Zorn oder Angst auf eigenthümliche Weise verzerrt waren.

– Keine Verdächtigung, lieber Schw. – nahm der Prinz Carl das Wort. – Lassen Sie uns einig sein, um das Fürchterlichste abzuwenden. Der König ist noch unentschlossen. –

– Aber er wird sich entschließen; ich bin dessen sicher. Wie ist seine Nachgiebigkeit belohnt worden? Sie haben es ja gesehen. Reichen Sie dem Pöbel den kleinen Finger, so verlangt er nicht etwa die ganze Hand, nein Kopf und Kragen. Die einzige Rettung liegt für uns in der[105] Festigkeit. Die Nachgiebigkeit und Versöhnlichkeit des Grafen A. würde als Furcht ausgelegt werden und dadurch gerade das Entgegengesetzte bewirken. –

Es war der Minister von B., eine große massive Figur, in der man eher einen derben Landwirth, als einen preußischen Minister vermuthet hätte.

– Ich sage – warf der Prinz A. ein, indem eine edle Entrüstung auf dem feinen blassen Gesicht eine matte Röthe hervorrief – ich sage, meine Herren, daß Verrath im Spiele ist.

– Verrath!? – rief fast laut Herr von B. aus. In demselben Augenblicke wandten der Prinz von Preußen und der noch immer am Stuhle des Königs harrende Herr von Th. das Gesicht dem kühnen Sprecher zu, so daß ihre Blicke sich begegneten. Beide lächelten, aber das Lächeln des Herrn von Th. war ein Lächeln der Schadenfreude, der Prinz von Preußen lächelte wie Jemand, der eine Unschicklichkeit aus Klugheit nicht rügen will,[106] um nicht den Schein persönlicher Gereiztheit auf sich zu laden.

Auch A. und Schw. lächelten, jener wie ein Diplomat, der weder bejahen noch vereinen will – dieser in offner Zustimmung.

Der Prinz Karl blickte ernsthaft auf den Sprechenden.

– Ich werde mit dem Könige reden – fuhr der Prinz A. fort, unbekümmert um den Eindruck, den seine Worte hervorbrachten – ich werde ihm die Stimmung des Volks schildern.

– Nein – sagte Prinz Karl, ihn bei der Hand fassend – stören Sie ihn in diesem Augenblicke nicht, aber sprechen Sie mit der Königin.

Der Prinz A. näherte sich der Königin und war eben im Begriff, sie anzureden, als der König sich erhob. Ein tiefes Schweigen trat ein, in welchem man deutlich von unten herauf die Worte: »Rache! Rache!« – »Waffen her!« – vernahm.

Graf A. – sagte der König. – Lassen Sie dem Volke die Proklamation verlesen, welche die Errichtung der Bürgerwehr verkündet. Ich will[107] das Aeußerste versuchen, um diesem unseligen Zustande auf friedliche Weise ein Ende zu machen.

Graf A. bemerkte, indem er sich entfernte, um den Befehl des Königs auszuführen, daß die Blicke der Minister Th. und B. sich begegneten.

– Majestät – sagte der Letztere, auf den König zutretend – Sie kennen meine Ergebenheit und Anhänglichkeit. – Auf diese allein mich berufend, wage ich Ew. Majestät zu beschwören, nur jetzt kein Schwanken, keine Unentschiedenheit! – –

– Ich gebe ihm Recht – sagte halblaut theils zu sich selbst, theils zum Prinzen Karl gewendet, der Prinz von Preußen. Es waren seine ersten Worte.

Der König, welcher mit auf den Rücken gelegten Händen, die Augen auf den Boden geheftet, mit kurzen, unsicheren Schritten hin und her ging, blieb einen Augenblick stehen und warf einen fragenden Blick auf seine Brüder. Aber er erwiederte nichts, sondern setzte seinen Weg wieder fort.

– Man kann zweifelhaft sein – fuhr der Minister fort – nach welcher Seite hin die Entscheidung ausfallen müsse, um am schnellsten,[108] sichersten und ohne viel Blutvergießen zum Ziele zu gelangen. Meiner Meinung nach ist in dieser Rücksicht kein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Wegen; aber unerschütterlich fest steht meine Meinung, daß jeder in der Mitte liegende zum Unheil führt. Entweder, Majestät, gewähren Sie Alles oder verweigern Sie Alles!

– Und welchen Rath gebt Ihr mir? – wandte der König sich an seine Brüder.

Gewähren Sie – sagte Prinz Karl.

Der Prinz von Preußen schwieg. Der König blieb eine Weile vor ihm stehen, trat dann ans Fenster, und sah, wie von einem mit Brettern beladenen Leiterwagen herab die Proklamation verlesen wurde. Aber die Menge schien unbefriedigt, sei es durch den Inhalt oder durch die Unmöglichkeit, in dem Tumult das Verlesene zu verstehen.

In diesem Augenblicke trat der General von Pr. ein.

– Majestät – sagte er, zum Könige herantretend – ich erwarte Ihre Befehle.[109]

Der König schien einen Entschluß gefaßt zu haben.

– Das Militair soll sich zurückziehen – sagte er bestimmt.

Der General trat einen Schritt zurück. – Das ist unmöglich, Majestät –

– Unmöglich? – fragte der König, den jeder Widerspruch erbitterte – Warum?

– Majestät, es würde zwecklos sein, die Aufregung ist bereits zu einem Grade gestiegen, der ein entschiedenes Handeln zur Pflicht macht.

Sehen Sie dort – er wies die Königsstraße hinab – die Barrikaden? In der Friedrichsstadt ist der Aufstand bereits vollkommen organisirt. Jede Minute Zögerung würde durch Ströme Blutes wieder eingebracht werden müssen. Ja, ich wage zu behaupten, daß nur ein schneller und kräftiger Angriff einem großen Blutbade vorbeugen kann. Lassen wir der Menge Zeit, sich hinter den Barrikaden festzusetzen, so werden tausendfache Opfer gebracht werden müssen für die Herstellung[110] der Ruhe – und wer kann wissen, ob sie vielleicht nicht doch vergeblich gefallen sind.

Der König schwieg noch immer, den starren Blick auf die Straße geheftet.

Hier war indeß eine neue Veränderung eingetreten. Man hatte mit dem Militair kapitulirt. Dieses wollte vom Platze zurückziehen, wenn das Volk ebenfalls die andere Hälfte des Platzes räumen würde. Letzteres zog sich sofort bis auf die Kurfürstenbrücke zurück. Aber statt sich ebenfalls zurückzuziehen, rückte das Militair im Sturmschritt nach und hatte dadurch den ganzen Platz und bald darauf auch die Kurfürstenbrücke in seine Gewalt bekommen.

Die fortdauernde spannende Ungewißheit, in welcher sich die Umgebung des Königs über dessen endliche Entscheidung befand, lagerte sich wie eine düstere Wolke über alle Anwesenden. Keiner wagte mehr zu sprechen. Aber alle Blicke hingen mit Angst an dem Gesicht des Königs, dessen Aufregung allmählig bis zur äußersten Grenze des Möglichen gestiegen war. Kalter Schweiß[111] stand in dicken Tropfen an seiner hohen kahlen Stirn. Sein bald starr auf die Straße gerichteter bald unstätt im Saale umherschweifender Blick hatte einen unheimlichen Glanz angenommen. –

Erschöpft warf er sich endlich wieder in den Armstuhl zurück, als vermöchte er die gewaltige Schwere dieser Stunde nicht länger zu tragen.

– Elisabeth – sagte er zu der Königin, welche sich wieder zu ihm herabbeugte, und weinte –

Elisabeth, du bist krank und solltest dich zur Ruhe legen. – – – Nein, nein, bleibe bei mir; es ist mir, als ob mein guter Engel mich verläßt, wenn du gehst – – – – o, ich traue Keinem von diesen hier, Keinem – – Sie haben alle ihre Absichten, ich weiß es wohl – – – wer mir sagen könnte, wer von ihnen es ehrlich meint, wem ich trauen könnte. – Dem wollt' ich folgen. Du bist ein Weib, dich schreckt die Gefahr – – horch, wie sie toben – – – – ah, da ist Arnim. Nun was bringen Sie?

Wenig Tröstliches, Majestät, doch glaube ich auch jetzt noch, daß eine Vermittelung immer noch[112] möglich ist, Majestät erlauben, einen Vorschlag zu machen? – –

– Lassen Sie hören, lieber Graf.

– Ich habe hier in der Geschwindigkeit eine Fahne fertigen lassen. – Der Graf entrollte ein großes Stück Leinwand, worauf mit fußgroßen Buchstaben die Worte standen: »Ein Mißverständniß! Der König will das Beste.« –

– Versuchen Sie es, Graf; aber eilen Sie. Gebe der Himmel, daß Ihre Hoffnung erfüllt wird.

Der Graf eilte fort, um seinen Vorschlag auszuführen. Der König trat abermals ans Fenster. – – – – Die Fahne erschien bald auf dem Platze. Zwischen zwei hohen Stangen befestigt, so daß die Worte deutlich zu lesen waren, bewegte sie sich nach der Königsstraße. Jetzt stand sie, die Menge umringte sie – –

Der König hielt den Athem an – –

– Ah, die Ruchlosen – rief er erbleichend,[113] als er die Fahne schwanken, fallen und mit Füßen treten sah. – Wohlan, es war das letzte Mittel. Das Aeußerste ist versucht worden. – Sie wollen es nicht Anders. – General Prittwitz!

– Majestät!

– Thun Sie Ihre Pflicht, General – – und melden Sie mir, wann die Ruhe hergestellt ist.

Mit diesen Worten reichte der König der Königin den Arm und begab sich nach seinem Cabinet.

Die Zurückbleibenden sahen ihm schweigend nach.

Unschlüssig, was er thun solle, trat auch der Prinz A. ans Fenster und verfolgte die Bewegung, welche sich jetzt unter dem Militair kundgab. Am Eingange der Breiten-Straße wurden zwei Kanonen aufgefahren.

Da erzitterten plötzlich die Fenster von dem dumpfen Donner des schweren Geschützes.[114]

Unwillkürlich trat der Prinz einen Schritt vom Fenster zurück und faßte nach seinem Degen. – Einige Sekunden später fand er sich auf der Straße, ohne zu wissen, wie er herabgekommen. Von einer unerklärlichen Ahnung getrieben, eilte er nach Alicens Wohnung.[115]

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 2, Mannheim 1849, S. 101-116.
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