XII

[116] Als Alice ihre Wohnung wieder verlassen hatte, waren Lydia und Salvador zu ihrem früheren Schweigen zurückgekehrt. Lydia wandte von Zeit zu Zeit, wenn ein fernes Getöse von Waffen zu ihr herüberdrang oder der dumpfe Knall eines Kanonenschusses die Scheiben erdröhnen machte, ihren Blick mit geheimem Schauder auf die Straße hinab. Aber noch war diese Gegend vom Gewühl des Kampfes völlig unberührt geblieben. Die Läden waren geschlossen; an den Hausthüren standen eifrig sich unterhaltende oder mit ängstlicher Neugier die Straße hinabschauende Gruppen. Nur zuweilen lief ein einzelner Mensch eilig das Trottoir hinab, ohne den Gaffern an der Hausthüre,[116] die ihn mit Fragen bestürmten, Rede zu stehen. Salvador hatte seinen alten Sitz zu den Füßen Lydia's wieder eingenommen und schien nicht die geringste Theilnahme für die Ereignisse draußen zu empfinden. Mehr spielend als in ernster Absicht, zog er seinen Dolch hervor, prüfte Schneide und Spitze und versuchte, da er etwas angelaufen war, ihm durch Schleifen auf dem hölzernen Fenstertritt, worauf Lydia's Stuhl stand, seinen früheren Glanz zurückzugeben.

Das Getöse kam näher, die Schüsse donnerten stärker, die Zwischenräume zwischen den einzelnen Salven wurden kürzer. Häufiger eilten jetzt die Menschen die Straßen hinab; bald zeigten sich kleinere, bald größere Trupps von Arbeitern, welche theils mit Flinten und Säbel, theils mit großen Eisenstangen, Aexten, Hacken und sonstigen Werkzeugen bewaffnet waren. – Während ein Theil die nächste Straßenecke verbarrikadirte, rissen Andere das Pflaster auf und sammelten die Steine zu einzelnen Haufen. –[117] Die Barrikade war fertig – – man begann jetzt die Häuser zu befestigen.

Mit ängstlichem Staunen blickte Lydia auf das Treiben nieder. Plötzlich wurde sie durch ein bescheidenes Klopfen an der Thüre aufgeschreckt.

– Was thun wir, Salvador? – fragte sie bebend den Knaben. – Wenn's Anna wäre?

– Die Tia hat gesagt, daß wir nicht öffnen sollen – erwiederte er, ruhig in seinem Schleifen fortfahrend.

Das Klopfen wurde stärker. – Salvador hörte auf zu schleifen und faßte den Dolch fester.

– Aufgemacht – donnerte man jetzt draußen.

– Sie werden die Thüre einschlagen – Geh, öffne Salvador. –

– Die Tia hat gesagt, wir sollen Niemandem öffnen – wiederholte er.

– Dann werde ich selbst öffnen – – Lydia ging nach der Thüre. Mit bebender Hand zog sie den Riegel zurück, doch schon bereute sie ihre That, als sie einen Haufen wild aussehender bewaffneter Männer erblickte.[118]

Erschreckt trat sie einen Schritt zurück. Da erblickte sie Anna unter ihnen.

– O, fürchten Sie nichts, Fräulein – sagte diese. – Sie wollen Ihnen nichts zu Leide thun – – sie wünschen nur Waffen von Ihnen.

– Du weißt ja Anna, daß hier nur zwei Frauen wohnen. Wir haben keine Waffen.

– Ich habe doch eine Waffe – sagte Salvador hervortretend, und seinen Dolch zeigend – aber die werde ich behalten.

Ein tüchtiger Junge – sage lächelnd der Anführer der Arbeiter. – Sie werden die Thüre nicht wieder verschließen? – fuhr er zu Lydia gewendet in halb fragendem halb befehlendem Tone fort – und uns die Zimmer nach der Straße überlassen? –

– Mein Gott, was wird aber Alice sagen? – bemerkte Lydia zu Salvador gewendet.

– Alice! – sagte der Arbeiter – wohnt Alice hier?

– Ja, sie ist meine Freundin – erwiederte Lydia – erstaunt über des Arbeiters Frage.[119]

– Hierher – Cameraden – ein glücklicher Zufall hat uns in die Wohnung unserer Präsidentin geführt. Alice wohnt hier!

Eine freudige Bewegung gab sich in dem Haufen kund.

– Das ist hier ihre Freundin! Sie muß eine Schutzwache haben. Wer bleibt hier als Wache? Freiwillige vor!

Alle drängten sich nach dieser Ehre. Der Führer wählte zehn der Stärksten und am besten Bewaffneten aus und stellte sie Lydia zur Disposition.

– Ihr vertheidigt diese Dame bis auf den letzten Mann. Ihr andern wißt, was noch zu thun ist. Schnell ans Werk.

Das Haus wurde jetzt in Vertheidigungszustand gesetzt. Es war die höchste Zeit, denn der Angriff auf die Barrikade hatte bereits begonnen.

Lydia, welcher sich eine Aufregung bemächtigt hatte, durch welche die Angst vor der nahenden Gefahr in den Hintergrund gedrängt wurde, eilte ans Fenster. – Sie sah, wie die Soldaten sich[120] zu einer zweiten Salve bereit machten – aber die hinter den Barrikaden stehenden Arbeiter kamen ihr zuvor. Auf das Kommandowort des Führers flog ein Steinregen in die Reihen der Soldaten – die Wirkung zeigte sich sogleich – zehn bis zwölf waren sofort gefallen, die Uebrigen zogen sich eilig zurück.

– Machen Sie das Fenster zu, liebes Fräulein – sagte Anna. Je weiter die Soldaten stehen, desto größer ist hier oben die Gefahr. Die Kugeln gehen dann höher. – Die Richtigkeit dieser Bemerkung zu erkennen hatte Lydia sogleich Gelegenheit. Dicht neben ihr schlug eine Musketenkugel in die Bekleidung der Fenster. Sie bohrte sich einen Zoll tief in den Kalk ein und fiel dann matt auf das Fenstergesims.

– Die sollt' ihr wieder haben, – sagte ein Arbeiter, die Kugel aufnehmend. Sehen Sie dort den kleinen Lieutenant mit dem blonden Haar; der soll sie kosten.

Mit diesen Worten eilte er auf den Boden.[121] – Man möchte sonst das Fenster aufs Korn nehmen, wenn ich von hier aus feuerte – sagte er.

Die Soldaten rückten zum zweiten Male im Sturm an. Zehn Schritte vor der Barrikade machten sie Halt, die Kolben der Gewehre an die Wange gedrückt. So standen sie, wartend, ob nicht ein Kopf über der Barrikade erscheinen würde. Da hörte Lydia einen schwachen Knall über sich, in demselben Augenblicke fuhr der »kleine Lieutenant« mit der Hand nach der Brust; der Säbel entfiel seiner Hand und er stürzte zu Boden.

– O mein Gott – sagte sie, das Gesicht verhüllend – er hat seine Drohung wahr gemacht. – –

Es ist ein eigenes Ding, dem Morde eines Menschen zuzuschauen, der in einem Augenblick kräftig und lebensmuthig in der Fülle der Gesundheit dastand, im nächsten als Leiche auf den Boden hingestreckt liegt. Der Eindruck ist nach den Charakteren verschieden, doch gewöhnlich nur ein zwiefacher: Man erstarrt entweder im Innersten seiner Seele oder – bleibt gleichgültig. Nicht immer[122] übt ein solcher Anblick gerade auf den Neuling den erstern, auf den damit Vertrauten den letztern Eindruck aus. Es giebt Menschen, die sich nie an dergleichen gewöhnen können, sondern nur dann darüber hinaus kommen, wenn ihre eigene Begeisterung und jene Trunkenheit, in welche die Hitze des Kampfes zu versetzen pflegt, eine gewisse Höhe erreicht hat; Andre dagegen bleiben einem solchen Schauspiel gegenüber um so kälter, je krankhafter vorher ihre Bangigkeit und je furchtbarer ihre Vorstellung davon gewesen.

Lydia war eine weiche Natur, welche, einem zarten Saitenspiel vergleichbar, durch den leisesten Hauch – sei es der Freude oder des Schmerzes – in nachhallende Bewegung versetzt wurde. Wenn sie daher durch ihre anfängliche Aufregung gegen die unter ihren Augen andringende Gefahr gewissermaßen gestählt worden, so war doch mehr ihre Phantasie als ihr Gefühl angeregt. Die nackte Wirklichkeit schlug daher durch ihre grausame Kälte eben so sehr die Wärme ihrer Illusionen, wie durch ihre triviale Rohheit die Idealität[123] ihrer Empfindung nieder. Die künstliche Besonnenheit, welche sie gewonnen, wich einer verzweiflungsvollen Trostlosigkeit, die sie nahe an den Rand der Bewußtlosigkeit führte.

Salvador hatte sie nicht verlassen. Zwar zog es ihn hinab unter die Kämpfenden, aber da er kein besonderes Interesse am Kampf haben konnte, als höchstens den Kampf selbst, so kostete es ihm wenig Ueberwindung, bei Lydia zu bleiben. Hinter ihrem Stuhle stehend, verfolgte er, wie sie, alle Bewegungen des Feindes. Als der Officier fiel, schlug sein Herz rascher und hob sich seine Brust stolzer, als sei er selbst es gewesen, der ihn getödtet. Um so mehr war er über den Eindruck erschreckt, den der Fall des Officiers auf Lydia hervorbrachte, deren Angst sich zuletzt in einem Strom von Thränen auflöste.

Salvador schauete unverwandt auf die Straße hinab. Er sah, wie die Soldaten nach dem Fall ihres Führers sich zurückzogen, aber nur um sich zu verstärken. Bald rückten sie in dreifacher Menge wieder gegen die Barrikade vor. Der Kampf[124] wurde jetzt von beiden Seiten hitziger und mit größerer Erbitterung geführt. Zwar waren die Soldaten durch den Mangel jeglicher Deckung dem Steinregen und den einzelnen Schüssen der Arbeiter mehr ausgesetzt. Dennoch waren bereits mehrere der Letzteren durch wohlgezielte Schüsse hingestreckt worden.

So dauerte der Kampf eine volle Stunde hindurch. Da schien es endlich, als ob die Soldaten, des nutzlosen Angriffs müde, sich zurückziehen wollten.

Salvador bemerkte, wie ein Officier in Jägeruniform, der ihm nicht unbekannt schien, auf den kommandirenden Officier zueilte und ihm mit lebhaften Gestikulationen, wobei er öfters auf die Barrikade zeigte, eine Nachricht mitzutheilen schien. Der Officier nickte mit dem Kopfe und bog mit seiner Compagnie um die nächste Straßenecke; die auf der Barrikade stehenden Arbeiter erhoben ein Siegsgeschrei. Doch schon nach einigen Minuten kehrten die Soldaten zurück, aber in geringerer Anzahl. Die Hälfte der Compagnie war nebst[125] jenem Jägerofficier verschwunden. Salvador vermuthete eine Kriegslist und theilte seine Furcht einem der zum Schutze Lydia's zurückgelassenen Arbeiter mit.

– Sie werden den Versuch machen, die Barrikade im Rücken anzugreifen – meinte Salvador.

Anna schüttelte den Kopf. – Das ist unmöglich. Ich komme von jener Seite. Sie ist am stärksten verbarrikadirt und am besten vertheidigt.

Die Soldaten verhielten sich vollkommen ruhig, aber in einer Stellung, als erwarteten sie irgend ein Signal, um den Angriff zu erneuern. Salvador, dessen Besorgniß noch nicht geschwunden war, verlor den commandirenden Officier nicht aus den Augen. Es dünkte ihm, als ob jener von Zeit zu Zeit seinen Blick aufmerksam auf das Obergeschoß eines der gegenüberliegenden Häuser richtete. Auch diese Bemerkung theilte er Anna mit, die mit steigender Unruhe ihr Auge ebenfalls auf dies Haus heftete, das etwa hundert Schritt hinter der Barrikade lag und noch nicht besetzt worden war.[126]

In der That schien es, als ob in diesem Hause irgend Etwas vorginge. Vor wenigen Minuten noch schien es völlig leer und unbewohnt; jetzt sahen Salvador und Anna eine Menge Gestalten an den Fenstern vorüber eilen. – Ein Fenster im zweiten Stock wurde geöffnet – Salvador erstarrte das Wort im Munde, als jener Jägerlieutenant, den er vorhin mit dem Officier hatte sprechen sehen, am Fenster erschien, ein weißes Tuch herauswehen ließ und dann sogleich wieder verschwand.

Auch Anna hatte die Erscheinung bemerkt.

– Das ist Verrath! – stammelte sie erbleichend und stürzte hinab auf die Straße, um die Arbeiter von der drohenden Gefahr zu unterrichten.

Aber es war zu spät. Kaum hatte der Officier das Zeichen erblickt, als er den Befehl zum Angriff gab. Mit erneuerter Wuth stürzten die Soldaten auf die Barrikade zu. Ein Steinregen empfing sie, aber diesmal wichen sie nicht. In der Gewißheit, bald im Rücken der Feinde eine[127] Unterstützung zu erhalten, hielten sie Stand und begannen mit vorgestreckten Bajonetten das Holzwerk zu erklimmen. – Die tapferen Arbeiter wehrten sich mit dem Muthe der Verzweiflung; da stürzten plötzlich die Soldaten aus jenem Hause heraus und fielen ihnen in den Rücken – der Muth entsank ihnen – sie verließen die Barrikade und zogen sich in die nächstliegenden Häuser zurück.

Es begann jetzt einer jener fürchterlichen Kämpfe, von dem man nur eine Vorstellung hat, wenn man sie aus eigener Anschauung kennen lernte. Es galt, die Häuser von den Insurgenten zu säubern.

Das Haus, in welchem Lydia sich befand, war eins der ersten, welche angegriffen wurden. – Die arme Lydia war durch die fortwährende Angst in einen bewußtlosen Zustand gefallen. Salvador legte sie mit Hülfe eines Arbeiters auf das Sopha und eilte die Treppe hinab.

Die Hausthür war bereits erbrochen. Die Vertheidiger des Hauses, deren Zahl sich etwa[128] auf vierzig bis fünfzig belief, hatten sich theils in den ersten Stock zurückgezogen, wo sie die Treppe besetzt hielten, theils hatten sie sich in das Hintergebäude begeben, um auch diese Eingänge in Vertheidigungszustand zu versetzen. An der Haupttreppe befanden sich nur zehn Arbeiter; drei von ihren Cameraden lagen bereits von den Kugeln ihrer Feinde getroffen auf dem untern Hausflur. Neben ihnen fünf Soldaten, deren Schädel von Steinen zerschmettert waren.

Die Treppe war enge, so daß immer nur zwei bis drei Soldaten neben einander die Stufen besteigen konnten. Dadurch war der Nachtheil der schlechten Bewaffnung für die Arbeiter fast ausgeglichen. Die Wuth der Soldaten stieg auf einen fürchterlichen Grad. Immer von Neuem stürmten sie die Treppe hinan, und immer mußten sie dem in der Nähe furchtbar wirkenden Steinregen der Vertheidiger weichen. Aber es kam der Augenblick, wo der Steinhaufen so zusammengeschmolzen war, daß jeder Arbeiter nur noch einen einzigen Stein in der Hand hielt.[129]

– Laßt sie ganz nahe heran kommen – commandirte der Führer und wähle sich jeder einen bestimmten Mann aus. Keiner werfe früher, bis ich commandire. Jeder, der geworfen, steigt die zweite Treppe hinauf. Die Soldaten stürmten an, den linken Arm über den Kopf gehalten, die rechte Hand das Gewehr fassend. Noch fehlten nur fünf Stufen und sie wären oben gewesen, da donnerten die Steine auf ihre Köpfe und schreiend, blutend, betäubt stürzten sie durcheinander und zurück. Ueber ihre Körper drangen die Folgenden vor. Sie erreichten die letzte Stufe. Die Arbeiter hatten sich eine Treppe höher gezogen.

Der Kampf sollte nun von Neuem beginnen, da gebot eine Stimme von unten herauf »Halt«! –

– Der Verlust an Menschen und, was schlimmer ist, an Zeit, ist zu groß. Wir müssen zu einem andern Mittel greifen – sagte der fremde Officier zu dem Anführer der Truppe. Beide standen auf dem untersten Flur, vor den Würfen der Arbeiter geschützt.[130]

– Sie haben wohl recht, aber welches Mittel? –

– Kennen Sie die Procedur des Bienenschwefelns? –

– Das ist ein capitaler Einfall; aber wir werden das Nest anzünden.

– Die Bienenstöcke sind auch von Stroh, nicht wahr? und verbrennen nicht?

– Sie haben wieder recht, auf Ehre. Wir wollen sogleich ans Werk.

Rasch wurde Stroh herbeigeschafft und am Fuße der Treppe angezündet. In wenig Augenblicken wirbelte ein erstickender Dampf bis zu den höchsten Dachsprossen empor. Aber die Rechnung schien ohne den Wirth gemacht. Denn statt, wie man vermuthete, die hartnäckigen Vertheidiger zur Uebergabe zu zwingen, rührte sich nichts. Dagegen war es den Soldaten jetzt wegen des Qualms ebenfalls unmöglich geworden, ihre Angriffe zu erneuen. Ja, als der Rauch alle Räume des Corridors erfüllt hatte und keinen Abzug fand, verdichtete er sich zuerst oben, und senkte[131] sich dann immer tiefer und tiefer, bis er endlich das Parterre erreichte. Da drängte sich jener Unbekannte vor und rief:

Folgt mir, Cameraden, ich werde euch führen. –

Mit Sicherheit darauf rechnend, daß der Rauch die Feinde in die Zimmer getrieben, auf der Treppe also weniger zu fürchten war, zumal theils der dicke Qualm, theils die bereits einbrechende Dunkelheit eine deutliche Unterscheidung von Feind und Freund unmöglich machte, schritt er den Soldaten voran auf eine Thüre zu und deutete mit einer verständlichen Pantomine an, daß sie eingeschlagen werden solle. Die Soldaten gehorchten. Einige Kolbenstöße reichten hin, sie zu zerschmettern. Man drang ein – es war ein leeres Gemach – man gelangte zu einer zweiten Thüre. – Da warf sich ihnen mit wüthendem Geschrei die Schaar der Arbeiter entgegen. Einigen Soldaten wurden die Gewehre entrissen, Andere, und sie selbst mit ihren eigenen Waffen niedergestreckt. Man kämpfte Mann gegen Mann.[132] Die Schläge donnerten, die Verwundeten ächzten – endlich neigte sich der Sieg auf die Seite der Uebermacht an Zahl und Bewaffnung. Das bis auf fünf Kämpfer geschmolzene Häuflein der Arbeiter zog sich zurück. Die Soldaten gewannen frischen Muth, sie drangen nach – – da plötzlich blieben sie an den Boden gebannt und ihre Waffen entsanken fast ihren Händen – – ein bleiches schönes Weib stand vor ihnen, wie eine überirdische Erscheinung, neben ihr ein schwarzlockiger Knabe, in der Hand einen blinkenden Dolch haltend. Es war Lydia. Ihr Gemach war der Schauplatz des eben beschriebenen Kampfes geworden. Die Arbeiter hatten sich um ihr Lager geschaart, so daß sie anfangs den angreifenden Soldaten nicht sichtbar war. In dem Augenblick, wo der Kampf in ihrer unmittelbaren Nähe entbrannte, erwachte sie aus ihrer Betäubung, und wunderbar, mit ihrem Bewußtsein war ein Muth, eine Geistesgegenwart in sie zurückgekehrt, die sie inmitten der furchtbaren Scene, von der sie Zeugin war, ruhig und besonnen erhielt.[133] Sie sah, daß die Arbeiter unterliegen mußten, und befahl ihnen, sich zurückzuziehen.

Sie selbst aber erhob sich und trat den Soldaten muthig entgegen, sie versuchte zu sprechen, aber die Stimme versagte ihr. Den rechten Arm ausgestreckt, den linken auf Salvadors Schulter gestützt, so stand sie regungslos den Erstaunten gegenüber.

– Nun, was zaudert Ihr? ertönte die Stimme des fremden Officiers hinter ihnen. Er trat vor und er blieb ebenfalls erstarrt vor Lydia stehen.

– Gilbert! – riefen die Arbeiter von der andern Seite erstaunt. In demselben Augenblick sank Lydia, von der Stimme Gilberts, Gilbert, vom Dolche Salvadors getroffen, zu Boden; im nächsten hatten sich die Arbeiter abermals auf die Soldaten gestürzt. – Der Kampf entbrannte von Neuem. –

Der Ausgang konnte eben so wenig zweifelhaft sein, wie vorhin. Ein Soldat hatte Salvador ergriffen, und ihn zum offnen Fenster geschleppt.[134] Der Knabe aber hatte sich fest um seinen Gegner geklammert, so daß dieser sich nicht von ihm losmachen konnten. Jetzt taumelte er rückwärts – Salvador hatte ihn ins Gesicht gebissen. Kaum befreit, warf er sich zu Lydia auf den Boden. Doch sein Gegner, dessen Erbitterung noch durch den Schmerz der Wunde vergrößert worden war, ergriff ihn von Neuem. Diesmal hatte er ihn besser gefaßt. Abermals schleppte er ihn zum Fenster – da fühlte er sich plötzlich an der Schulter gepackt und zu Boden gerissen. Der Prinz A. in Generalsuniform stand vor ihm.

– Verruchter! – donnerte ihm dieser zu – an wehrlosen Knaben erprobst Du Deine Tapferkeit? –

Dem tobenden Kampfgewühl war eine Todtenstille gefolgt. Drei von den fünf übriggebliebenen Arbeitern lagen blutend am Boden, aber eben so viel Soldaten hatten ihren Fall mit zerschmettertem Hirnschädel gebüßt.[135]

– Wer hat diese Schlächterei befohlen? – fragte der Prinz weiter, einen Blick tiefen Schauders über die Scene werfend.

Der commandirende Officier trat vor: – Excellenz –

– Sie haben die preußische Uniform geschändet, Herr! – In der That, eine Bravour sonder Gleichen haben Sie bewiesen gegen Knaben, Weiber und Unbewaffnete. – Gehen Sie, ich will nicht fragen, wer Sie sind, damit ich nicht gezwungen bin, Sie kassiren zu lassen. Ein tiefes Stöhnen unterbrach die Stille, welche abermals nach den Worten des Prinzen eingetreten war – es kam aus der Brust Gilberts. Der Prinz wandte sein Gesicht und fuhr erbleichend zurück.

– Wie kommt der Mensch hieher? – stammelte er.

– Er war unser Führer – sagte der Officier.[136]

Der Prinz winkte mit der Hand und wandte sich ab. Die Soldaten hoben Gilbert auf und verließen lautlos das Zimmer.

Salvador, welcher sich wieder über Lydia geworfen hatte, erhob sich jetzt und rief die beiden Arbeiter. Leise traten sie näher, um die bewußtlose Lydia in das andere Zimmer zu tragen. Da erwachte der Prinz aus seiner Träumerei und warf einen Blick auf das Gesicht der Leblosen.

– Therese! – rief er mit durchdringendem Schrei und stürzte neben ihr nieder. Therese – erwache, erwache, Geliebte!![137]

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 2, Mannheim 1849, S. 116-138.
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