|
[8] Der Rodelbauer, dessen Haus mit dem rothangestrichenen Gebälk und einem frommen Spruch in großer Herzform, nicht weit vom Hause des Josenhans stand, hatte sich vom Gemeinderath zum Pfleger der verwaisten Kinder ernennen lassen. Er weigerte das um so weniger, da Josenhans vordem als Anderknecht bei ihm gedient hatte. Seine Pflegschaft bestand aber in weiter nichts, als daß er die unverkauften Kleider des Vaters aufbewahrte und manchmal, wenn er Einem der Kinder begegnete, im Vorübergehen fragte: »bist brav?« und ohne die Antwort abzuwarten, weiter schritt. Dennoch war in den Kindern ein seltsamer Stolz, da sie erfuhren, daß der Großbauer ihr Pfleger sei; sie kamen sich dadurch als etwas ganz Besonderes, fast Fürnehmes vor. Sie standen oft abseits bei dem großen Hause und schauten verlangend hinauf, als erwarteten sie Etwas und wußten nicht was; und bei den Eggen und Pflügen neben der Scheune saßen die Kinder oft und lasen immer wieder den Bibelspruch am Hause. Das Haus redete doch mit ihnen, wenn auch sonst Niemand daraus.
Es war am Sonntag vor Allerseelen, als die Kinder wiederum vor dem verschlossenen Elternhaus spielten – sie waren wie an den Ort gebannt – da kam[9] die Landfriedbäuerin den Hochdorfer Weg herein; sie trug einen großen rothen Regenschirm unterm Arm und ein schwarzes Gesangbuch in der Hand. Sie machte den letzten Besuch in ihrem Geburtsorte, denn schon gestern hatte der Knecht auf einem vierspännigen Wagen den gesammten Hausrath zum Dorf hinausgefahren und morgen in der Frühe wollte sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern auf das neuerkaufte Gut im fernen Allgäu ziehen. Schon von weitem bei der Hanfbreche nickte die Landfriedbäuerin den Kindern zu, denn Kinder sind ein guter »Angang« – so nennt man die erste Begegnung – aber die Kinder konnten nichts davon sehen, so wenig als von den wehmuthsvollen Mienen der Bäuerin. Als sie jetzt bei den Kindern stand, sagte sie: »Grüß Gott, Kinder! Was thut denn ihr schon da? Wem gehöret ihr?«
»Da dem Josenhans,« antwortete Amrei, auf das Haus deutend.
»O ihr armen Kinder,« rief die Bäuerin, die Hände zusammenschlagend; »dich hätt' ich kennen sollen, Mädle, grad so hat deine Mutter ausgesehen, wie sie mit mir in die Schul' gegangen ist. Wir sind gute Kamrädinnen gewesen und euer Vater hat ja bei meinem Vetter, dem Rodelbauer, gedient. Ich weiß Alles von euch. Aber sag' Amrei, warum hast du keine Schuhe an? Du kannst ja krank werden bei dem Wetter? Sag' der Marann', die Landfriedbäuerin von Hochdorf ließe ihr sagen, es sei nicht brav, daß sie dich so herum laufen läßt. Nein, brauchst Nichts sagen, ich will schon selber mit ihr reden. Aber Amrei, du mußt[10] jetzt groß und gescheidt sein und selber auf dich Acht geben. Denk' daran, wenn das deine Mutter wüßt', daß du in solcher Jahrszeit so barfuß herumlaufst!« Das Kind schaute die Bäuerin groß an, als wollte es sagen: weiß denn die Mutter Nichts davon? Die Bäuerin aber fuhr fort: »Das ist noch das Aergste, daß ihr nicht einmal wissen könnet, was für rechtschaffene Eltern ihr gehabt: drum müssen's euch ältere Leute sagen. Denket daran, daß ihr euren Eltern erst die rechte Seligkeit gebt, wenn sie im Himmel droben hören, wie hier unten die Menschen sagen: des Josenhansen Kinder, die sind die Probe von allem Guten, da sieht man recht deutlich den Segen der rechtschaffenen Eltern.«
Rasche Thränen rannen bei diesen letzten Worten der Bäuerin von den Wangen. Die schmerzliche Rührung in ihrer Seele, die noch einen ganz andern Grund hatte, brach jetzt bei diesen Gedanken und Worten unaufhaltsam hervor, und Eigenes und Fremdes floß ineinander. Sie legte ihre Hand auf das Haupt des Mädchens, das im Anblick der weinenden Frau auch heftig zu weinen begann; es mochte fühlen, wie sich eine gute Seele ihm zuwendete, und eine dämmernde Ahnung, daß es wirklich seine Eltern verloren, begann ihm aufzugehen.
Das Angesicht der Frau aber leuchtete plötzlich auf. Sie richtete das Auge, in dem noch Thränen hingen, zum Himmel auf und sagte: »Guter Gott, das schickst Du mir.« Dann fuhr sie zu dem Kind gewendet fort: »Horch, ich will dich mitnehmen. Meine Lisbeth ist[11] mir in deinem Alter genommen worden. Sag, willst du mit mir in's Allgäu gehen und bei mir bleiben?«
»Ja,« sagte Amrei entschlossen.
Da fühlte sie sich von hinten angefaßt und geschlagen.
»Du darfst nicht,« rief Dami, der sie umfaßte und sein ganzes Wesen zitterte.
»Sei stet,« beruhigte Amrei, »die gute Frau nimmt dich ja auch mit. Nicht wahr, mein Dami geht auch mit uns?«
»Nein, Kind, das geht nicht, ich hab' Buben genug.«
»Dann bleib' ich auch da,« sagte Amrei und faßte ihren Bruder an der Hand.
Die fremde Frau war in sich zusammengeschauert und jetzt sah sie mit einer Art von Erleichterung auf das Kind. In überwallender Empfindung, vom reinsten Zuge des Wohlthuns erfaßt, hatte sie eine That und eine Verpflichtung auf sich nehmen wollen, deren Schwere und Bedeutung sie nicht sattsam überlegt hatte, und namentlich wie ihr Mann, ohne vorher gefragt zu sein, das aufnehmen werde. Als jetzt das Kind selber sich weigerte, trat eine Ernüchterung ein und ihr ward Alles rasch klar; darum ging sie mit einer gewissen Erleichterung schnell auf die Abwehr ihres Unternehmens ein. Sie hatte ihrem Herzen genügt, indem sie die That thun wollte, und jetzt, da sich Hindernisse entgegenstellten, hatte sie eine eigene Art von Befriedigung, daß die That unterblieb, ohne daß sie selbst ihr Wort zurücknahm.
»Wie du willst,« sagte die Bäuerin. »Ich will[12] dich nicht überreden. Wer weiß, vielleicht ist es auch besser so, daß du zuerst groß wirst. In der Jugend Noth ertragen lernen, das thut gut, das Bessere nimmt sich leicht an; wer noch etwas Rechtes geworden ist, hat in der Jugend Schweres erfahren müssen. Sei nur brav. Aber das behalt' im Andenken, daß du allzeit, wenn du brav bist, um deiner Eltern willen eine Unterkunft bei mir haben sollst, so lang mir Gott das Leben läßt. Denk' daran, daß du nicht verlassen bist auf der Welt, wenn dir's übel geht. Merk' dir nur die Landfriedbäuerin in Zusmarshofen im Allgäu. Und noch Eins. Sag' im Dorf nichts davon, daß ich dich hab' annehmen wollen; es ist auch wegen der Leute, sie werden dir's übel nehmen, daß du nicht mitgegangen bist. Aber es ist schon gut so. Wart', ich will dir noch was geben, daß du an mich denkst.« Sie suchte in den Taschen, aber plötzlich fuhr sie sich an den Hals und sagte: »Nein, nimm nur das.« Sie hauchte sich mehrmals in die steifen Finger, bis sie es zu Stande brachte, denn sie nestelte eine fünfreihige Granatschnur, daran ein gehenkelter Schweden-Dukaten hing, vom Halse und schlang das Geschmeide um den Hals des Kindes, wobei sie es küßte. Amrei sah wie verzaubert drein unter all diesen Hantierungen. »Für dich hab' ich leider Nichts,« sagte die Frau zu Dami, der eine Gerte, die er in der Hand hielt, in immer kleinere Stücke zerbrach, »aber ich schicke dir ein Paar lederne Hosen von meinem Johannes, sie sind noch ganz gut. Du kannst sie tragen, wenn du größer bist. Jetzt b'hüt euch Gott, ihr lieben Kinder. Wenn's[13] möglich ist, komme ich noch zu dir Amrei. Schicke mir nach der Kirche jedenfalls die Marann.' Bleibet brav und betet fleißig für eure Eltern in der Ewigkeit und vergesset nicht, daß ihr im Himmel und auf Erden noch Annehmer habt.«
Die Bäuerin, die zum behenden Gang ihren Oberrock in Zwickel aufgesteckt hatte, ließ ihn jetzt beim Eingange des Dorfes herab, und mit raschen Schritten ging sie das Dorf hinein und wendete sich nicht mehr um.
Amrei faßte sich an den Hals, beugte das Gesicht nieder und wollte immer die Denkmünze betrachten, aber es gelang ihr nicht ganz. Dami kaute an dem letzten Stück seiner Gerte, und als ihn jetzt die Schwester betrachtete und Thränen in seinen Augen sah, sagte sie:
»Wirst sehen, du kriegst das schönste Paar Hosen im Dorf.«
»Und ich nehm' sie nicht,« sagte Dami und spie dabei ein Stück Holz aus.
»Ich will ihr schon sagen, daß sie dir auch ein Messer kaufen muß. Ich bleib' heut' den ganzen Tag daheim, sie kommt ja noch zu uns.«
»Ja, wenn sie schon da wär',« entgegnete Dami, ohne zu wissen was er sagte; nur sein Zorn und das Gefühl der Zurücksetzung hatte ihm diesen mißtrauischen Vorwurf eingegeben.
Es läutete schon zum Erstenmal, die Kinder eilten ins Dorf zurück. Amrei übergab mit kurzem Bericht den neugewonnenen Schmuck der Marann', und diese sagte:[14]
»Du bist ja ein Glückskind! Ich will dir's gut aufheben. Jetzt hurtig in die Kirche.«
Während des Gottesdienstes sahen die beiden Kinder immer nach der Landfriedbäuerin und beim Ausgang warteten sie an der Thür; aber die vornehme Bäuerin war von so vielen Menschen umringt, die alle in sie hineinredeten, daß sie sich immer im Kreise drehen mußte, um bald da, bald dort zu antworten. Für den wartenden Blick der Kinder und deren ständiges Nicken fand sie keine Aufmerksamkeit.
Die Landfriedbäuerin hatte das jüngste Töchterchen des Rodelbauern, die Rosel, an der Hand; sie war um ein Jahr älter als Amrei und diese stieß in der Entfernung immer vor sich hin, als müßte sie die Zudringliche, die ihren Platz einnahm, wegdrängen. Oder hatte die vornehme Bäuerin nur ein Auge für Amrei draußen beim letzten Haus in der Einsamkeit, aber mitten unter den Menschen kannte sie sie nicht? Gelten da nur die Kinder reicher Leute, die Kinder der Verwandten? Amrei erschrak, als sie diesen leise sich regenden Gedanken plötzlich laut hörte, denn Dami sprach ihn aus; aber während sie mit dem Bruder in ziemlicher Entfernung dem großen Trupp folgte, der die Landfriedbäuerin umgab, suchte sie den bösen Gedanken dem Bruder und wohl damit auch sich auszureden. Die Landfriedbäuerin verschwand endlich im Hause des Rodelbauern und die Kinder kehrten still zurück, bis Dami plötzlich sagte:
»Wenn sie zu dir kommt, sag' nur auch, daß sie auch zum Krappenzacher gehen muß und ihm sagen, daß er gut gegen mich sein soll.«[15]
Amrei nickte und die Kinder trennten sich, ein Jedes ging nach dem Hause, wo es eine Unterkunft gefunden hatte.
Die Nebel, die sich am Morgen verzogen hatten, kamen am Mittag als voller Regenguß hernieder.
Der große rothe Regenschirm der Landfriedbäuerin bewegte sich aufgespannt hin und her im Dorf und man sah kaum die Gestalt, die darunter war. Die schwarze Marann' hatte die Landfriedbäuerin nicht getroffen und sagte bei der Heimkunft: »Sie kann ja auch zu mir kommen, ich will Nichts von ihr.« Die beiden Kinder wanderten wieder hinaus nach dem elterlichen Haus und saßen dort zusammengekauert auf der Thürschwelle und redeten fast kein Wort. Wieder schienen sie zu ahnen, daß die Eltern doch nicht wieder kämen und Dami wollte zählen wie viel Tropfen von der Dachtraufe fielen; aber es ging ihm allzuschnell und er machte sich's leicht und schrie auf Einmal: »Tausend Millionen!«
»Da muß sie vorbei, wenn sie heimgeht,« sagte Amrei, »und da rufen wir sie; schrei' nur auch recht mit, und dann wollen wir schon weiter mit ihr reden.« So sagte Amrei, denn die Kinder warteten hier noch auf die Landfriedbäuerin.
Es klatschte eine Peitsche im Dorf. Man hörte jenes nachspritzende Pferdegetrapp im aufgeweichten Wege und ein Wagen rollte herbei.
»Wirst sehen, der Vater und die Mutter kommen in einer Kutsche und holen uns,« rief Dami.
Amrei schaute traurig nach ihrem Bruder um und[16] sagte: »Schwätz nicht so viel.« Als sie sich umwendete, war der Wagen ganz nahe, es winkte Jemand von demselben unter einem rothen Regenschirm hervor, und fort rollte das Gefährte und nur der Spitz des Kohlenmathes bellte ihm eine Weile nach und that als wollte er mit seinen Zähnen die Speichen aufhalten; aber am Weiher kehrte er wieder zurück, bellte noch einmal hinaus unter der Hausthüre und schlüpfte dann hinein in's Haus.
»Haidi! fort ist sie!« sagte Dami wie triumphirend; es war ja die Landfriedbäuerin. »Hast des Rodelbauern Rappen nicht gekannt? Die haben sie davon geführt. Vergiß meine ledernen Hosen nicht!« schrie er noch laut mit aller Kraft seiner Stimme, obgleich der Wagen bereits im Thale verschwunden war und jetzt schon die kleine Anhöhe am Holderwasen hinaufkroch.
Die Kinder kehrten still in's Dorf zurück.
Ausgewählte Ausgaben von
Barfüßele
|
Buchempfehlung
In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.
38 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro